Mosuo

Mosuo
Der Lugu-See ist das kulturelle Zentrum der Mosuo. Im Hintergrund: der heilige Berg Ganmu.

Die Mosuo (chinesisch 摩梭 Mósuō; auch Moso genannt) sind eine Ethnie mit tibetobirmanischer Sprache, die im Südwesten der Volksrepublik China lebt, insbesondere am Ufer des Lugu-Sees.

Inhaltsverzeichnis

Ethnische Zuordnung

Obwohl sie nach der offiziellen chinesischen Klassifikation dem Volk der Naxi zugerechnet werden, sich selbst als Na bezeichnen und sich sprachlich auch nicht nennenswert von den anderen Naxi unterscheiden, betrachten sie sich selbst als relativ eigenständige ethnische Gruppe; ihr Identitätsgefühl mit den anderen Naxi ist schwach entwickelt. Sie praktizieren zwei Religionen, die Daba-Religion und den tibetischen Buddhismus.[1] Außer dem vorherrschenden tibetischen Buddhismus[2] unterscheidet sie hauptsächlich ihre Sozialstruktur von den anderen Naxi.

Traditionelle Lebensweise

Die Mosuo sind eine vormoderne Bauernkultur und lebten bis in jüngste Zeit relativ abgeschieden, Tiere und Menschen unter einem Dach. Bis vor kurzem stellten sie alle wesentlichen Güter des täglichen Lebens selbst her, und noch heute haben viele Dörfer nicht einmal Strom. Fleisch, eine ihrer Hauptnahrungsquellen, wird durch Trocknen, Pökeln und Räuchern haltbar gemacht und hält sich bis zu 10 Jahre.

Traditionell herrscht eine reine Tauschwirtschaft, was weite Reisen ebenso überflüssig macht wie ein Bildungssystem mit Spezialisierung. In jüngster Zeit beginnt sich das durch den verbesserten Kontakt zu benachbarten Städten zu lockern, so daß auch Geld benutzt wird.

Verwandtschaftssystem und Familie

Eine Mosuo-Frau in traditioneller Bekleidung bei der Arbeit auf dem Feld

Die Mosuo sind bekannt für ihre matrilineare Gesellschaftsstruktur. Sie leben in Großfamilien zusammen, wobei innerhalb eines solchen Haushalts Frauen nicht nur alle wesentlichen Arbeiten verrichten (wie Waschen, Feuer unterhalten, Kochen, Holzsammeln, Viehfüttern, Spinnen), sondern auch eine Frau Haushaltsvorstand ist. Diesem Haushaltsoberhaupt, "Ah mi" genannt, sind alle Haushaltsmitglieder beiderlei Geschlechts in so gut wie jeder Hinsicht untergeordnet. Sie entscheidet auch allein über ihre Nachfolge und bestimmt deren Zeitpunkt, symbolisiert durch die Übergabe der Schlüssel zur Vorratskammer[3].

Männer kümmern sich hauptsächlich um das Vieh, vor allem, wenn es ans Töten geht: Schlachten von Haustieren sowie Fischfang sind allein ihre Aufgabe (getrocknetes Fleisch stellt einen bedeutenden Teil der Vorräte). Auch beim Menschen ist der Tod Männersache: Begräbnisse werden allein von Männern organisiert - das geht so weit, daß sie bei dieser einzigen Gelegenheit sogar das Essen zubereiten.

Was Beziehungen außerhalb der Großfamilie anbelangt, treffen Frauen tendenziell die geschäftlichen Entscheidungen - Männer hingegen die politischen [4].

Geschlafen wird in Gemeinschaftsräumen. Lediglich Frauen im gebährfähigen Alter haben das Recht auf einen eigenen Schlafraum. Die Mosuo kennen keine Ehe zwischen Mann und Frau, bei der das verheiratete Paar zusammenlebt; diese wird als unnatürlich betrachtet und als Gefahr für die Familie. Sie pflegen vielmehr die Besuchsehe bzw. Besuchsbeziehung (auch visiting marriage oder walking marriage genannt). Sowohl Frauen als auch Männer dürfen mit mehreren (gegengeschlechtlichen) Partnern oder Partnerinnen nebeneinander oder nacheinander sexuelle Beziehungen pflegen, die keinerlei Bestätigung von dritter Seite brauchen und auch von jeder der beiden Seiten ohne Umstände und jederzeit aufgelöst werden können. Die Männer besuchen dabei als Geliebte (azhu) die Frauen in der Nacht und kehren am Morgen in den Haushalt ihrer Großfamilie zurück.

