Halbbildung

Halbbildung

Halbbildung war eine seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts benutzte verächtliche Bezeichnung des Bildungsbürgertums für den Bildungsstand von Emporkömmlingen aus den unteren Schichten des Bürgertums. Der Begriff wurde insbesondere von Theodor W. Adorno vertieft behandelt. Nach Adorno soll „Halbbildung“ eine je nach Perspektive des Urteilenden lückenhafte, oberflächliche, weil nur als Selbstzweck oder zur Anpassung erworbene Bildung bezeichnen.

Inhaltsverzeichnis

Entstehung des neuzeitlichen Bildungsbegriffs

Seine bis heute fortwirkende Festlegung erfuhr der Bildungsbegriff in der Emanzipation des Bürgertums. Er ist gekennzeichnet durch die "Entdeckung" eines von Herkommen und Vermögen unabhängigen persönlichen Standes, in dem sich der Mensch nicht als Funktion eines überkommenen Standes, sondern als Mensch selbst begreift. Im deutschen Neu-Humanismus um 1800 (Schiller, W. v. Humboldt, Dt. Idealismus) entfaltet sich der Begriff vollends, indem Bildung als einzige Alternative aus den selbstgeschaffenen entwürdigenden Verhältnissen verstanden wird, als welche die enthumanisierende Mechanisierung verstanden wird. Bildung ist in dieser Perspektive Selbstzweck und soll den Menschen zu seiner Bestimmung gelangen lassen, mithin Selbst-Bildung sein.

Um den Menschen hierzu zu befähigen, bedarf es nach humanistischer Vorstellung der Sprach-Bildung, des Geschichtswissens und des Kunstverständnisses. Das wahre Element der Bildung ist die Geselligkeit, insbesondere das Gespräch als offene wechselseitige Anregung.

Verflachung des Bildungsbegriffs

Bereits im 19. Jahrhundert zeigte sich, dass das humanistische Bildungsdenken abgelöst von seinen theoretischen Bezügen zu Vereinseitigungen und Verkehrungen führte. Bildung kennzeichnete alsbald eine Ansammlung von Kenntnissen, die sich wichtigen neuen Bereichen wie Wirtschaft, Technik und Politik versperrte und den angenommenen kulturellen Tiefstand der Bildung von einer veräußerlichten humanistischen Bildungsnorm her kritisierte. Bildung in diesem Sinne ist nicht länger autarke, sondern musisch-literarische Bildung, die den Gebildeten befähigt, über alles Nichtspezielle mitzureden, mithin ist sie nicht mehr als ein unspezifisches Wissen über Geschichte, Literatur, Kunst und Philosophie. Besonders sprichwörtlich ist solche Halbbildung, wenn sie sich nur aus Listen von Zitaten (siehe dazu: Geflügeltes Wort) oder aus Kreuzworträtselwissen zusammensetzt.

Halbbildung aus humanistischer Perspektive

Die Kritik einer Bildung als Halbbildung ist also abhängig vom jeweiligen Bildungsbegriff. Aus der Perspektive eines humanistischen Bildungsideals ist der Vorwurf einer Halbbildung polemisch gegen die über die Natur- und Ingenieurwissenschaften vermehrt aufsteigenden Abkömmlinge der Kleinbürger und der Arbeiterschaft gerichtet.

Halbbildung unter den Gebildeten

Zuweilen richtet sich die Kritik am bürgerlichen Bildungsideal gegen Aspekte des Bildungsbürgertums selbst. Diese Kritik greift Ansätze des ursprünglichen Bildungsgedankens wieder auf, indem sie festhält, dass Bildung und Kultur einen Doppelcharakter haben: einerseits Geisteskultur und andererseits Kultur als reale Lebensgestaltung. Halbbildung entsteht nach dieser Auffassung, wenn dieser Doppelcharakter verloren geht. Bildung kann danach nicht von der Einrichtung der menschlichen Dinge getrennt werden. Bildung, welche davon absieht, sich selbst setzt und verabsolutiert, ist schon Halbbildung geworden, nämlich Geisteskultur als Selbstzweck.
So verstandene Bildung verkommt zur Attitüde, zum bloßen Aushängeschild gesellschaftlicher Zugehörigkeit. Das bloße fetischartige Sammeln von "Highlights" geistiger Erkenntnisse ersetzt das durchdringende Verständnis aus konkretem, sachlich motiviertem Überlebensinteresse. So wird bei einer Bildung, die sich beschränkt auf "Kultur, die das reale Leben gestaltet", einseitig das Moment der Anpassung hervorgehoben, mithin ebenfalls nur Halbbildung erlangt.

