Münchner Waisenhaus

Münchner Waisenhaus
Münchner Waisenhaus, erbaut von Hans Grässel, 1896/99 (Aufnahme: 1903)

Das heutige Münchner Waisenhaus entstand aus der Zusammenlegung von drei Münchner Waisenhäusern, sein Träger ist seit 1809 die Waisenhausstiftung München. Die Einrichtung war in den 1950er Jahren wegweisend für die Heimpädagogik.

Inhaltsverzeichnis

Anfänge

Die Anfänge des Waisenhauses der Stadt München gehen bis auf das 17. Jahrhundert zurück. Im Jahre 1615 ließ Kurfürst Maximilian I. für die Waisen der Hofbediensteten das Hofwaisenhaus errichten. 1625 wurde das Bürgerwaisenhaus ins Leben gerufen. Diesem folgte im Jahre 1742 das Waisenhaus ob der Au. Die Kinder dieser Anstalten mussten sich ihren Lebensunterhalt selbst erarbeiten oder erbetteln, den Rest zahlte notgedrungen das Hofzahlamt. 1809 wurden die drei Einrichtungen vereinigt. Die Stadtverwaltung bestimmte das Waisenhaus ob der Au zum sogenannten Depotwaisenhaus oder Einlieferungswaisenhaus, das 1819 in die Findlingsstraße verlegt wurde. Da es schwierig war, geeignete Waisenpfleger zu finden, wurde das Haus 1861 dem Orden der Englischen Fräulein zur Betreuung übergeben:

Die Übernahme der Anstaltsleitung bedeutete für den Orden der Englischen Fräulein einen Prestigegewinn, wodurch er seinen Einfluss im städtischen Bereich ausweiten konnte. Im Laufe der Zeit wurde das Städtische Waisenhaus München zu einer katholischen Anstalt, nichtkatholische Kinder wurden nicht in die Anstalt aufgenommen[1].

Das städtische Waisenhaus übersiedelte schließlich am 7. Oktober 1899 nach Neuhausen in ein nach dem Stil altbayerischer Barockklöster errichtetes Gebäude, nahe am Nymphenburger Kanal gelegen. 240 Kinder fanden Aufnahme. Die Anstaltsführung wurde einem Waisenpfleger und dessen Ehefrau übertragen. Die pädagogische Leitung hatte ein geistlicher Inspector inne, welcher nebstbei den Religionsunterricht ertheilte und für die Hauskapelle gestifteten Messen zu applizieren hatte[2]. Am 22. Dezember 1899 besichtigte Prinzregent Luitpold von Bayern die Einrichtung.

Das neue Haus war ein Muster der Anstaltserziehung alter Prägung: Mädchen und Buben gleich gekleidet und frisiert wurden streng getrennt, Schlafsäle mit 40 Betten und mehr in Reih und Glied, die Zöglinge hatten ihren Vorgesetzten einschließlich allen Ordensmitgliedern Ehre, Liebe und Gehorsam zu erweisen [3]. Aufgenommen wurden nur Kinder, die ihr Zuhause verloren hatten, keine verwahrlosten, unehelichen und minderbegabte.

Das Waisenhaus wurde immer wieder mit Spenden und Stiftungen bedacht. Einer der großzügigsten Spender war Simon von Eichthal. Als sich der Kaiser von Brasilien, Peter I., am 24. November 1829 mit Amalie von Leuchtenberg vermählte, gedachte das Paar auf edelmütige Weise dem Waisenhaus und seiner weiblichen Zöglinge. Die hohen Herrschaften errichteten 1830 eine Stiftung mit einem Kapital von 40.000 Gulden, wonach jährlich vier Mädchen (zwei durch Los, zwei durch die Verwaltung des Herzoglichen Hauses Leuchtenberg bestimmt) Aussteuerbeträge von je 500 Gulden bekommen sollten.

Während der Zeit der Nazi-Diktatur versuchte der damalige Heimleiter, der Mitglied der NSDAP war, die wirtschaftliche und pädagogische Führung der Anstalt mehr und mehr dem Einfluss des Ordens der Englischen Fräuleins zu entziehen. Schließlich schränkte eine 1935 erlassene Dienst- und Verwaltungsordnung den Einflussbereich der Nonnen gewaltig ein. Ihnen blieb lediglich die Verantwortung für die Führung der Hauswirtschaft sowie der Pflegearbeit und Fürsorge im Haus, ferner die pädagogische Verantwortung für die Mädchen. Die Erziehung der Kinder unterlag ganz der nationalsozialistischen Ideologie. Demzufolge durften auch nur gutgeartete Kinder deutschen und artverwandten Blutes[4] aufgenommen werden.