Trotz dieser Erlaubnis zur "freien Liebe" kann aber von Promiskuität keine Rede sein. Nur wenige Frauen haben zur selben Zeit mehr als einen "Geliebten", und meistens halten die Beziehungen jahrelang - mitunter sogar ein Leben lang [5].

Alle Kinder, die aus der Verbindung stammen, bleiben im Haushalt der Mutter. Die Brüder helfen ihren Schwestern, die Kinder aufzuziehen. Männer sind also zuständig für ihre Nichten und Neffen (mithin die Kinder im Haushalt, mit denen sie die meisten Gene teilen), nicht für ihre eigenen biologischen Kinder. Entgegen anderslautender Gerüchten sind die biologischen Väter aber in aller Regel bekannt und spielen im Leben der Kinder eine durchaus wichtige Rolle. Für Mütter (nicht aber für die Kinder!) gilt es geradezu als beschämend, den Vater nicht benennen zu können. Am Neujahrstag ist es üblich, daß Kinder ihn besuchen, um ihm und dem Haushalt, dem er angehört, ihren Respekt zu erweisen. [6] Gleichwohl finden Jungen ihre wesentlichen männlichen Bezugspersonen unter den Mitgliedern ihres Haushalts, insb. Onkeln und Brüdern.

Die Frage, ob bei den Mosuo ein Matriarchat besteht, ist umstritten und von der jeweiligen Definition abhängig. Einzelne Elemente der Matriarchats-Theorien sind vorzufinden, z.B. Matrilinearität, Matrilokalität sowie die starke ökonomische Stellung der Frauen. Dem steht allerdings ihre schwache politische Stellung außerhalb des Haushaltes gegenüber. Erschwert werden solche Diskussionen durch die starken Brüche und Wandlungen, die bei den Mosuo insbesondere in der Moderne auftauchen. Für die traditionellen chinesischen Moralauffassungen und den Sozialismus der Volksrepublik waren Aspekte wie das azhu-System der Besuchsbeziehungen unannehmbar und sollten verschwinden. Hinzu kommt, daß speziell jüngere Familienmitglieder beiderlei Geschlechts in zunehmendem Maße in benachbarten Städten Arbeit suchen, was vor allem durch bessere Straßen möglich wurde. Junge Leute beginnen somit, eigenes Geld außerhalb des Haushalts zu verdienen. Ältere Familienmitglieder sind zunehmend besorgt, weil sie Streit um Eigentum sowie (durch Wegziehen junger Leute) um die Grundlage des "Haushaltsmodells" fürchten.[7].

Überbleibsel eines "archaischen" Matriarachats sind die Mosuo jedenfalls nicht. Ihr Gesellschaftssystem ist vielmehr aus einem feudalen System heraus entstanden, wo eine kleine Adelsklasse die Landbevölkerung beherrschte. In dieser war es üblich, daß der Vater seinen sozialen Status auf die Söhne, die Mutter den ihren dagegen auf die Töchter vererbte. Das minderte die andernorts üblichen "Standesbarrieren" gegen Beischlaf mit Mitgliedern des niedrigen Standes. Wenn nun in einer solchen Beziehung die Frau der Adelsklasse angehörte, dann vererbte sie ihren Status auf ihre Töchter, während die Söhne "minderwertig" waren[8]. Dadurch entstand ein Nebeneinander aus "patriarchalischen" und "matriarchalischen" Familien, das sich irgendwie separierte - vermutlich dadurch, daß die patriarchalischen sich mit den ebenfalls "patriarchalischen" Nachbarvölkern assimilierten, während die "matriarchalischen" sich wegen ihrer Besonderheit abkapselten.

Aktuelle Entwicklungen

In neuester Zeit, in der der chinesische Zentralstaat den Mosuo wieder mehr soziale und kulturelle Freiräume lässt, hat ihr Kontakt mit der chinesischen und auch anderen Gesellschaften zugenommen. Zahlreiche Beschreibungen von „freier Liebe“ und Matriarchat haben das Interesse von Forschern und Forscherinnen sowie chinesischer und ausländischer Touristen auf die Mosuo gelenkt. Insbesondere ist ein Anstieg des Sextourismus im Gebiet der Mosuo zu beobachten, weshalb sich dort inzwischen zahlreiche Geschlechtskrankheiten verbreitet haben.

