Globale Beschleunigungskrise

Globale Beschleunigungskrise

Peter Kafka (* 29. Juni 1933 in Berlin; † 23. Dezember 2000 in Unterföhring bei München) war ein deutscher Physiker.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Kafka war von 1965 bis 1998 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Max-Planck-Institut für Physik und Astrophysik in München, später Garching. Neben der wissenschaftlichen Arbeit in Kosmologie und relativistischer Astrophysik arbeitete Kafka seit den siebziger Jahren publizistisch über das Wesen des Fortschritts. Er warnte vor einer globalen Krise, die im Schöpfungsprinzip der Evolution veranlagt und unvermeidbar ist und die er die Globale Beschleunigungskrise nannte. Diese systemtheoretisch leicht zu erklärende Krise tritt ein, wenn durch den immer weiter beschleunigten Fortschritt einer global immer einheitlicher werdenden Zivilisation die Stabilitätskriterien für eine „aufwärts“ führende Entwicklung – Vielfalt und Gemächlichkeit – gekippt werden. Der Fortschritt führt dann nicht mehr zu höherer Komplexität, sondern taumelt „abwärts“ in ein immer komplizierteres Chaos. An diesem kritischen Wendepunkt in der irdischen Evolution ist seiner Ansicht nach die Menschheit jetzt angelangt.

Im Hinblick auf seine ausgedehnte Vortragstätigkeit nannte sich Peter Kafka selbst gerne einen „Wanderprediger“. Er war jedoch kein „Untergangsprediger“. Eine seiner zentralen Botschaften war, dass crisis nicht „Untergang“ bedeutet, sondern „Entscheidung“, und dass die entscheidende Neuorientierung im Bewusstsein einer genügend großen Zahl von Menschen, die bisher nur eine Utopie sein konnte, auf dem Höhepunkt der Krise wahrscheinlich wird.

Schöpfungsprinzip

Die Wirklichkeit auf Erden, in der wir selbst Mitspieler sind, ist ein komplexes dynamisches System, das dauernd in Bewegung („dynamisch“) ist, im Fluss, und sich immerzu weiter entwickelt, dessen innere Zusammenhänge von Ursachen und Wirkungen aber so vielfältig und verflochten („komplex“) sind, dass niemand alle darin steckenden Möglichkeiten aufzählen kann, auch nicht der leistungsfähigste Computer. Niemand kann die Entwicklung eines solchen Systems vorausberechnen, außer in Form von Wahrscheinlichkeiten für verhältnismäßig kurze Zeiträume – wie man es von der Wettervorhersage kennt.

Trotz seiner Ruhelosigkeit und Veränderlichkeit kann ein solches System sehr beständig sein und eine typische Gestalt annehmen. Das sieht man besonders deutlich an einem lebenden Organismus: Es herrscht ein „Fließgleichgewicht“ zwischen Aufbau und Abbau. Die Beständigkeit des Fließgleichgewichts, des Fortlebens und der Evolution als ganzer beruht darauf, dass fast alle Prozesse in Zyklen verlaufen. Dieselben „eingespielten“ Prozesse werden immer wieder aufs Neue durchlaufen, auch wenn es dabei ständig zu kleinen Abweichungen kommt, zu Fehlern und Störungen. Wenn die Störungen nicht zu groß sind, pendelt sich das System als ganzes immer wieder in die bewährten Zyklen ein – darin besteht ja die Bewährung – und findet manchmal sogar zu einer Verbesserung, durch die es noch raffinierter mit Fehlern zurechtkommen kann. Ein System, das sich keine Fehler erlauben kann, ist nicht lebensfähig. Kann es sich aber Fehler erlauben, dann sind es genau diese ständigen Neuerungen, die Abweichungen und Störungen, die den Fortschritt zu einem immer komplexeren Zusammenspiel, einer zunehmenden Ordnung bewirken: Es geht „aufwärts“ – solange zwei Grundvoraussetzungen erhalten bleiben:

Vielfalt und Gemächlichkeit

Die Vielfalt ist Voraussetzung dafür, dass nicht jede kleine Störung das System zum Abstürzen bringt. Ist die Störung nämlich „eingebettet“ in eine Vielzahl bewährter Möglichkeiten, die dem System als Alternativen zur Verfügung stehen, kann sie neutralisiert oder, wenn sie „gut“ oder sogar „noch besser“ passen sollte, in das Ganze „eingeordnet“ werden. Gut ist eine Neuerung dann, wenn sie sich über längere Zeit bewährt. Ein anderes Kriterium gibt es nicht.

