Kriegswirtschaftliches Ermächtigungsgesetz

Kriegswirtschaftliches Ermächtigungsgesetz

Das von Historikern und Juristen so genannte Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz (KWEG) (der Begriff ist nicht Teil des Gesetzes!) war ein altösterreichisches Gesetz, das während des Ersten Weltkrieges erlassen und 1932–1934 von der christlichsozialen Regierung unter Bundeskanzler Dollfuß zur Errichtung der Diktatur missbraucht wurde.

Inhaltsverzeichnis

1917: KWEG für Cisleithanien

Mit dem Gesetz vom 24. Juli 1917 (RGBl. Nr. 307) wurde die k.k. Regierung vom Reichsrat, dem Parlament der österreichischen Reichshälfte, ermächtigt, die notwendigen Verfügungen zum Funktionieren der Wirtschaft und der Versorgung der Bevölkerung durch Verordnung zu erlassen und dabei auch Gesetze zu ändern. Das Gesetz trägt den offiziellen Titel

Gesetz vom 24. Juli 1917, mit welchem die Regierung ermächtigt wird, aus Anlass der durch den Kriegszustand verursachten außerordentlichen Verhältnisse die notwendigen Verfügungen auf wirtschaftlichem Gebiete zu treffen.[1]

Kaiser Franz Joseph I. hatte den in diesem Gesetz enthaltenen Freiraum für seine Regierung bereits per kaiserlicher Verordnung vom 10. Oktober 1914, RGBl. Nr. 274, fixiert. Sein Nachfolger, Kaiser Karl I., berief den Reichsrat im Frühjahr 1917 zum ersten Mal seit Frühjahr 1914 wieder ein und wollte mit diesem Gesetz die demokratische Legitimierung des Regierungshandelns sicherstellen.

1918/1919: KWEG als Grundlage für Vollzugsanweisungen

Am 30. Oktober 1918 konstituierte sich der Staat Deutschösterreich, der sich am 12. November zur Republik erklärte. Die Provisorische (bis Februar 1919) bzw. die Konstituierende Nationalversammlung (ab März 1919) als Parlament und die Staatsregierung (eine Koalition der großen Parteien geführt von Staatskanzler Karl Renner) waren, juristisch betrachtet, zum Teil revolutionär (d.h. ohne Legitimation durch die bis dahin bestehende Rechtsordnung), zum Teil evolutionär (d.h. auf Grund bestehender altösterreichischer Gesetze) tätig. Regierungsverordnungen (Vollzugsanweisungen genannt) führten nicht selten das Gesetz vom 24. Juli 1917 als Rechtsgrundlage an. Da die Nationalversammlung im gleichen Zeitraum Gesetze beschloss, ist unklar, weshalb in diesen Fällen eine Regierungsverordnung unter Bezugnahme auf ein k.k. Gesetz einem neuen Gesetzesbeschluss vorgezogen wurde. (Die Gefahr des einfachen „Überspielens“ wichtiger Parteien bestand damals allerdings nicht, da eine „große Koalition“ regierte.)

Bemerkenswert ist, dass die Staatskanzlei unter ihrem Leiter Karl Renner der Konstituierenden Nationalversammlung regelmäßig Bericht über Vollzugsanweisungen erstattete, die auf Grund des KWEG erlassen worden waren. Im Bericht vom 5. März 1919[2] wurde darauf hingewiesen, er werde in sinngemäßer Anwendung der zitierten gesetzlichen Bestimmung (des KWEG) erstattet (die sich auf den Reichsrat bezog). Warum diese Praxis in späteren Gesetzgebungsperioden nicht beibehalten wurde, ist ungeklärt.

1920: KWEG von der Republik gefährlich vereinfacht übernommen

Das KWEG dürfte den damaligen Politikern nützlich erschienen sein, jedenfalls wurde es in die definitive republikanische Verfassungsstruktur übernommen. In § 7 Abs. 2 des Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920, BGBl. Nr. 2 (Verfassungs-Übergangsgesetz 1920, kurz: VÜG 1920), wurde die fortdauernde Gültigkeit des KWEG bestätigt. Dies war aus späterer Sicht ein schwerer politischer Fehler, da das Gesetz - im Gegensatz zu anderen, republikanischen Ermächtigungsgesetzen - kein automatisches Außer-Kraft-Treten nach kurzer Zeit vorsah und der im k.k. Gesetz enthaltene parlamentarische Kontrollvorgang (und damit nach Ende der „großen Koalition“ ein wichtiges Oppositionsrecht) explizit nicht übernommen wurde:

Die nach dem Gesetz vom 24. Juli 1917, RGBl. Nr. 307, mit welchem die Regierung ermächtigt wird, aus Anlass der durch den Kriegszustand verursachten außerordentlichen Verhältnisse die notwendigen Verfügungen auf wirtschaftlichem Gebiet zu treffen, der Regierung zustehenden Befugnisse gehen sowohl auf die Bundesregierung als auch auf die einzelnen Bundesminister über.[3]

Im KWEG 1917 war die periodische Vorlage der Notverordnungen an den Reichsrat vorgesehen gewesen; analog erfolgte sie an die Konstituierende Nationalversammlung (1919–1920). Kelsen/Fröhlich/Merkl verneinten die Weitergeltung der Vorlageverpflichtung (= Berichts- und nachträgliche Genehmigungspflicht der Regierungsverordnungen) nunmehr an den Nationalrat, da dieser in der zitierten Bestimmung nicht als Rechtsnachfolger des Reichsrates genannt war. Dadurch trat eine gefährliche Vereinfachung ein, die der Regierung 1932-1934 auf dem Weg zum Ständestaat bzw. Austrofaschismus sehr entgegenkommen sollte.

