Gelifluktion

Gelifluktion

Gelifluktion[1] (lat. gelare, ‚gefrieren‘ und fluere, ‚fließen‘) bezeichnet langsame Bewegungen von Substrat an Hängen im periglazialen Milieu. Letzteres unterscheidet sie von der Solifluktion, die nicht an dieses Milieu gebunden ist. Allerdings wird der Begriff Solifluktion vielfach synonym zur Gelifluktion gebraucht.[2] Wieder andere Quellen schränken den Begriff Gelifluktion auf das Durchtränkungsfließen ein und gebrauchen Solifluktion als Oberbegriff für die nachfolgend aufgeführten periglazialen Prozesse.[3]

Inhaltsverzeichnis

Prozesse der Gelifluktion

der Gelifluktion werden zumeist mehrere Teilprozesse zugerechnet:[4][2]

Durchtränkungsfließen

In den Periglazialgebieten hat meist das Durchtränkungsfließen die quantitativ größte Bedeutung.[6] Hierbei handelt es sich um einen viskosen, laminaren Gleit-Fließprozess, bei dem Bodenteilchen oder -partien mehr oder weniger langsam dem Gefälle folgend verlagert werden.

Der Prozess der Solifluktion im Allgemeinen ist an hohe Wassergehalte feinmaterialreichen Substrats gebunden. Im periglazialen Milieu, also im Falle der Gelifluktion, werden diese durch die stauende Wirkung des noch oder ganzjährig gefrorenen Bodeneises sowie durch Wasseranreicherung während der Schneeschmelze erreicht. Durch einen hohen Wassergehalt wird die Kohäsion der Bodenpartikel herabgesetzt. Eine Rolle spielt ferner vermutlich der Strömungsdruck lateral abfließenden Wassers, der Porenwasserdruck, wobei Wasser, welches während des Schmelzens schneller frei wird, als es abfließen kann, zu Porenwasserüberdruck führt.[7] Besonders wichtig ist die Lockerung des Gefüges durch die Volumensausdehnung des Wassers beim Gefrieren und die Bildung von Segregationseis, das sind Eislinsen oder -lagen im Substrat, die durch hygroskopische Wanderung des Porenwassers zur Gefrierfront hin gebildet wurden.[8] Das Zusammenwirken dieser vielfältigen Einflüsse, die einander auch substituieren können, bewirkt, dass im Gegensatz zur allgemeinen Lehrmeinung Durchtränkungsfließen nicht unbedingt an Wassersättigung gebunden ist, sondern auch schon bei Erreichen der Fließgrenze stattfinden kann.[4][9]

Entgegen einer anderen verbreiteten Lehrmeinung ist die Gelifluktion nicht an das Auftreten eines dauerhaft gefrorenen Bodens gebunden; gerade auf nur saisonal gefrorenem Untergrund wurden in den Alpen besonders hohe Bewegungsraten bis zu 1 m a-1 gemessen,[10] im Gegensatz zu in Permafrostgebieten üblichen Werten zwischen 1 und 12 cm a-1.[3]

Im gleichen Gebiet wurde auch eine dritte weit verbreitete Ansicht widerlegt, dass die durch Gelifluktion bewegten Massen proportional zur Hangneigung zu- bzw. abnehmen: Ganz im Gegenteil kann die höhere Wassersättigung im flachen Relief die augeprägtere Schwerkraftkomponente am steileren Hang (über)kompensieren.[9]

Rahmenbedingungen der Gelifluktion

Die widrigen Bedingungen in betroffenen Gebieten mögen erklären, warum es nur recht wenige länger andauernde Messreihen zur Gelifluktion gibt.[6] Insbesondere ein langjährig betriebenes Messfeld in den Alpen hat es ermöglicht, viele Einflussfaktoren zu quantifizieren:[11][9] Demnach spielt dort die Hangneigung eine eher untergeordnete Rolle, die Vegetation wirkt erst bei relativ hohem Deckungsgrad bremsend auf den Prozess. Als bedeutend erwiesen sich dagegen laterale Wasserzufuhr, Rauhigkeit des Kleinreliefs und die Dynamik der Schneedecke, d.h. die Windverfrachtung des Schnees sowie seine Ablation. Diese Parameter bestimmen die Eindringtiefe des Bodenfrosts und damit Geschwindigkeit und Mächtigkeit der gelifluidalen Bewegung.

Sedimente der Gelifluktion

Die bei der Gelifluktion entstehenden Ablagerungen können sehr unterschiedliche Erscheinungsformen aufweisen, je nachdem, ob sie neben der Gelifluktion noch anderen Prozessen wie Abspülung oder Kryoturbation unterworfen waren, die zu strukturellen Veränderung des Sediments geführt haben können.