Am 11. und 13. Juli 1944 wurde das Waisenhaus bis auf den linken Flügel, den Knabentrakt, durch Bombenangriffe weitestgehend zerstört. Dabei kamen 11 Ordensfrauen und 20 Passanten, die dort Schutz gesucht hatten, ums Leben. Heimkinder waren nicht unter den Opfern, da diese in Bad Wiessee evakuiert waren.

Reform der Anstaltserziehung

September 1945 übernahm Andreas Mehringer die Leitung (bis 1969) des Hauses, das Ende März 1946 von Bad Wiessee in das Bäckerwaldheim in Gräfelfing, am Rande der Stadt München, übersiedelte. Im März und November 1948 konnten die Kinder und ihre Betreuer wieder an den angestammten Platz in München zurückkehren. Zwei gestiftete Bracken und der notdürftig hergestellte Nordflügel des zerstörten Hauses boten Unterkunft.

Der neue Heimleiter nutzte die Chance der Ruine[5] und wagte auf dem Gelände des ehemaligen Anstaltsbaus einen Neubau mit mehreren abgetrennten Wohnungen. Auch sollte die bisher geltende Erziehung, die von Zucht und Ordnung geprägt war, der Vergangenheit angehören. Ganz bewusst verzichtete Andreas Mehringer auf eine geschriebene Heimordnung, da sie seiner Meinung nach gefährlich, atmosphäre-tötend[6] sind. Der neue Heimleiter postulierte als wesentliches Elemente der Reform der bisherigen Anstaltserziehung:

  • Verkleinerung der Gruppengröße
  • alters- und geschlechtsgemischte Gruppen (Koedukation)
  • familienähnliche Strukturen
  • eigenständige Gruppen
  • gute personale Besetzung
  • eine feste Bezugsperson für die Kinder (Gruppenmutter)
  • Aufnahme finden nicht nur Waisenkinder, auch uneheliche, minderbegabte, streunende und verwahrloste Kinder[7]

Schnell avancierte das Münchner Waisenhaus mit seinem Familienprinzip zum Vorbild der Heimerziehung im deutschsprachigen Raum und sorgte seinerzeit für Furore. Keine geringeren als die großen Pädagogen Elisabeth Rotten, Hans Zulliger, Paul Moor und Alfred Nitschke waren voll des ermutigenden Zuspruchs. Es meldeten sich aber nicht nur positive Stimmen zu Wort. Die kritischen Gegenstimmen bezeichneten Mehringers Konzept der familiären Erziehung als extremen Radikalismus, als alten Traum, den Anstaltspädagogen schon lange träumen [8]. Manche sehen heute in Mehringers familienorienterter Heimpädagogik nicht mehr als eine Umsetzung des NSV-Jugendheimstättenkonzepts, unter Aussparung der ursprünglich darin enthaltenen rassistischen Komponenten [9]. Dieser Ansicht steht der tiefere historische Rückblick gegenüber. So versuchten schon beispielsweise Johann Heinrich Pestalozzi, Johann Hinrich Wichern und Eva von Tiele-Winckler aus der Anstaltserziehung eine an der Familie orientierte Heimerziehung zu bilden (Röper 1976, S. 241). An diesen könnte sich Mehringer nach 1945 auch orientiert haben.

Das Waisenhaus heute

Das Konzept der Nachkriegszeit erwies sich spätestens Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre als nicht mehr zeitgemäß. Es erfolgte in einem langjährigen Prozess eine pädagogisch-konzeptionell, organisatorisch und wirtschaftlich grundlegende Modernisierung der Einrichtung.

Das Waisenhaus München, Waisenhausstraße 20, ist heute eine Einrichtung der modernen Kinder- und Jugendfürsorge, mit heilpädagogischem Auftrag. Aufnahme finden Kinder und Jugendliche, die sich in schwierigen Lebenssituationen befinden und deren Eltern zeitweise oder länger nicht in der Lage sind, ihre Erziehung und Versorgung zu sichern. Das Münchner Waisenhaus verfügt über ca. 122 Plätze.

Seit 1949 besteht der Verein Freunde der Waisenkinder, der von Andreas Mehringer unter dem Namen Verein Freunde ehemaliger Heimkinder e.V. ins Leben gerufen wurde [10].

