Lotos-Sutra

Lotos-Sutra

Das Lotos-Sutra (Sanskrit, n., सद्धर्मपुण्डरीकसूत्र, saddharmapuṇḍarīkasūtra, wörtlich: „Sutra der Lotosblume vom wunderbaren Gesetz“; vietn.: Diệu Pháp Liên Hoa Kinh; chinesisch 法華經 Fǎhuá jīng, W.-G. Fa-hua ching; kor. 법화경, Beophwa gyeong; japanisch früher 法華経, Hokke-kyō die heute übliche japanische Bezeichnung lautet: 妙法蓮華経, Myōhōrenge-kyō; tibetisch: dam pa'i chos padma dkar po'i mdo) ist ein Sutra des Mahayana-Buddhismus und neben dem Diamant-Sutra das in Asien bekannteste der Mahayana-Sutras, wenngleich auch oft nur das 25. Kapitel „Das universale Tor des Bodhisattva Avalokiteshvara“ halbwegs bekannt ist und als Teil für das Ganze steht.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Man nimmt an, dass frühe Bestandteile dieses Sutras circa 700 Jahre nach dem Tod Buddha Shakyamunis in Indien schriftlich niedergelegt wurden. Im Land Kucha wurde zwischen circa 350 und 380 dieses heute wohl berühmteste der Mahayana-Sutras, mutmaßlich von Sûryasoma, dem Lehrer Kumârajîvas, selbst aus diesen frühen Einzelteilen zusammengesetzt und in seiner heute bekannten Fassung aufgezeichnet. Sûryasoma war überzeugt, mit diesem Sutra den Kern der buddhistischen Lehre vollständig dokumentiert und damit für die Nachwelt erhalten zu haben. Er bat Kumârajîva, er möge dieses Sutra bei seiner Rückkehr nach China dort verbreiten. Ebenso wie andere religiöse Schriften, ist also das Lotos-Sutra ein Werk vieler Autoren, welches Jahrhunderte nach dem Tod des Religionsstifters aufgezeichnet wurde.

Es wurde in Indien, Nepal und Zentralasien in Sanskrit und zentralasiatischen Sprachen (Xixia (Tangutisch), Sogdisch, Khotansakisch und Alt-Uigurisch) überliefert, sowie in Tibet und in China in Übersetzungen: das frühere Zheng fahua jing (正法華經 Zhèng fǎhuā jīng, W.-G. Cheng fa-hua ching) in 10 Kapiteln und 27 Faszikeln, angefertigt während der westlichen Jin-Dynastie von Dharmarakṣa (unsicher: 230–316; 竺法護 Zhú fǎhù, W.-G. Chu fa-hu); und das jüngere, aber weit populärere Miaofa lianhua jing (妙法蓮華經 Miàofǎ liánhuā jīng, W.-G. Miao-fa lien-hua ching) in 7 Faszikeln, angefertigt im Jahr 406 von Kumārajīva (344–413; 鳩摩羅什 Jiūmóluóshé, W.-G. Chiu-mo-lo-shih).

Folgende nicht-chinesische Texte sind bekannt: 1) Vollständig: in Nepali, nach dem 8. Jahrhundert, 2) Fragmente zentralasiatische Texte (5. bis 7. Jahrhundert): a) Aus Kaschgar (= „Petofsky's“ Text), b) Fragmente aus Khotan, c) der Khadalik-Text; 3) Der Gilgit-Text aus Kaschmir enthält etwa ¾ des Gesamtwerkes.

Die meisten späteren Kommentare und Übersetzungen (auch in moderne Sprachen) orientieren sich an der späteren chinesischen Übersetzung. In dieser Version gilt das Lotos-Sutra als Grundlage der chinesischen Tiantai zong und der japanischen Tendai-shū, sowie aller Schulen des Nichiren-Buddhismus, erfährt aber auch im Zen und den Schulen des Reinen Landes besondere Wertschätzung. Manchmal wird das Lotos-Sutra, besonders im Zusammenhang mit der Tendai-shū, auch als Ichijōkyō (一乗経 'Sutra des einen Fahrzeugs') bezeichnet.

Die Verse des Teil 1 (Kapitel 2-9) waren etwa 50 v. Chr. [nach andrer Meinung 40 n. Chr.] abgeschlossen, dessen Prosa etwa 50 Jahre später. Der zweite Teil (Kapitel 10-20/21), wurde bis etwa 100 vollendet, wobei das Kapitel 12 Daibatta (skr. Devadatta) eine spätere (ch.) Einfügung ist, der dritte Teil (Kapitel 21-28) war bis 150 [220] n. Chr. komplett. (Über die genaue zeitliche Abgrenzung der einzelnen Abschnitte ist besonders von jap. Gelehrten viel diskutiert wurden.)

