Naturphilosophie

Naturphilosophie

Die Naturphilosophie versucht, die Natur in ihrer Gesamtheit aufzufassen und in ihren allgemeinen wie partikularen Strukturen zu beschreiben, theoretisch zu erklären und auch zu deuten. Sie widmet sich seit der Moderne auch dem Verhältnis zwischen verschiedenen wohlbestimmten Naturbegriffen.

Im europäischen Kulturkreis ist die ionische Naturphilosophie ein Ausgangspunkt der antiken Philosophie überhaupt. Die moderne systematische Naturphilosophie ist ein Teilgebiet der Ontologie und überschneidet sich mit der Philosophie der Physik, der Philosophie der Biologie und anderer Naturwissenschaften.

Inhaltsverzeichnis

Bestimmungen von Begriff und Methode von "Naturphilosophie"

„Natur“

Die europäische Naturphilosophie hat ihren Ursprung im antiken Griechenland. Der griechische Begriff für Natur, „physis“, weist dabei zwei Verwendungsweisen auf. Zum einen bezieht sich „physis“ auf die Gesamtheit aller von selbst entstandenen Dinge - dies aber erst seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. Zuerst meint das (von phyein - wachsen (lassen), entstehen - abgeleitete) Substantiv „physis“ aber die Natur von etwas, das „Wesen“ einer Sache.[1] Dabei wird das Dynamische, das innere Prinzip des Wirkens, etwa der Bewegung betont. Es geht um Prinzipien der Entfaltung, Erscheinung und des Wandels. Dies berührt insbesondere das Phänomen des Lebens. Die Bestimmung des Wesens des Menschen wird in der philosophischen Disziplin der Anthropologie behandelt, die insofern auch als ein Teilgebiet der Naturphilosophie verstanden werden kann. Auch die Grundlagen der menschlichen Natur für die Ethik, z. B. die Tugenden als natürliche Dispositionen, gehören zur Naturphilosophie.

Der Ausdruck „Natur“ und entsprechende Ableitungen („natürlich“, „naturwüchsig“, u.  a.  m.) werden oftmals in einen Gegensatz zu „Kultur“ gestellt, insofern letztere sich auf Artefakte bezieht, die durch menschliche Kunst oder Technik hervorgebracht sind (materiale Kultur).

Eine weitere häufig anzutreffende Gegensatzbildung ist die von „Natur“ und „Übernatur“, die typisch für das christliche Mittelalter ist (u. a. bei Bonaventura): Natur galt als durch Gottes Eingreifen auch immer wieder als extern veränderbar. Während beispielsweise die neuzeitliche Naturphilosophie auf Objekte und Methodik naturwissenschaftlicher, empirischer Erkenntnismöglichkeiten verpflichtet ist, galt dies nach einer klassischen Unterscheidung für die spezielle Metaphysik nicht. Diese diskutiert vielmehr Thematiken wie Seele, Emanation, Gottheit und Göttliches. Unterschiedliche Klassiker ziehen diese Grenze aber unterschiedlich streng. Aristoteles beispielsweise unterscheidet als zwei Werke, Disziplinen und Gegenstandsbereiche die „Physik“ und die „Metaphysik“, behandelt nach heutiger Wissenschaftssystematik aber in der „Physik“ auch Themen der Ontologie und in der „Metaphysik“ auch naturwissenschaftliche Themen - etwa solche der Kosmologie. Im griechischen Denken gibt es keine Übernatürlichkeit.