Siehe auch

Filme

  • Die Moso - Freie Frauen im Himalaja [WunderWelten], Frankreich 2000, Regie: Cris Campion, Elisabeth Soulia, ARTE-TV[9]
  • China - Die Töchter der Göttin, Bei den Moso in China, Film von Petra Spamer-Riether (aus der ARD-Reihe "Länder-Menschen-Abenteuer") [10], [11]
  • China - Die mächtigen Frauen vom Lugu-See, 43 min., USA 2005, Regie: Elizabeth Dukal Flender, Roger J. Zou[12]

Literatur

  • Ricardo Coler: Das Paradies ist weiblich. Eine faszinierende Reise ins Matriarchat. Kiepenheuer bei Aufbau, Berlin 2005, ISBN 3-378-01103-3. (aus dem argentinischen Spanisch von Sabine Giersberg)
  • Yang Erche Namu, Christine Mathieu: Das Land der Töchter. Eine Kindheit bei den Moso, wo die Welt den Frauen gehört. Ullstein, Berlin 2005, ISBN 3-548-25959-6. (aus dem Engl. von Barbara Röhl)
  • Heide Göttner-Abendroth: Matriarchat in Südchina. Eine Forschungsreise zu den Mosuo. Kohlhammer, Stuttgart 1998, ISBN 3-17-014006-X.
  • Susanne Knödel: Männer? Nur für die Nacht! Bei den Mosuo im Südwesten Chinas haben die Frauen das Sagen. In: Gisela Völger (Hrsg.): Sie und Er. Frauenmacht und Männerherrschaft im Kulturvergleich. Rautenstrauch-Joest-Museum, Köln 1997, ISBN 3-923158-33-5. (Online-Kurzversion)
  • Susanne Knödel: Die matrilinearen Mosuo von Yongning. Eine quellenkritische Auswertung moderner chinesischer Ethnographien. LIT Verlag, Münster 1995, ISBN 3-89473-805-7.
  • Iris Bubenik-Bauer: Die Heimat der Göttin Gemu. Die matriarchalische Welt der Moso. Mythen, Riten und Legenden, Atlantik Verlag, September 2001, ISBN 3-926529-97-0

In Englisch:

  • Christine Mathieu: A History and Anthropological Study of the Ancient Kingdoms of the Sino-Tibetan Borderland – Naxi and Mosuo. Edwin Mellen Press, Lewiston, N.Y. 2003, ISBN 0-7734-6645-2.
  • Tami Blumenfield: Na Education in the Face of Modernity. In: Xu Jianchu; Stephen Mikesell (Hrsg.): Landscapes of Diversity:Indigenous Knowledge, Sustainable Livelihoods and Resource Governance in Montane Mainland Southeast Asia. Yunnan Science and Technology Press, Kunming 2003, S. 87–494 (online PDF-Datei, 240 KB)
  • Cai Hua: A Society Without Fathers or Husbands: The Na of China. Zone Books, New York 2001, ISBN 1-890951-12-9.

Fußnoten

  1. Quelle, Zitat: "As mentioned previously, the Daba religion is in many ways the “heart” of Mosuo culture. Although the Mosuo actually practice two religions, Daba contains the majority of their historical and cultural heritage."
  2. Quelle, Zitat: "Thus, both religions are integral to Mosuo culture; but Tibetan Buddism plays a far greater role in the daily life of the Mosuo than does Daba."
  3. Kingdom of Women: The Matriarchal Mosuo of China (2007, 54 min.) Films for the Humanities and Societies
  4. York, Geoffrey (2004) "Mother Land", Globe & Mail, 24 September 2004. (subscription)
  5. Blumenfield, Tami. The Na of Southwest China: Debunking the Myths. 2009.
  6. Blumenfield, Tami. The Na of Southwest China: Debunking the Myths. 2009.
  7. Kingdom of Women: The Matriarchal Mosuo of China (2007, 54 min.) Films for the Humanities and Societies
  8. Hua, Cai. A Society without Fathers or Husbands: The Na of China. Asti Hustvedt, trans. New York: Zone Books, 2001.
  9. [1]
  10. Kurzinfo über den Film bei 3sat
  11. www.swr.de/lma/ueberuns/ → rechts unter "Mehr im SWR:" → "Filme 1975 - 2002" (s. S.10 in diesem Verzeichnis): Erstausstrahlung 1. Dezember 1993 in Südwest 3
  12. [2]

Weblinks


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