Bildung als Form der Halbbildung?

Halbbildung geht nach Adorno nicht etwa der Bildung voraus, sondern folgt ihr. Nach ihm muss, wer sie kritisieren will, die Bildung selber kritisieren.

Die Kritik einer Bildung als Halbbildung setzt einen Bildungsbegriff voraus, von dessen Standpunkt aus eine ihm nicht entsprechende Bildung überhaupt als unzulänglich bewertet werden kann. Ein halbgebildeter Mensch hat sich dasselbe Wissen angeeignet, über das auch ein Gebildeter verfügt, aber er gebraucht sein Wissen in verdinglichter, domestizierter Weise, z. B. indem er Phänomene rein mechanisch klassifiziert und subsumiert, anstatt sie in ihrer Lebendigkeit zu begreifen. Aufgrund dieser Starrheit ist der Halbgebildete sogar dem völlig Ungebildeten unterlegen, denn dieser verfügt zwar nicht über das fachliche Hintergrundwissen, wohl aber über den naturwüchsigen unvoreingenommenen Blick. Diese naive Unvoreingenommenheit ist dem Halbgebildeten durch sein verdinglichtes Verständnis von Wissen als bloßer Faktizität im Zuge seines Bildungsprozesses abhanden gekommen. Das Phänomen der zunehmenden Verbreitung von Halbbildung in der modernen Gesellschaft begreift Adorno in seiner Analyse als "Allgegenwart des entfremdeten Geistes".

Als Bildung vermarktete Halbbildung in heutiger Zeit

Konrad Paul Liessmann hat basierend auf Adornos Theorie ein Werk über die Halb- bzw. Unbildung in der heutigen Zeit verfasst, Theorie der Unbildung. Er meint, dass Bildung auf Information reduziert werde, die verwertbar ist, und, dass assoziatives Denken nicht mehr gefordert werde, sondern nur noch Informationsfragmente verlangt werden. So beschreibt er folgende Phänomene in seinem Buch:

Wer wird Millionär?

Großer Beliebtheit erfreuen sich daneben Fernsehshows wie die Sendung Wer wird Millionär? und Gesellschaftsspiele wie Trivial Pursuit, in denen Kandidaten Wissensfragen unterschiedlichster Gebiete gestellt werden. Der außerordentliche Publikumserfolg solcher Formate basiert darauf, dass ein Wissen abgefragt wird, bei dem jeder Zuschauer eine theoretische Chance hätte, in die oberen Gewinnränge zu gelangen, wenn er auf dem Kandidatenstuhl säße. „Wissen“ über Klatsch und Tratsch wird dabei genauso honoriert wie Allgemeinwissen.

Bildung über das World Wide Web

Zu beobachten bleibt der zunehmende Einsatz des WWW bei der Informationsbeschaffung. Im Internet gibt es zu vielen Themen keine eigenen redaktionell und mit Sorgfalt erstellten Seiten, sodass man gezwungen ist, eine Vielzahl von Quellen zu vergleichen, um so die gewonnenen Daten verifizieren zu können. Dies erfordert − abhängig von der Popularität der gesuchten Informationen − mitunter viel Zeit und Erfahrung im Umgang mit Suchmaschinen. Im Internet können falsche Informationen besonders einfach erzeugt und auch verbreitet werden, sodass sie plausibel erscheinen, da nicht unterschieden werden kann, ob zwei Schreiber unabhängig zum selben Ergebnis kamen, oder der eine nur vom anderen kopierte.

Literatur

Siehe auch


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