Jules Romains

Jules Romains
Porträt Romains' (1936) von Carl van Vechten

Jules Romains, mit bürgerlichem Namen Louis Henri Farigoule (* 26. August 1885 in La Chapuze, heute Saint-Julien-Chapteuil; † 14. August 1972 in Paris), war ein französischer Schriftsteller. Nachdem er zunächst mit Lyrik im Geiste der Lebensphilosophie und satirischen Dramen auf sich aufmerksam gemacht hatte, nahm er um 1930 den Epoche spiegelnden großangelegten Romanzyklus Die guten Willens sind in Angriff. Einsichtige „Auserwählte“[1] sollten die Menschheit von Krieg und Ungerechtigkeit erlösen.

Inhaltsverzeichnis

Leben und Werk

Der Sohn eines Lehrers aus der Auvergne (Mittelfrankreich) studiert Philosophie und Biologie an der Sorbonne in Paris. Ab 1909 lehrt er an Schulen in Brest, Laon, Nizza und Paris. Nachdem er bereits als Philosophiestudent (1903) in einer Art Erweckung „die Idee der vie unanime (der Einstimmigkeit) erfahren“ hat[1], schließt er sich der Gruppe Abbaye de Créteil (Abtei-Gruppe) an, die 1906 von Charles Vildrac, Georges Duhamel, René Arcos, dem Maler Albert Gleizes, dem Musiker Albert Dean und anderen gegründet worden ist. Romains' Gedichtband La vie unanime von 1908 wird zum Manifest der gleichnamigen literarischen Bewegung, „die sich als Abkehr vom Naturalismus und vom psychologischen Roman verstand: Nicht das Individuum mit seinen inneren Spannungen und Problemen bildet den Mittelpunkt der Betrachtung, der Unanimismus versucht vielmehr die Gesamtwirklichkeit des Menschen und der Welt zu erfassen.“ Die „allbeseelende Einheit“ stellt sich im Kollektiv her.[1] Hier lauert allerdings auch die Gefahr der Massenpsychose, die sich Romains durchtriebener Doktor Knock (Drama von 1923) zunutze macht.[2]

Anders ausgedrückt, schillert Romains Weltsicht zwischen der hergebrachten christlich-revolutionären Brüderlichkeit und dem heraufklingenden Gleichmarsch totalitärer Regimes. 1927 unterzeichnet er mit vielen anderen bekannten kritischen Intellektuellen (darunter Alain und der junge Sartre) die am 15. April in der Zeitschrift Europa veröffentlichte Petition gegen das Gesetz über die allgemeine Organisation der Nation in Zeiten des Krieges. 1929 ist er auch als Romancier schon erfolgreich genug, um sich in Saint-Avertin[3] ein aus dem 16. Jahrhundert stammendes Landhaus einschließlich Weinberg leisten zu können. 1936 wird er zum Vorsitzenden des internationalen P.E.N.-Clubs berufen, was jedoch wegen seiner Kontakte zu einer NS-nahen Organisation auf geteilten Beifall stößt. Tatsächlich wird er auf dem in London tagenden P.E.N.-Kongreß von 1941, vor allem nach von Robert Neumann vorgebrachten Attacken, wieder abgewählt.[4]

CFA und Exil

Romains zählte schon 1935 zu den Gründern des Comité-France-Allemagne (CFA), einer von den Nazis – siehe Otto Abetz und Fernand de Brinon – initiierten Propagandaorganisation, die Frankreichs Faschisierung unter dem Deckmantel der Völkerverständigung zu fördern verstand. Aus dem Ersten Weltkrieg war Romains nach eigener Aussage mit dem Schwur zurückgekommen, künftig alles zu versuchen, einen weiteren Krieg zu verhindern. Auf dieser Linie sah er offenbar auch seine Mitarbeit in der CFA. Zeitgenössische Beobachter wie TIME bescheinigten ihm deshalb allerdings die mit Tom Sawyers Freude an Verschwörungen gepaarte Einfalt des erfolglosesten Friedensbringers Europas. Das US-amerikanische Wochenblatt verknüpft diese Einfalt frech mit Romains Angewohnheit, periodisch einen neuen Band seines monumentalen Romanzyklus' Menschen guten Willens aus dem Fenster seines Elfenbeinturmes zu werfen.[5] Möglicherweise waren Romains publikumswirksame Versuche der Friedensstiftung nicht ganz frei von Eitelkeit.

