Helmut Dahmer

Helmut Dahmer

Helmut Dahmer (* 1937) ist ein deutscher Soziologe.

Inhaltsverzeichnis

Leben und Werk

Dahmer studierte an der Universität Bonn, der Universität Göttingen und der Universität Frankfurt am Main. Als Student in Göttingen trat er dem SDS bei.[1]

Dahmer wurde 1973 promoviert und lehrte seit 1974, zunächst als Privatdozent, dann als Professor für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt. Seit seiner Emeritierung 2002 lebt er als freier Publizist in Wien.

Am Ende seiner Tätigkeit als Hochschullehrer plädierte Dahmer für „eine Re-Politisierung der Soziologie”, die zu einer geschichtsvergessenen Disziplin geworden sei, die „Forscher und Forschung in einem Labyrinth geschäftiger Irrelevanz gefangen hält”.[2]

Dahmer war von 1968 bis 1992 leitender Redakteur der psychoanalytischen Monatszeitschrift Psyche. Nachdem deren Herausgeber, Alexander Mitscherlich, 1982 starb, lenkte die Psyche „ihre Aufmerksamkeit auf die in den ersten Jahren des ‚Dritten Reiches‘ praktizierte und inzwischen schon halb vergessene Anpassungspolitik und Gleichschaltungs-Ideologie des ‚arischen‘ Vorstands der DPG.”[3] Eine Schlüsselrolle spielte dabei der Artikel Psychoanalyse und Weltanschauung des Psychoanalytikers Carl Müller-Braunschweig in einer NS-Zeitschrift.[4] Dahmer hatte diesen brisanten Artikel bereits um 1970 bei seinen Studien zu Wilhelm Reich in dessen Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie als Nachdruck entdeckt,[5] aber nicht exponiert. Jetzt druckte er ihn in der Psyche nach.[6] In der darauf folgenden Kontroverse schlug ihm, wie er berichtet, „der blanke Hass derjenigen Psychoanalytiker entgegen, deren Identität mit eben dieser trüben Vergangenheit der deutschen Psychoanalyse verschmolzen war.”[3] Nach langwierigen Querelen verlor Dahmer schließlich seine Stellung als leitender Redakteur der Psyche.[7]

Bei der Gründung des 1984 von Jan Philipp Reemtsma gestifteten Hamburger Instituts für Sozialforschung gehörte er dem wissenschaftlichen Beirat an.

Dahmer gab 1971 Leo Trotzkis Schriften über Deutschland heraus und ist einer der Herausgeber einer großangelegten deutschsprachigen Trotzki-Schriften-Ausgabe, von der bis 2001 drei Bände (in sieben Büchern) erschienen sind.

Bereits als Student in den 1960er Jahren stand Dahmer den politischen Ideen Trotzkis nahe: „Zu den ‚Maoisten‘, den Sympathisanten der chinesischen ‚Kulturrevolution‘ hielt ich ebenso Distanz wie zu den Kreisen, aus denen später die RAF hervorging. Ich war und bin überzeugt, daß weder der Massenterror noch der ‚individuelle‘ das eiserne Gehäuse des Kapitalismus aufsprengen kann”, erinnerte er sich, und meinte auch fünfzig Jahre später: „Trotzki und der Trotzkismus stehen für eine unerledigte und nicht-diskreditierte Alternative [zum Kapitalismus]”.[1]

Schriften (Auswahl)

Als Autor

  • Politische Orientierungen, Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag, 1973. ISBN 3-436-01728-0.
  • Libido und Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1973. ISBN 3-518-07270-6 (Zugl. Diss. Univ. Frankfurt/M. 1973)
  • Psychoanalyse ohne Grenzen, Freiburg im Breisgau: Kore, 1989. ISBN 3-926023-07-4.
  • Pseudonatur und Kritik, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1994. ISBN 3-518-28727-3.
  • Soziologie nach einem barbarischen Jahrhundert, Wien: WUV, 2001. ISBN 3-85114-567-4.
  • Die Moskauer Prozesse (1936 - 38) und Stalins Massenterror, Berlin: Helle Panke, 2008.
  • Divergenzen. Holocaust, Psychoanalyse, Utopia, Münster: Westfälisches Dampfboot, 2009. ISBN 978-3-89691-770-6.

Als Herausgeber

  • Leo Trotzki: Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen?, Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt, 1971. ISBN 3-434-45000-9.
  • Leo Trotzki: Schriften über Deutschland, Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt, 1971. ISBN 3-434-00164-6
  • (Pseudonym: Christian Rot) Otto Fenichel: Psychoanalyse und Gesellschaft. Aufsätze, Frankfurt/M.: Roter Druckstock 1972 („Raubdruck”)
  • Analytische Sozialpsychologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1980. ISBN 3-518-10953-7
  • Leo Trotzki: Schriften, Hamburg: Rasch u. Röhring, später Köln: Neuer ISP-Verlag, 1988-2001
  • Leo Trotzki: Sozialismus oder Barbarei!, Wien: Promedia, 2005. ISBN 3-85371-240-1

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b Politisch-biographisches Interview mit Helmut Dahmer aus dem Jahr 2010
  2. Helmut Dahmer: Soziologie nach einem barbarischen Jahrhundert, Wien: WUV/Universitätsverlag 2001, S. 8.
  3. a b Helmut Dahmer: Psychoanalytiker in Deutschland 1933-1951. In: Karl Fallend / Bernd Nitzschke (Hg.): Der „Fall” Wilhelm Reich, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997 (stw 1285), S. 167-189 (169)
  4. Carl Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Weltanschauung. In: Reichswart, Nationalsozialistische Wochenschrift und Organ des Bundes Völkischer Europäer / Organe de L’Alliance Raciste Européenne, 14. Jg., Nr. 42, Berlin 22. Oktober 1933
  5. Carl Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Weltanschauung. In: Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie, Band 1, Heft 1, 1934, S. 74-76
  6. Carl Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Weltanschauung. In: Psyche, 37. Jg., Stuttgart 1983, S. 1116 - 1119
  7. Vgl. dazu Dahmers Nachfolger: Hans-Martin Lohmann: Bemerkung. In: Psyche 52,2 (Februar 1998), S. 194

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