Gemächlichkeit bedeutet: Zeit, um sich bewähren zu können. Ein System, das darauf angewiesen ist, sich selbst zu regenerieren, braucht dazu genügend Zeit. Anders ausgedrückt: Es gibt eine kritische Obergrenze für die Geschwindigkeit, mit der ein (weitgehend) in sich geschlossenes System wie die Biosphäre sich verändern kann, ohne in eine Instabilität zu geraten. Noch anders ausgedrückt: Wenn sich ein solches System so schnell verändert, dass eine Neuerung durch die nächste ersetzt wird, bevor sie sich genügend bewähren konnte, dann erhöht sich die Fehlerquote mit jeder Neuerung exponentiell, und die Wahrscheinlichkeit, dass das System mit den zunehmenden Problemen fertig wird und nicht abstürzt, geht sehr schnell gegen Null.

Globale Beschleunigungskrise

So gesehen ergeben globale Vereinheitlichung und schnellere Innovation, diese von Wirtschaftskreisen so dringend angemahnten „Notwendigkeiten“, eine gefährliche Kombination – bestens geeignet, die Stabilitätsgrundlagen unserer Weltwirtschaft und menschenfreundlichen Biosphäre zu beseitigen. Globalisierung ist für sich nichts schlechtes; viele Lebensprinzipien, z. B. das DNA-Prinzip des genetischen Codes, haben sich allmählich erfolgreich über den ganzen Globus ausgebreitet. Auch hektische Innovationen mit anschließenden Bruchlandungen bedeuten keine Gefahr für das Ganze, solange die Abstürze lokale Ereignisse bleiben. Kritisch wird es, wenn der Strukturwandel gleichzeitig schnell und global erfolgt.

In der Konkurrenz um Lebensgrundlagen boten Schnelligkeit und räumliche Ausbreitung in der Regel einen selektiven Vorteil. Wir, die „Anführer“ der Evolution, sind – paradoxerweise, wie es scheint – von „Mutter Natur“ zu den Erfindern und Unternehmern herangezogen worden, als die wir uns heute daran machen, den ganzen Globus möglichst schnell und möglichst einheitlich zu kolonisieren und rundum zu erneuern. Die Krise ist also in der Evolution veranlagt und unvermeidbar. Sie bedeutet aber nicht notwendigerweise den Untergang der menschlichen Zivilisation. Die „Anführer“ der irdischen Evolution – die Menschen – sind, wenn sie imstande waren, die Krise herbeizuführen, wahrscheinlich auch imstande, schnell genug zu lernen, wie sie zu überwinden ist. Peter Kafka:

