Bildungstheorie

Bildungstheorie

Bildungstheorie bezeichnet die wissenschaftliche bzw. systematische Beschäftigung mit Bildung bzw. dem Bildungsbegriff. Klassische Fragestellungen der Bildungstheorie befassen sich mit der individuellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Relevanz von Bildung. Zentral ist aber auch die Frage nach den Inhalten von Bildung und schließlich, in die Nähe der Didaktik reichend, Problemstellungen zur Vermittelbarkeit von Bildung.

Inhaltsverzeichnis

Historische Entwicklung

Der historische Ursprung des Bildungsbegriffs

Der Begriff Bildung ist im deutschen Sprachraum durch die Lehre von Meister Eckhart eingeführt worden und lässt sich nur schwer in andere Sprachen übersetzen.

Neuhumanismus

Nach bedeutenden Vorarbeiten bei Comenius im 17. Jahrhundert wurde erstmals systematisch über eine Theorie der Bildung im Ausgang der Aufklärung im Neuhumanismus um 1800 nachgedacht. Maßgeblich begründet von Wilhelm von Humboldt, beeinflusst vom deutschen Idealismus und dem Werk der Dichter um Johann Wolfgang von Goethe. Die neuhumanistische Bildungstheorie, beherrschte das höhere Schulwesen Deutschlands im gesamten 19. und in weiten Teilen des 20. Jahrhunderts.

Bildungstheorie im 19. Jahrhundert

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erstarrte der neuhumanistische Ansatz, teils entgegen Humboldts Absichten, zu einer konservativen Ideologie. Greifbarste praktische Folge war die, nach Ansicht vieler Zeitgenossen, Überbetonung der altsprachlichen Fächer (Lateinisch, Altgriechisch) gegenüber den modernen Fremdsprachen und den so genannten "Realien" der Mathematik und Naturwissenschaften; diese konnten sich nur allmählich etablieren, indem auch sie ihren formalen Bildungsgehalt betonten (Georg Kerschensteiner, ...).

Bildungstheorie im 20. Jahrhundert

Wichtige Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik des 20. Jahrhunderts waren Eduard Spranger, Herman Nohl, Wilhelm Flitner, Erich Weniger, Theodor Litt. Eine scharfe Kritik der geisteswissenschaftlichen Pädagogik veröffentlichte Siegfried Bernfeld bereits in den zwanziger Jahren, sie dominierte die Pädagogik in Westdeutschland jedoch bis in die 60er Jahre. Die Diskussion verlief bis zu einem ihrer letzten Vertreter und Überwinder Klafki besonders zwischen materialen und formalen Bildungstheorien. Er vermittelte beide zunächst durch die kategoriale Bildung (vgl. Klafki 1959).

Die kritische Theorie der Frankfurter Schule beschäftigte sich mit dem Ideologiegehalt von Bildungstheorien (siehe auch Ideologiekritik). Theodor W. Adorno stand dem Ideal der wohlausgewogenen Persönlichkeit skeptisch gegenüber, u.a. in seiner "Theorie der Halbbildung". Als Ziel von Bildung nach dem Rückfall in die Barbarei formulierte er die "Erziehung zur Entbarbarisierung".

Bildungstheorie nach dem Zweiten Weltkrieg

Aufgrund der als konservativ einstufbaren Tendenzen der neuhumanistischen Bildung geriet der Begriff der Bildung im Zug der Studentenbewegung und kritischer Gesellschaftstheorien, angeregt durch die so genannte Frankfurter Schule in die Kritik. Die radikalste Forderung war, den Begriff ganz abzuschaffen und ihn durch empirietaugliche Begriff wie dem Lernen oder der Sozialisation zu ersetzen.

Wolfgang Klafki griff diese Kritik aus bildungstheoretischer Grundhaltung heraus in seiner "kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft" auf, ebenso Heinz-Joachim Heydorn in seiner "kritischen Bildungstheorie".

Rainer Kokemohr, Winfried Marotzki und Hans-Christoph Koller haben versucht, bildungstheoretische Überlegungen mit biografischen Erzählungen zu verknüpfen. (vgl.: Hans-Christoph Koller und Rainer Kokemohr: Lebensgeschichte als Text. Zur biographischen Artikulation problematischer Bildungsprozesse. Weinheim, Basel)

Gesa Heinrichs beschreibt in ihrer Analyse der Geschlechterbildung Bildung als eine diskursive Praxis, in der sich die Bildung des Subjekts vollzieht. Im Zusammenspiel von Selbst- und Fremdzuschreibungen gehe es deshalb darum, eine Bildung zu ermöglichen, die sich dem Normierungszwang der Geschlechterrollen möglichst weit entzieht.

Literatur

  • Randall Curren (Hrsg.): A Companion to the Philosophy of Education. Blackwell Companions to Philosophy, Paperback edition, 2006, ISBN 1-4051-4051-8
  • Theodor W. Adorno: Erziehung zur Entbarbarisierung. In: ders., Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt am Main, Suhrkamp taschenbuch 11, 1971, S. 120-132
  • Theodor W. Adorno: Theorie der Halbbildung. Soziologische Schriften, Frankfurt am Main 1959
  • Herwig Blankertz: Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar 1982
  • Wolfgang Klafki: Kategoriale Bildung. Zur bildungstheoretischen Deutung der modernen Didaktik. (1959) In: ders. Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim 1975. 25-45.
  • Helmut Danner: Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik. 4. Aufl.,München/Basel 1988
  • Andrea Felbinger: Der Wandel des Bildungsbegriffs unter feministischer Perspektive: auf den Spuren der Geschlechterbildung. Profil-Verl., München 2004
  • Andreas Dörpinghaus, Andreas Poenitsch, Lothar Wigger: Einführung in die Theorie der Bildung. Darmstadt 2006, ISBN 3-534-17519-0
  • Helmut Woll: Ökonomisches Wissen zwischen Bildungstheorie und Pragmatismus. Marburg 2006
  • Dietrich Benner: Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie: eine problemgeschichtliche Studie zum Begründungszusammenhang neuzeitlicher Bildungsreform. Juventa-Verl., Weinheim, München 2003
  • Dietrich Benner: Bildungstheorie und Bildungsforschung: Grundlagenreflexionen und Anwendungsfelder. Schöningh, Paderborn; München; Wien; Zürich 2008
  • Gregor Raddatz: Pädagogik im freien Fall. Posttraditionale Didaktik zwischen negativer Dialektik und Dekonstruktion. Waxmann, Münster 2008, ISBN 978-3-8309-1274-3
  • Gesa Heinrichs: Bildung, Identität, Geschlecht. Eine (postfeministische) Einführung. Ulrike Helmer Verlag, Königstein/Ts. 2001, ISBN 3897410699
  • Tobias Prüwer: Humboldt reloaded. Kritische Bildungstheorie heute, Marburg: Tectum Verlag, 2009 (ISBN 978-3-8288-9991-9)

Weblinks


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