Literatur (Auswahl)

  • G(ustav) A(dolf) Horst: Das neue Waisenhaus in München. In: Allgemeine Bauzeitung, Jahrgang 1903, (LXVIII. Jahrgang), S. 58–61. (Online bei ANNO)Vorlage:ANNO/Wartung/abz sowie G(ustav) A(dolf) Horst: Das neue Waisenhaus in München. In: Allgemeine Bauzeitung, Jahrgang 1903, (LXVIII. Jahrgang), S. 20–26. (Online bei ANNO)Vorlage:ANNO/Wartung/abz.
  • Andreas Mehringer: Reform der Anstalt. In: Unsere Jugend. Band 1.1949. Reinhardt, München/Basel 1949, ISSN 0342-5258, S. 12–17.
  • Friedrich Franz Röper: Das verwaiste Kind in Anstalt und Heim. Ein Beitrag zur historischen Entwicklung der Fremderziehung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1976, ISBN 3-525-31512-0.
  • Ursula Göllner, Hannelore Buschner: Andreas Mehringer – Ein Pädagoge im Heim. Darstellung-Analyse-Kritik. Dortmund 1977. (Unveröffentlichte Diplomarbeit, archiviert im Ida-Seele-Archiv).
  • Martin Sauer: Heimerziehung und Familienprinzip. Kritische Texte Sozialarbeit, Sozialpädagogik, soziale Probleme. Luchterhand, Neuwied/Darmstadt 1979, ISBN 3-472-58042-9.
  • Andreas Mehringer: Andreas Mehringer. In: Ludwig J. Pongratz (Hrsg.): Pädagogik in Selbstdarstellungen. Band 4, Sozialpädagogik. Meiner, Hamburg 1982, ISBN 3-7873-0520-3, S. 115-153.
  • Günther Baumann: Die „aufregende“ Geschichte des städtischen Waisenhauses in Neuhausen/Nymphenburg. München 1988. (Unveröffentlichtes Manuskript, archiviert im Ida-Seele-Archiv).
  • Manfred Berger: „Die Chance der Ruine nutzen“. Das Münchner Waisenhaus. In: Angelika Baumann (Red.), Landeshauptstadt München (Hrsg.): Münchner Nachkriegsjahre. 1945 … 1946 … 1947 … 1948 … 1949 … 1950 … Geschichtswettbewerb 1995/96. Lesebuch zur Geschichte des Münchner Alltags. Buchendorfer-Verlag, München 1997, ISBN 3-927984-68-X, S. 112-117.
  • Günther Baumann: Das Münchner Waisenhaus. Chronik 1899–1999. Herausgegeben vom Sozialreferat der Landeshauptstadt München. Buchendorfer-Verlag, München 1999, ISBN 3-934036-04-X.
  • Carola Kuhlmann/Christian Schrapper: Geschichte der Erziehungshilfen von der Armenpflege bis zu den Hilfen zur Erziehung. In: Vera Birtsch (Hrsg.), Klaus Münstermann (Hrsg.), Wolfgang Trede (Hrsg.): Handbuch Erziehungshilfen. Leitfaden für Ausbildung, Praxis und Forschung. Votum-Verlag, Münster 2001, ISBN 3-933158-21-4, S. 282-328. [11]
  • Sylvia Binder: Von der Anstalt zum zweiten Zuhause – das Münchner Waisenhaus. In: Neuhauser Werkstatt-Nachrichten. Historische Zeitschrift für Neuhausen, Nymphenburg, Gern und Umgebung. Heft 14.2005. Geschichtswerkstatt Neuhausen, München 2005, ISSN 1436-5987, S. 11-16.
  • Daniela Zahner: Jugendfürsorge in Bayern im ersten Nachkriegsjahrzehnt, 1945-1955/56. Miscellanea Bavarica Monacensia, Band 180. Utz, München 2006, ISBN 3-8316-0627-7, S. 337-353.

Einzelnachweise

  1. Zahner 2006, S. 338
  2. Baumann 1988, S. 15
  3. Göllner/Buschner 1977, S. 18
  4. Binder 2005, S. 14
  5. Berger 1997, S. 112
  6. Mehringer 1982, S. 136
  7. Mehringer 1949, S. 12 ff.
  8. vgl. Sauer 1997, S. 87
  9. vgl. Kuhlmann/Schapper 2001, S. 297 f u. Babic 2008, S. 70 ff.)
  10. http://www.freunde-der-waisenkinder.de/
  11. Inhaltsverzeichnis online (PDF).

Weblinks


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