Sedimente der Gelifluktion lassen sich ansonsten an einer typischen Eigenschaft erkennen: die Grobanteile des Bodenskeletts werden durch die laminare Bewegung mit ihren Längsachsen in Bewegungsrichtung, also in Gefällsrichtung ausgerichtet (‚eingeregelt’). Ferner sind Gelifluktionssedimente matrixgestützt, d.h. es ist immer (auch) feinmaterialreiches Substrat, oft mit einer Dominanz des Schluffs vorhanden. Das Segregationseis, welches bei der Entstehung der Sedimente von Bedeutung war, lässt sich vielfach noch an einem plattigen Bodengefüge erkennen.

Aktive Gelifluktionsgebiete sind häufig durch Loben als Oberflächenformen charakterisiert. Diese werden aber üblicherweise zusehends eingeebnet, sobald der ursächliche Prozess nicht mehr wirkt. Somit können sie nur selten als Indikatoren dieses Prozesses dienen. Stattdessen treten Gelifluktionssedimente als flächenhafte, horizontal wenig differenzierte Schleier auf. Die Tatsache, dass vertikal oft sehr wohl eine Differenzierung in Schichten verschiedener Fazies möglich ist, ist weniger der Gelifluktion als Unterschieden in den beigemengten Lößbestandteilen zu verdanken.[2]

Bedeutung der Gelifluktion

Die ingenieurgeologische Bedeutung der Massenbewegungen bei Baumaßnahmen auf instabilem Untergrund ist evident . Sie beeinflussen die Baugrundstabilität in den hohen Breiten, wo die Nutzung insbes. durch den Abbau von Rohstoffen zunimmt. In manchen Hochgebirgen ist die Nutzungsdichte bspw. durch den Tourismus teilweise noch größer. Insbesondere kann von Bedeutung werden, dass der Prozess bei Störungen, z.B. Gewichtsverlagerungen im Zuge von Baumaßnahmen, in schnellere Bewegungen bis hin zu Muren übergehen kann und dann noch größere Zerstörungskraft erlangt.[3]

Vielfach vernachlässigt wird die Bedeutung der Gelifluktion, die während der pleistozänen Kaltzeiten in den unvergletscherten Gebieten der Mittelbreiten flächenhaft herrschte, für die heutigen Standorte. Gelifluktion war der dominante Prozess bei der Entstehung der periglazialen Lagen, dem verbreitetsten Ausgangsmaterial für die nacheiszeitliche Bodenbildung im Mittelgebirgsraum.[2]

Einzelnachweise

  1. H. Baulig: Peneplains and pedeplains. In: Geological Society of America, Bulletin 68, 1957, S. 913–939.
  2. a b c d A. Semmel: Periglazialmorphologie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1985, 116 S., ISBN 3-534-01221-6
  3. a b c d H. French: The Periglacial Environment. Wiley, Chichester 2007, 458 S., ISBN 978-0-470-86589-7
  4. a b Washburn, A.L.: Geocryology. A survey of periglacial processes and environments. Arnold, London 1979, 406 S, ISBN 0-713-16119-1.
  5. A.G. Lewkowicz: Slope processes. In: Clark, M.J. (Hrsg.): Advances in periglacial hology. Wiley, Chichester 1988, S. 325-368, ISBN 0-471-90981-5.
  6. a b N. Matsuoka: Gelifluction rates, processes and landforms: a global review. In: Earth-Science Reviews 55, 2001: 107-134.
  7. E.C. McRoberts: Slope stability in cold regions. In: O.B. Andersland & D.M. Anderson (Hrsg.): Geotechnical engineering for cold regions. McGraw-Hill, New York 1978, S. 363-404, ISBN 0-070-01615-1.
  8. P.J. Williams: Some investigations into solifluction features in Norway. In: Geographical Journal 123, 1957, S. 42-58.
  9. a b c P. Jaesche: Bodenfrost und Gelifluktionsdynamik in einem alpinen Periglazialgebiet (Hohe Tauern, Osttirol). In: Bayreuther Geowissenschaftliche Arbeiten 20, 1999, ISBN 3-98022-686-7.
  10. K.-H. Emmerich 1990, zit. nach A. Kleber: The age of the Central European upper layer (Hauptlage) – a synthesis deduced from analogues. In: Zeitschrift für Geomorphologie N.F. 48, S. 491-499.
  11. H. Veit, H. Stingl, K.-H. Emmerich & B. John: Zeitliche und räumliche Variabilität solifluidaler Prozesse und ihre Ursachen. Ein Zwischenbericht nach acht Jahren Solifluktionsmessungen (1985-1993) an der Meßstation "Glorer Hütte", Hohe Tauern, Österreich. In: Zeitschrift für Geomorphologie N.F. Suppl.-Bd. 99, 1995: S. 107-122.

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