Angesichts der Besetzung Frankreichs durch Nazi-Deutschland zieht Romains es vor, nach Amerika zu emigrieren. Er lässt sich zunächst in New York, dann Mexiko nieder, wo er sich mit anderen Emigranten an der Gründung eines französischen Institutes beteiligt. Er ist gelegentlich in US-Radiosendern zu hören. 1946 nach Frankreich zurückgekehrt, wird er in die erlauchte Académie française berufen. Er äußert sich zunehmend konservativer, so in seinen Kolumnen (1953-1971) für das von Robert Lazurick geleitete Wochenblatt L'Aurore. De Gaulles Referendum von 1962, das Algerien die Unabhängigkeit bringt, lehnt er ab.[6]

Menschen guten Willens

In Romains „enormer Produktion“[2] als Schriftsteller finden sich auch Essays zu ästhetischen, moralischen, politischen und selbst medizinischen Fragen. Den Löwenanteil stellt allerdings der Romanzyklus Menschen guten Willens, der zwischen 1932 und 1946 in sage und schreibe 27 Bänden erschien. In ihm schildert Romains die sozialen Verhältnisse und Entwicklungen Frankreichs und Europas in der Zeit vom 6. Oktober 1908 bis zum 7. Oktober 1933. Auch hier ist es ihm mehr um Gruppen- als um Einzelschicksale zu tun. Zur Orientierung dienen zwei miteinander befreundete Hauptfiguren, ein Schriftsteller und ein Lehrer, der sich zum Politiker aufschwingt. Sie geben wiederholt Kommentar. Sie begegnen zahlreichen prominenten Zeitgenossen Romains, etwa Picasso und Valéry. Neben dem Dialog sind häufige Standortwechsel (des Autors) kennzeichnend für die Romane dieser Reihe. Merkwürdigerweise äußert sich Kindlers Neues Literaturlexikon nicht zu ihrer sprachlichen Qualität. Spricht Engler von Romains „Neigung, auch das Banale in Odentöne zu hüllen“, ist es lediglich auf dessen Lyrik gemünzt.[2]

Der monumentale Romanzyklus endet (1933) ähnlich wie ihr Schöpfer nach dem Krieg: resignierend. Das wesentliche Romanpersonal zieht sich ins Private zurück. Es hat vergeblich an der Schlechtigkeit der Welt gerüttelt. „Irrtum oder Einfluß des Bösen?“ fragt sich der Romancier. „Es mißfällt mir nicht, daß mein Werk mit diesem Fragezeichen endet.“[1]

TIME erwähnt Romains frühe Einsicht, um Großes wirken zu können, müsse er selber erst einmal zu Größe und Einfluß gelangen.[5] Immerhin, gegenwärtig (2011) sind mehrere französische Schulen nach dem Schriftsteller benannt, so in Paris, Saint-Avertin, Clermont, Lyon. In seinem Heimatort Saint-Julien-Chapteuil wurde ein kleines Musée Jules Romains[7] eingerichtet, das persönliche Gegenstände des Literaten zeigt. Zudem sind dort Rekonstruktionen seines Pariser Arbeitszimmers und seines Anwesens Manoir de Grandcour in Saint-Avertin zu sehen.