„Naturphilosophie“ bzw. „Philosophie der Natur“

Der deutsche Ausdruck „Philosophie der Natur“ kommt erst im 18. Jahrhundert auf und ist eine Übersetzung von dem seit der Antike gebrauchten lateinischen Ausdruck philosophia naturalis, der traditionell für die Lehre von den sinnlich wahrnehmbaren Dingen gebraucht wurde.[2] Er wird im Deutschen einerseits sehr weit verwendet, so dass er beispielsweise anthropologische und phänomenologische Spekulationen zum Verhältnis von Mensch und Natur überhaupt mit umfasst, andererseits wird mehr und mehr eine enge Verwendung üblich, wie sie sich im englischsprachigen Raum schon lange etabliert. Demnach bezeichnet „Philosophie der Natur“ den Teilbereich der theoretischen Philosophie, welcher sich mit der Struktur der Natur inklusive der Interpretation unserer besten wissenschaftlichen Theorien darüber befasst. In beiden Verwendungsweisen ist oft ein Unterschied zur Verwendung des Ausdrucks „Wissenschaftstheorie“ üblich. „Wissenschaftstheorie“ bezieht sich dann auf allgemeinere erkenntnistheoretische (epistemologische), methodologische und spezifische Fragen zu Struktur und Wesen wissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt. Da im englischen „Science“ oft im engen Sinne von rein naturwissenschaftlicher Forschung verstanden wird und andere Wissenschaften beispielsweise als „Humanities“ bezeichnet werden, kann „Wissenschaftstheorie“ aber so verwendet werden, dass Themen der Philosophie der Natur mit umfasst werden.

Historische Entwicklung

Antike

Die Anfänge der Naturphilosophie liegen in der griechischen Antike. Die Vorsokratiker suchten nach allgemeinen, konstanten Konstitutions- und Erklärungsprinzipien des Wandels der Erscheinungswelt. Dabei wurden meist ein oder mehrere einheitliche materielle Prinzipien angenommen, die einen gemeinsamen Ursprung (arché) bilden. Thales führte dazu das Wasser an, Anaximenes die Luft, Empedokles vier Elemente. Leukippos und Demokrit postulierten kleinste Teilchen: Atome. Anaximander sprach von einem Apeiron (das Unbestimmte), was evtl. mit Feuer oder Äther in Verbindung zu bringen ist.

Viele griechische Naturphilosophen, zuvorderst Aristoteles, schrieben eine Abhandlung mit dem Titel „Über die Natur“ (perì phýseōs). Aus dieser Tradition entwickelte sich der Begriff Physik als Inbegriff der späteren Naturwissenschaften, wenngleich die antiken Denker einen weiten Naturbegriff hatten.

Gegenstandsbereiche antiker Naturphilosophie waren u.  a. Themen der Mathematik, Astronomie und Astrologie, Kosmologie, Physik, Technik, Geographie, Psychologie, Medizin, Botanik und Zoologie.

Chinesische Naturphilosophie

Zur Zeit der Streitenden Reiche wurde in China eine 5-Phasen- bzw. 5-Elemente-Lehre ausgeprägt (wuxing), die mit Wasser, Feuer, Holz, Metall und Erde die Grundbegriffe der chinesischen Kosmologie benennt.[3]

Frühe Neuzeit

Wichtige Naturphilosophen der Renaissance- und Barockzeit sind Copernicus, Giordano Bruno, Johannes Kepler und Isaac Newton.

Klassik und Romantik

In der Klassik und Romantik wird - oftmals im Anschluss an Spinoza - eine spekulative Einheit von Natur und Geist entworfen. Diese Tendenz kennzeichnet die Naturphilosophie u.  a. - in unterschiedlicher jeweiliger Ausrichtung - von Goethe, Schelling und Hegel. Schellings Naturphilosophie stellt den Versuch dar, eine im substantiellen Gesetztsein gründende „positive“ Philosophie zu entwickeln, als Gegensatz zu einer rein „negativen“, im Begriff verharrenden, Transzendentalphilosophie. Für ihn hatte die Naturphilosophie den Stand einer Fundamentallehre.

Kant hingegen hatte sich gegen spinozistische Versuche gestellt, aus der Natur „ein verständiges Wesen zu machen“.[4] Für Johann Gottlieb Fichte galt die Natur sogar als kein eigentlicher Gegenstand der Philosophie.

Die Romantik ist in ihren Naturbegriffen durch zwei Tendenzen gekennzeichnet: zum einen eine Auslagerung der Natur in den Bereich der Ästhetik, zum anderen eine vor-materialistische Aufhebung der Natur im Konzept der Produktivität (vgl. Schellings Konzept einer natura naturans).

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts

Anders als im Deutschen Idealismus erschien im aufkommenden Materialismus mit Karl Marx und Friedrich Engels eine Naturphilosophie für verzichtbar. Die Natur wurde zunehmend in physikalischen und chemischen Kategorien begriffen. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wird v. a. die naturgeschichtliche Komponente der Naturphilosophie in die Evolutionstheorie integriert.