Im Gegensatz zu früheren Lehren des Buddha, wie sie im Pali-Kanon beschrieben sind, legt es den Schwerpunkt nicht auf das Streben nach Heiligkeit (Arhatschaft) und Befreiung des Geistes von allen Anhaftungen was zum „endgültigen Verlöschen“ im Nirwana führt, sondern strebt die Erlösung der Menschen ohne Ausnahme an, die beim Einzelnen ansetzt. Dazu bedarf es „geschickter Mittel“ (upaya kaushalya), wie sie im 2. Kapitel und in den bekannten Parabeln und Gleichnissen vom „brennenden Haus“, vom „verlorenen Sohn“, von den „Pflanzen“, vom „versteckten Juwel“, von den “vergifteten Söhnen“ und von der „Drachenprinzessin“ formuliert sind. Das Lotos-Sutra bringt die Chance jedes Menschen zum Ausdruck, sein eigenes Leben und sein Schicksal selbst bestimmen und auf den Weg der „Leidfreiheit“ lenken zu können.

Struktur und Inhalt

Das Lotos-Sutra besteht in seiner heutigen Form aus 28 Kapiteln, von denen die ersten 14 von der irdischen Erscheinung Buddha Shakyamuni handeln. Kapitel 1 enthält eine spät entstandene Einführung, die die ersten beiden Teile verbinden soll. Kapitel 2 bis 9 sind die ursprünglichen Abschnitte und auch in sich zusammenhängend. Kapitel 10 bis 21 (jap. 如来神力品), Nyorai jinriki hon) – ohne 18 (jap. 随喜功徳品, Zuiki kudoku hon) – wurden von einer Gruppe von Verfassern angefügt, wobei 10 (jap. 法師品, Hosshi hon), den Verdienst des Sutrakopierens besonders betont. Sie werden als 'Gesetz der Erscheinung' verstanden und enthalten die Lehre über die Organisation des Universums, des menschlichen Lebens und der menschlichen Beziehungen, basierend auf der Erfahrung des Shakyamuni. Demgemäß besitzt jedes Lebewesen die Möglichkeit die letztendliche Wahrheit zu verstehen. Auch die Möglichkeit, die Buddhaschaft zu erlangen wird erläutert. Als Hauptelement der Erleuchtung wird die Weisheit des Buddha dargestellt. In diesem Teil tritt uns der „menschliche“ Buddha (Nirmanakaya) gegenüber, wie ihn auch das Theravada kennt, wobei hier auch einige „Dogmen des Theravada“ hinterfragt werden − auch die „Bösen“ können durch Buddhas unendliches Mitgefühl zur Erlösung gelangen, wie der Erzgegenspieler des Buddha Devadatta.

In den weitern Kapiteln, die als „Gesetz des Ursprungs“ verstanden werden, wird dargestellt, dass der Buddha die Menschen seit ewigen Zeiten belehrt hat und er das fundamentale Prinzip ist, das die Erscheinungen des Universums bedingt und das von Anbeginn des Universums an existiert hat. Der Buddha erscheint hier als Verkörperung der universellen und allgemeinen Wahrheit, als Beherrscher des Raum-Zeit Kontinuums (Sambhogakaya). Dieser transzendente Buddha (der Buddha des Mahayana) gilt als Verkörperung der kosmischen Ordnung bzw. des Dharma, dessen irdische Verkörperung dazu dient, allen leidenden Wesen zu helfen. Der Buddha als kosmisches Prinzip (Dharmakaya) wird „ursprünglicher Buddha“ genannt. Die Kapitel 23-28 enthalten spezielle Glauben wie z.B. Kapitel 23 die Lehre vom Medizin-König (jap. 薬王菩薩, Yakuo Bosatsu), 24 die 16 Arten des sammai des Myō-on-Bosatsu. In dem 25. Kapitel (jap. 観世音菩薩普門品, Kanzeon bosatsu fumon bon) 33 Transformationen von Kannon d.i. Avalōkiteshvaras und die wundersamen Kräfte dieses Bodhisattva ausführlich erklärt, weshalb diese Kapitel allgemein als Kannon-Sutra, bezeichnet wird, vielfach als selbständige Schrift gilt. Kapitel 26, das Darani-hon (陀羅尼品), mit dem Verdienst der Verbreitung des Sutra und der Rezitation verschiedener Dharanis. Im 27. Kapitel (jap. 妙荘厳王本事品, Myō shōgon ō honji hon) wird die Bekehrung eines Königs durch seine Söhne beschrieben.