Die Ermächtigung der Regierung zu gesetzesändernden Verordnungen nach dem KWEG galt als die hervorzuhebende Ausnahme vom System des B-VG und bedurfte daher einer eigenen verfassungsgesetzlichen Regelung, die eben durch das VÜG 1920 erfolgte (Kommentar zu Art. 18 Abs. 2 B-VG; Kelsen/Fröhlich/Merkl 1922, S. 86).

Parallelen im Deutschen Reich

Im Deutschen Reich hat der Reichstag ähnliche Bestimmungen erlassen. Gemäß der Weimarer Verfassung von 1919 konnte er bei Bedarf der Reichsregierung mit Zweidrittelmehrheit die befristete Befugnis zur Gesetzgebung übertragen.

Die ersten drei Ermächtigungsgesetze gab es in den Krisenjahren 1919 bis 1924, in der Amtszeit des sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert. Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, das die NS-Diktatur ermöglichte, wurde vom Reichstag ebenfalls auf Grund dieser Verfassungsregel beschlossen.

Wesentlicher Unterschied der deutschen Ermächtigungsgesetze zum KWEG war, dass die deutschen Gesetze stets befristet erlassen wurden, das KWEG aber keinen Zeitpunkt nannte, zu dem es automatisch außer Kraft treten würde.

Ab 1932: Anwendung durch die Regierung Dollfuß

Die seit Mai 1932 im Amt befindliche Regierung Dollfuß wandte das Gesetz vom 24. Juli 1917 erstmals am 1. Oktober 1932 an. Der Justizminister Kurt Schuschnigg erließ unter Bezugnahme auf das Gesetz im Einvernehmen mit dem Finanzminister eine Verordnung über die Haftung der für den Zusammenbruch der Creditanstalt Verantwortlichen: siehe BGBl. Nr. 303/1932 (= Seite 1103)[4]; vgl. Tálos/Manoschek 1988, S. 37 ff.

Dollfuß warb in der Presse für diesen kurzen Weg der Entscheidungen seiner Regierung:

Die Regierung (...) geht Schritt um Schritt auf ihrem vorgezeichneten Weg weiter (...). Die Tatsche, dass es der Regierung möglich ist, selbst ohne vorherige endlose parlamentarische Kämpfe sofort gewisse dringliche Maßnahmen in die Tat umzusetzen, wird zur Gesundung unserer Demokratie wesentlich beitragen. ([5])

Die oppositionellen Sozialdemokraten wandten sich gegen die Anwendung des Kriegwirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes. Im Parlament wandte sich in einer dringlichen Anfrage vom 20.Oktober 1932 der sozialdemokratische Abgeordnete Karl Seitz betreffend die Anwendung des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes bezüglich der Ernennung von Major Emil Fey zum Staatssekretär und das für Wien erlassene Versammlungsverbot an die Regierung. Als Bürgermeister von Wien weigerte sich Seitz, die Verordnungen der Regierung Dollfuß/Schuschnigg umzusetzen, da er sie für rechtswidrig hielt.

1933/1934: Mit dem KWEG in die Diktatur

Nach der von der Regierung Dollfuß so genannten Selbstausschaltung des Parlaments im März 1933 (in der Realität hatte die Regierung den Wiederzusammentritt des Nationalrates am 15. März verhindert; die Sitzung wurde eröffnet und auf Anweisung der Polizei sofort wieder geschlossen) nutzte die Regierung das Gesetz vom 24. Juli 1917 als formalrechtliche Basis aller Notverordnungen, mit denen der austrofaschistische Ständestaat eingerichtet wurde. Zuletzt wurde die am 1. Mai 1934 in Kraft gesetzte autoritäre Maiverfassung auf der Basis des KWEG erlassen.

1946: Gesetz vom 24. Juli 1917 nicht mehr anwendbar

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde § 7 Abs. 2 VÜG 1920 mit dem Bundesverfassungsgesetz vom 25. Juli 1946 (BGBl. Nr. 143) aufgehoben; das KWEG war damit zwar formal nicht aufgehoben, aber mangels verfassungsmäßig zuständiger Organe obsolet, d.h. nicht mehr anwendbar. Die Geschäftsordnung des Parlamentes blieb bis 1975 unverändert. Erst das mit absoluter Mehrheit der Abgeordneten der SPÖ ausgestattete Parlament änderte 1975 die Geschäftsordnung, um in Zukunft Geschäftsordnungskrisen und Staatskrisen solcher Art zu vermeiden.

Später wurde in Österreich gelegentlich behauptet, man habe bei der Errichtung der Republik 1918 leider vergessen, das KWEG, das nur für die Kriegszeit bestimmt gewesen sei, aufzuheben, und Dollfuß habe dieses Versehen kaltblütig ausgenützt. Dies steht in Widerspruch zur historischen Evidenz, dass das KWEG 1918 keineswegs vergessen, sondern 1918/1919 von der Staatsregierung aktiv angewandt und 1920 bestätigt wurde, um Vorschriften "auf kurzem Weg" zu erlassen.

Einzelnachweise

  1. http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?apm=0&aid=rgb&datum=19170004&seite=00000739&zoom=0
  2. Stenographische Protokolle der Konstituierenden Nationalversammlung für Deutschösterreich, 2. Sitzung, 5. März 1919, S. 21 f.
  3. alex.onb.ac.at
  4. http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?apm=0&aid=bgb&datum=19320004&seite=00001103&zoom=1
  5. Reichspost, 4. Oktober 1932

Literatur

Weblinks


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