20. Jahrhundert

Zu bedeutenden deutschen Naturphilosophen des 20. Jahrhunderts gehören Georg Picht, Hans Jonas, Lothar Schäfer[5] und Gernot Böhme.[6] Generell wird die Naturphilosophie im 20. Jahrhundert stark durch die Wissenschaftsphilosophie, zuvorderst die Lebensphilosophie bzw. Biophilosophie,[7] die Umweltethik,[8] die Evolutionäre Erkenntnistheorie,[9] teilweise auch durch die Technikphilosophie überformt. Dabei wird der Naturbegriff v. a. um seine gesellschaftliche Relevanz minimiert. Ein disziplinärer Hort der klassischen Naturphilosophie, die sich mit lebenspraktischen Ontologien beschäftigt, ist die Phänomenologie geblieben.

Siehe auch

Literatur

Historische Darstellungen
  • James Cushing: Philosophical Concepts in Physics, Cambridge: CUP 1998.
  • S. Donati / Andreas Speer: Physik und Naturphilosophie, in: Lexikon des Mittelalters, J. B. Metzler 2000, Bd. 6, 2111-2117.
  • Uwe Meixner (Hg.): Schwerpunkt: Geschichte der Naturphilosophie. Mentis, Paderborn 2004, ISBN 3-89785-156-3
  • Roberto Torretti: The Philosophy of Physics, Cambridge: CUP 1999 Historisch aufgebaut
  • Klaus Stein: Naturphilosophie der Frühromantik, Schöningh 2004, ISBN 3-506-71794-4.

→ siehe auch Geschichte der Physik

Systematische Darstellungen
Speziellere Literatur
  • Gernot Böhme und Gregor Schiemann: Phänomenologie der Natur, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-518-28925-X
  • Stefan Heiland: Naturverständnis, Darmstadt: WBG, 1992, ISBN 3-534-80138-5
  • Hans Werner Ingensiep / Richard Hoppe-Sailer (Hgg.): Natur-Stuecke. Zur Kulturgeschichte der Natur. Ostfildern bei Stuttgart, Edition Tertium, 1996/2002, ISBN 3-930717-29-8 Beiträge von H. Baranzke, J. Barkhoff, H. Böhme, A. Eusterschulte, F. Fehrenbach, M. Hoffmann, K. Jax, G. König, P. Matussek u. a.
  • Kristian Köchy: Perspektiven des Organischen, Paderborn: Schöningh 2003.
  • Kristian Köchy, Martin Norwig (Hg.): Umwelt - Handeln. Zum Zusammenhang von Naturphilosophie und Umweltethik, Freiburg: Karl Alber 2006.
  • Günther Witzany: Natur der Sprache - Sprache der Natur, Würzburg: Königshausen & Neumann 1993, ISBN 3-88479-827-8

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Thomas Buchheim, physis, in: Christoph Horn/Christof Rapp (Hgg): Wörterbuch der antiken Philosophie, München 2002, S. 345 ff.
  2. Michael Heidelberger, Gregor Schiemann: Naturphilosophie, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Enzyklopädie Philosophie, Hamburg: Meiner 2000, S. 1129.
  3. Aihe Wang: Yinyang wuxing, in: „Encyclopedia of Religion“, Bd. 14, 9887-9890
  4. KdU, § 68, AA 5, 383; n. Wolfgang Riedel: Die anthropologische Wende: Schillers Modernität, in: Hans Feger (Hg.): Friedrich Schiller. Die Realität des Idealisten, Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2006, ISBN 978-3-8253-5269-1, 157
  5. Lothar Schäfer, Das Bacon-Projekt, Frankfurt am Main 1995.
  6. Gernot Böhme, Natürlich Natur. Frankfurt am Main 1992.
  7. Kristian Köchy, Biophilosophie zur Einführung, Hamburg: Junius 2008.
  8. Konrad Ott: Umweltethik zur Einführung, Hamburg: Junius 2010.
  9. * Gerhard Vollmer: Die Erkenntnis der Natur. Beiträge zur modernen Naturphilosophie. 3. Aufl. Hirzel, Stuttgart 2003, ISBN 3-7776-1249-9

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