In China gibt es noch ein 29. Kapitel Miao-fa lien-hua-ching tu liang t'ien-ti p'in ti erh-shih-chiu (Pinyin: Miaofa lianhuajing du liang tiandi pin di ershijiu) das die Verbreitung des Lotos in den Himmeln und auf Erden abdeckt.

Es existieren in der Nummerierung der Kapitel voneinander leicht abweichende Versionen.

Kosmologie

Dem Sutra liegt eine strikte Kosmologie und Heilslehre zugrunde. So ist es einer Frau über die Transformation einer Wiedergeburt als Mann möglich, die Buddhaschaft zu erlangen. Im einzelnen heißt es:

Sariputra:Der Körper einer Frau ist schmutzig (durch Befleckung) und kein Gefäß des Gesetzes. Wie bist du da fähig,(Drachen Mädchen) die höchste Erleuchtung zu erlangen? […] Ferner gibt es für eine Frau wegen ihres Körpers noch die fünf Hindernisse: 1) Sie erreicht es nicht, ein Brahmā-Himmels-König zu werden, 2) nicht Indra, 3) nicht König der Māras, 4) nicht raddrehender König und 5) nicht Buddha. Drachen Mädchen:"ihr sollt mit eurer überirdischen Kraft nun sehen,daß ich noch schneller als(dies)Buddha werde: [1] Weiterhin gilt:

Wenn nach dem Erlöschen […] eine Frau diesen Sūtrentext hört, sie entsprechend dieser Predigt praktiziert und so ihr Leben beendet, so wird sie […] auf dem Juwelen-Sitz in einer Lotosblüte wiedergeboren. Sie (die in einen Mann verwandelt) wird nicht mehr von Begehrlichkeit bedrängt werden, ferner auch nicht durch Zorn und Torheit. [2]

Charakter des Textes

Das Sūtra ist stark selbstreflexiv, was sich im Einzelnen wie folgt äußert:

  • Es gibt nur ein buddhistisches Fahrzeug, das alle anderen umfasst und das sich in diesem Lotos-Sūtra offenbart. [3]
  • Die Bedeutung des Sūtra ist unermesslich und Ausdruck höchster Weisheit: Dieses Sūtra kann alle Lebewesen retten. Dieses Sūtra kann bewirken, dass die Lebewesen von ihren vielerlei Leiden und Kümmernissen frei werden. [4]
  • Die Verdienste, die man sich durch das Hören, Verstehen und Verbreiten des Lotos-Sūtra erwirbt, sind unvergleichlich. [5]
  • Das Lotos-Sūtra wird von den verschiedenen Buddhas und Bodhisattvas seit unendlicher Zeit als Mittel zur Verwandlung gepredigt. [6]
  • Das Lotos-Sūtra stellt Buddhas und Bodhisattvas vor, die dem Lotos-Sūtra huldigten und damit einen hohen Grad der Verwirklichung erlangten. [7]
  • Das Lotos-Sūtra ist Ausdruck einer Kosmologie

Tatsächlich nimmt die Selbstreflexivität einen so hohen Stellenwert ein, dass die Aussagen, die darüber hinaus im Lotos-Sūtra zur Geltung kommen, zurücktreten, wenn man von der begleitenden Kernaussage, dass nämlich alle Lebewesen die Buddhaschaft als Verwirklichung von Bodhicitta erstreben, einmal absieht. Nur an einer einzigen Stelle wird kurz auf die philosophisch-praktische Lehre eingegangen [8], und zwar auf die Vier edlen Wahrheiten und das bedingte Entstehen. Als Ausgleich hierzu wird folgerichtig die Notwendigkeit von Glauben [9], Huldigung und Verehrung gepredigt.

[…] das Sūtra, das man >Lotosblume des wunderbaren Gesetzes< des Großen Fahrzeuges nennt, das das Gesetz der Bodhisattvas lehrt und das die Buddhas behüten und bedenken. Ihr sollt mit tiefem Herzen freudig folgen, ferner den Buddha Śākyamuni anbeten und verehren! [10]

Dies kann im Extrem bis zur Selbstaufopferung führen.