Werke (Auswahl)

  • La vie unanime, Gedichte, 1908
  • Mort de quelqu'un, Roman, 1911
  • Les Copains, Roman, 1913
  • Vision extrarétinienne, Essay, 1920
  • Knock ou le triomphe de la médecine, Drama 1923, auf deutsch zumeist Doktor Knock
  • Petit traité de versification, Essay, 1923 (mit G. Chennevière)
  • Monsieur le Trouhadec saisi par la débauche, Roman, 1923
  • Psyché, Romantrilogie, 1922–1929
  • Le dictateur, Drama, 1926
  • Le couple France–Allemagne, Essay, 1934
  • Les Hommes de bonne volonté (Die guten Willens sind), 27bändiger Romanzyklus, 1932 –1946[8]
  • Une femme singulière, Roman, 1957
  • Memoires de Madame Chauverel, Roman, 1959[9]
  • Cahiers, Tagebücher, Paris ab 1976

Filmografie

Literarische Vorlage
  • 1933 Dr. Knock (Knock ou Le triomphe de la médecine)
  • 1950 Dr. Knock läßt bitten (Knock)
  • 1983 Quelques hommes de bonne volonté – Regie: François Villiers
  • 1996 Doktor Knock
Drehbuch
  • 1940 Volpone

Literatur

  • André Cuisenier: Jules Romains et l'unanimisme, zwei Bände, Paris 1935 und 1942
  • Walter Ehrenfels: Das unanimistische Bewußtsein im Werk Jules Romains, Berlin 1940
  • A. Figuéras: Romains, 1951
  • M. Berry: Romains, sa vie, son ouvre, 1953
  • P. J. Norrish: Drama of the group. A study of unanimism in the plays of Romains, New York 1958
  • Yves Gandon: Romains ou le style unanime, in: Ders.: Le Démon du style, Paris 1960, S. 89-106
  • Madeleine Korol: Le théatre de Romains, Columbia University, 1960
  • Werner Widdem: Weltbejahung und Weltflucht im Werk Romains, Genf 1960
  • André Bourin: Connaissance de Romains discutée par Romains, Paris 1961
  • Leo Spitzer: Der Unanimismus Romains im Spiegel seiner Sprache. Eine Vorstudie zur Sprache des französischen Expressionismus, in: Ders.: Stilstudien, Band 2. München 1961, Seite 208-300
  • E. H. Walker: Romains und Unanimism. The Distant Crowd, Duke University, 1972
  • D. Boak: Jules Romains, New York 1974
  • André Bourin (Hrsg): Actes du Colloque Jules Romains vom Februar 1978, Paris 1979
  • Helmtraud Krischel-Heinzer: Komischer Heros und tragische Führerfigur. Eine Studie zu totalitären Einstellungen und ihren ambivalenten Ausdrucksweisen im Theaterwerk von Romains, Frankfurt/Main 1988
  • Olivier Rony: Jules Romains, ou l'appel au monde, Robert Laffont, 1992
  • Dominique Viart: Jules Romains et les écritures de la simultanéité, Presses Universitaires du Septentrion, 1996
  • Jean-Louis Loubet del Bayle: L'illusion politique au XXe siècle. Des écrivains témoins de leur temps, Economica, 1999

Einzelnachweise

  1. a b c d Kindlers Neues Literaturlexikon, Ausgabe München 1988
  2. a b c Winfried Engler: Lexikon der Französischen Literatur, Ausgabe Stuttgart 1984
  3. Die bei Tours gelegene mittelfranzösische Kleinstadt macht Romains 1964 zum Ehrenbürger
  4. Roman Roček, Wien 2000, abgerufen am 4. Juni 2011
  5. a b TIME 14. Oktober 1940, abgerufen am 4. Juni 2011
  6. Fiche du site de l'Académie française, abgerufen am 4. Juni 2011
  7. Auvergne, abgerufen am 4. Juni 2011
  8. Alle Einzeltitel in der französischen Wikipedia, abgerufen am 4. Juni 2011
  9. ausführliche Besprechung im Spiegel 15. April 1959, abgerufen am 4. Juni 2011

Weblinks


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