Im Höhepunkt der globalen Beschleunigungskrise wird klar, dass die organisatorische Überwindung der Konkurrenz um Lebensgrundlagen auch im gewohnten Sinn rationeller wäre. Sie ist nicht mehr Traum oder religiöse Utopie. Fast alle, sogar die heutigen Repräsentanten der Macht, hätten mehr Vorteile als Nachteile davon. Es wären nicht etwa gewaltige Umstürze erforderlich. Relativ kleine regulierende Eingriffe an einigen Hebelpunkten, vor allem im Geld-, Eigentums- und Steuerrecht würden genügen, um die ganze Menschheit, „fast von allein“, in einen menschenwürdigeren Zustand kippen zu lassen. Es muss nur zunächst die Zwangsvorstellung aus den Köpfen vertrieben werden, dass Machtkonkurrenz zwischen Menschen gewissermaßen naturgesetzlich unvermeidbar sei und sich daher auch nicht durch Zusammenarbeit behindern lasse.
Das Umkippen wird ähnlich geschehen, wie wir es von „Phasenübergängen“ in sehr viel simpleren Systemen kennen: Bei der Annäherung an einen „kritischen Punkt“ lassen lokale Gegebenheiten an irgendeiner Stelle zuerst deutlich werden, dass die bisher attraktiven Leitideen nicht mehr weiterführen. Es treten verstärkt Probleme auf, die zu heftigerem Gezappel führen. Beim damit verbundenen Abtasten benachbarter Möglichkeiten findet die Wirklichkeit in den Einzugsbereich einer weiterführenden Idee, deren innere Organisation das Zappeln so weit dämpft, dass sie nicht so leicht wieder verlassen wird. Die Stelle, an der dieser Übergang gelungen ist, wird dann zur Keimzelle, von der aus das gesamte System, das ja ebenfalls dem kritischen Punkt nahe ist, zum Umkippen in die neue lebensfähigere Gestalt angeregt wird.
Die Wirklichkeit, um die es nun geht – das Geschehen in 6 Milliarden Menschenhirnen – ist unvorstellbar komplex, und so können wir nicht ahnen, wo und wann der Selbstorganisationsprozess einsetzt, der durch die globale Beschleunigungskrise hindurchführt. Die Keimzelle wird sicherlich nicht in den weltweiten Verhandlungen zwischen Regierungsbeamten und „global players“ entstehen, denn dort klammert man sich weiter an die zusammenbrechenden Ideen.
(Zitat aus: Wohin rennen wir eigentlich? Wirtschaften für das Leben – Gegen den Verlust und Ausverkauf von immer mehr Lebensbereichen an den totalen Markt. Erweiterte nachträgliche Schriftfassung einer Ansprache von Peter Kafka beim „Politischen Samstagsgebet“ in der Erlöserkirche München-Schwabing am 13. November 1999)

Entscheidung

Angesichts der globalen Krise stehen sich zwei Ideologien gegenüber. Die eine nennt Peter Kafka die „Ideologie des großtechnischen Optimismus“; er fasst sie folgendermaßen zusammen (vgl. Kernenergie – ja oder nein? Seite 238 f):

Die Menschheit steht vor gewaltigen Problemen. Mögen diese auch größtenteils erst durch menschliches Handeln entstanden sein – der Mensch läßt sich leider nicht ändern, und deshalb liegt der einzige Ausweg in weiterem, ja beschleunigtem und besser gezieltem, rationalem Handeln von Sachverständigen und verantwortlichen Regierungen. Beschleunigte und zielgerichtete Planung sind aber am besten in Großforschung und Großtechnik gewährleistet.

Demgegenüber vertrat er selbst eine „vorsichtigere Ideologie, die heute kurz 'grün' genannt wird“:

Das System von Leben und menschlicher Gesellschaft ist so komplex, daß jedes auf vordergründige Ziele gerichtete, zentral gesteuerte Handeln fast mit Sicherheit zerstörerisch ist. Aus eben solchem Handeln stammen ja auch all die gewaltigen Probleme. Der einzige Ausweg liegt daher im Wachsen angepaßter Technik und dezentraler gesellschaftlicher Institutionen, die militärische und technokratische Einfalt und Raserei beschränken und statt dessen Vielfalt und Gemächlichkeit, die Bedingungen weiterer Evolution, begünstigen.

Schriften

  • Peter Kafka, Heinz Maier-Leibnitz: Kernenergie – ja oder nein? Eine Auseinandersetzung zwischen zwei Physikern, München Zürich 1987, ISBN 3-492-10739-7; erweiterte Neuausgabe der „Streitbriefe über Kernenergie“ (1982)
  • Peter Kafka: Das Grundgesetz vom Aufstieg. Vielfalt, Gemächlichkeit, Selbstorganisation: Wege zum wirklichen Fortschritt, München Wien 1989, ISBN 3-446-15741-7.
  • Peter Kafka: Gegen den Untergang. Schöpfungsprinzip und globale Beschleunigungskrise, München Wien 1994, ISBN 3-446-17834-1.

Literatur

  • Hermann Scheer: Die Entropiesteuer, Kapitel 8 in Sonnen-Strategie, 1998, ISBN 3-492-22135-1 (Scheer greift hier eine von Kafka vorgeschlagene „Entropiesteuer“ oder „Minderwertsteuer“ auf. Mit der so genannten Ökosteuer ist der Vorschlag bereits teilweise umgesetzt worden. Im Prinzip ist jede Steuer auf Energieverbrauch bereits eine Steuer auf Entropieproduktion.)

Weblinks


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