[…] salbte er seinen Körper mit duftendem Öl, und als er vor dem Buddha […] seinen Körper mit einem himmlischen, kostbaren Kleid umhüllt hatte und verschiedene Duft-Öle darübergegossen hatte, verbrannte er selbst seinen Leib entsprechend seinem Wunsch von überirdisch durchdringender Kraft. Das helle Licht erleuchtete überall die Welten von achtzig Kotis mal den Sand am Ganges. Alle Buddhas in diesen priesen gleichzeitig: "Gut, gut, guter Sohn! Dies ist wahrer Eifer. Diese wahre Gesetzes(-Haltung) bezeichnet man als >Verehrung des Tatāghata< […] [11]
Wenn jemand, der seinen Sinn darauf richtet und die höchste vollkommene Erleuchtung zu erlangen wünscht, einen Finger seiner Hand oder eine Zehe seines Fußes verbrennt und so den Buddha in dem Stupa verehrt, der übertrifft diejenigen, die Länder, Städte, Frauen oder Kinder […] oder anderes, Perlen und Juwelen, opfern. [12]

Das Lotos-Sūtra gibt an diesen und anderen Stellen (nimmt man sie nicht wörtlich) keinen Hinweis darauf, ob ein solcher Glaubenseifer symbolisch, also im übertragenen Sinne als Nicht-Nachlassen im Bemühen zum Wohle aller oder als Mittel der Verwirklichung an sich gemeint ist, und bleibt damit in seiner Deutung unbestimmbar; andererseits wird an mehreren Stellen auf die unangenehmen Konsequenzen hingewiesen, die aus der Ablehnung folgen. [13]

Weil mich zu jener Zeit die vierfache Gemeinde, die Mönche, Nonnen […] mit zornigem Sinn verhöhnten und schmähten, trafen sie während zweihundert Koṭis Kalpas nicht den Buddha. Sie hörten das Gesetz […] nicht, sie sahen keine Mönche […] und erlitten während tausend Kalpas große Leiden und Bedrängnisse in der Avīci-Hölle. Als sie ihr Vergehen abgetragen hatten, trafen sie wiederum den Bodhisattva […] [14]

Literatur

  • Margareta von Borsig (Übs.): Lotos-Sutra - Das große Erleuchtungsbuch des Buddhismus. Verlag Herder, Neuausgabe 2009. ISBN 978-3-451-30156-8 Erste vollständige Übersetzung ins Deutsche.
  • Max Deeg (Übs.): Das Lotos-Sūtra. Primus Verlag, 2007. ISBN 978-3-89678-607-4 Nach frühen chinesischen Fassungen von Kumarajiva übertragen, die mit einem parallelen Sanskrit Originaltext abgeglichen wurden. Mit einer Einleitung von Max Deeg und Helwig Schmidt-Glintzer. Gefördert von der buddhistisch geprägten Soka Gakkai International (SGI)
  • Heinz W. Kuhlmann (Übers.): Das Dreifache Lotos Sutra. Octopus Verlag, Wien 1989. ISBN 3-900290-52-0 Übersetzung aus dem Englischen.
  • Nikkyo Niwano; Buddhismus für heute. Eine moderne Darstellung des Dreifachen Lotos Sutra. Octopus Verlag. ISBN 978-3-900290-27-6
  • George Tanabe (Hrsg.): The Lotus Sutra in Japanese Culture. University of Hawai'i Press, 1989. ISBN 978-0-8248-1198-3 Entstehungsgeschichte und Rezeption.
  • Akira Yuyama: A Bibliography of the Sanskrit-Texts of the Sadharmapuṇḍarīkasūtra. Faculty of Asian Studies in Association With Australian National University, Canberra, Australia, 1970.
  • Tenzin Tharchin: Das dreifache Sutra von der weißen Lotosblume des wunderbaren Dharma, Tushita-Verlag, 1.Auflage (Dezember 2008): ISBN 978-3-902549-13-6
Einzelnachweise
  1. Borsig, 2003, Seite 239.
  2. Borsig, 2003, Seite 345f.
  3. Borsig, 2003, Seite 66ff, 103.
  4. Borsig, 2003, Seite 344
  5. Borsig, 2003, Seite 210, 305f, 309ff, 343 u. 344, 383.
  6. Borsig, 2003, Seite 273, 279ff.
  7. Borsig, 2003, Seite 325ff.
  8. Borsig, 2003, S.177.
  9. Borsig, 2003, 17. Kapitel.
  10. Borsig, 2003, Seite 332.
  11. Borsig, 2003, Seite 339f.
  12. Borsig, 2003, Seite 343.
  13. Borsig, 2003, Seite 384.
  14. Borsig, 2003, Seite 327.

Weblinks


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