- Odradek
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Odradek ist eine abstrakte, metaphorisch deutbare, männliche Gestalt aus Franz Kafkas Kurzgeschichte „Die Sorge des Hausvaters“ und wird zumeist als Frage nach einem Sinn gedeutet. Die Auflösung seines Sinns bleibt dem Leser der Kurzgeschichte vorenthalten.
Inhaltsverzeichnis
Beschreibung
In der Geschichte beschreibt der Protagonist den Odradek als einen hölzern wirkenden, mit verknoteten, bunten Fäden aufgewickelten Zwirnstern, der auf einem seiner Zacken hochkant steht. Als stabilisierendes Bein hat er ein an ein zu dem von der Mitte des Sterns ausgehendes Stäbchen im rechten Winkel angeordnetes zweites.
Er wirkt trotz seiner vom Hausvater als abgebrochen wahrgenommenen äußeren Form zugleich abgeschlossen. Diese Vollendung wird dadurch unterstrichen, dass dieser auch mutmaßt, dass Odradek ihn wohl überleben werde oder gar unsterblich sei. Auch ist er nicht zu fangen, während er flink durch alle Häuser streunt und stets zurückkehrt. Fragt man ihn etwas, gibt er keine oder kurze Antworten und lacht.
Odradek, als Symbiose zwischen menschlichen Eigenschaften und dem Phänotyp eines sinnlosen Gegenstands, scheint somit als eine eigene, nicht einzuordnende, abstrakte Figur.
Deutungstheorien
Die Kurzgeschichte, die die Frage nach dem Sinn des Odradeks auf den Leser wendet, lässt dessen Auflösung so offen, dass man Odradek symbolisch im Sinne des Davidsterns, aus dem das christliche Kreuz entspringt, allegorisch als Frage nach dem Sinn des Lebens oder metaphorisch deuten kann.
Letzteres wird oft angenommen und Odradek als Gefühl, wie die Sorge selbst, oder als Zweifel an einem Sinn interpretiert. Weit verbreitet sind zwei Theorien; jene nach Wilhelm Emrich basierend auf eben jenem Zweifel an dem Sinn und die von Malcolm Pasley, welche versucht biografische Aspekte zu reflektieren, obwohl sich auch dadurch nicht gleich eine eindeutige Interpretation ergibt.
Wilhelm Emrichs Deutung
Wilhelm Emrichs eher in das Universale greifende Theorie basiert auf dem Paradoxon, dass wenn das Sinnlose das Sinnvolle überlebt, das Sinnvolle sinnlos ist. Das erlaubt den Schluss, von einem Vergleich Kafkascher Bilder und Motive ausgehend, der Odradek stelle „das Fazit aller in der Menschen- und Tiergesellschaft sich vollziehenden Bemühungen“ dar, das „Ineinander und Gegeneinander aller menschlichen Lebens- und Denkvorgänge“.
Malcolm Pasleys Deutung
Malcolm Pasley, der hingegen werkchronologisch vorgeht und deshalb die Nähe der Geschichten „Der Jäger Gracchus“ und „Elf Söhne“ hervorhebt, schlussfolgert einen eher privaten als universalen Hintergrund.
Odradek scheine „eine Chiffre für Kafka selbst zu sein“, ein „neues Bild seiner eigenen Existenz aus der Vaterperspektive“, und er meint, auf einer zweiten Interpretationsstufe müsse gefragt werden, was Kafka durch eine solche „Poetisierung seiner Existenzproblematik“ ausdrücken wollte.
Weitere biographische Deutung
Odradeks äußere Erscheinung wird mit Präzision beschrieben. Der Stil erinnert an die Berichte Kafkas, die er während seiner Arbeit in der Arbeiter-Unfallversicherung über technische Zusammenhänge verfasst hat. Diese Präzision der Beschreibung mündet in der Aussage: „ …; das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen“. Diese Feststellung gilt für viele insbesondere bürokratische Systeme.
Sprachliche Deutung
Ein weiterer Deutungsversuch entspringt der sprachlichen Herkunft. Die fragliche Herkunft des Wortes Odradek aus dem Slawischen oder Deutschen nimmt Bezug auf die sprachliche Situation des deutsch-sprachigen Juden in Prag. Aber man kann mit keiner sprachlichen Deutung den Sinn des Wortes finden. Das Wort und das Wesen entziehen sich so dem intellektuellen Zugriff.
Darüber hinaus existiert der Ansatz, dass sich diese Geschichte vom Dichter so gewollt ganz der Interpretation entzieht, ähnlich der nicht zum Ziel führenden Erforschung des Wortes Odradek. In dieser Geschichte scheint Kafka die Vieldeutigkeit, die zahllosen Interpretationsversuche und das jahrhundertelange Überdauern seiner Werke anhand eines skurrilen, kleinen Wesens ausgedrückt und vorweggenommen zu haben.
Bezug zu anderen Wesen aus Kafkas Werk
Das selbstbestimmte, keinen Regeln unterworfenen Odradek weist Gemeinsamkeiten mit anderen „Kafka-Wesen“ auf, beispielsweise mit den springenden Bällchen aus Blumfeld, ein älterer Junggeselle. Auch Eine kleine Frau gehört in diese Kategorie, wenn man ihre funktionslosen Accessoires und ihre bewegliche Puppengestalt betrachtet. Diese Wesen enthalten gewisse Slapstick-Elemente, wobei die Tücke des Objekts, mit denen man im Alltag zu kämpfen hat, ein Thema ist.
Entzifferungsversuch
Das Wort Odradek, über dessen Herkunft der Erzähler rätselt, sie allerdings nicht feststellt, könnte laut Slavoj Žižek, der sich auf den französischen Sprachwissenschaftler Jean-Claude Milner bezieht, ein durch zwei geteiltes Anagramm des griechischen dodekaedron sein: Odradek wäre also die Hälfte eines Dodekaeders.
Siehe auch: KafkaeskLiteratur
- Peter-André Alt: Franz Kafka: Der ewige Sohn. Eine Biographie. München 2005, ISBN 3-406-53441-4.
- Thomas Borgstedt: Neinsager und Räderwerk: Kafkas Rätsel Odradek. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes. 56, Heft 2, 2009, S. 200–218.
- Wilhelm Emrich: Die Sorge des Hausvaters. In: Akzente. 13, 1966, S. 295–303.
- Heinz Hillmann: Das Sorgenkind Odradek. In: Zeitschrift für deutsche Philologie. 86, 1967, S. 197–210.
- Andreas Kilcher: Kafkas Proteus. Verhandlungen mit Odradek. In: Irmgard M. Wirtz (Hrsg.): Kafka verschrieben. Göttingen 2010, S. 95–115.
- Jean-Claude Milner: Odradek, la bobine de scandale. In: Elucidation. 10, Paris 2004, S. 93–96.
- Gerhard Neumann: Die Arbeit im Alchimistengäßchen (1916–1917). In: Hartmut Binder (Hrsg.): Kafka-Handbuch in zwei Bänden. Stuttgart 1979, S. 313–350.
- Malcolm Pasley: Die Sorge des Hausvaters. In: Akzente. 13, 1966, S. 303–309.
- Slavoj Žižek: Die politische Suspension des Ethischen. In: Suhrkamp 2005. ISBN 3-518-12412-9, S. 58, dazu Fußnote 50.
Weblinks
- Das verfitzte Ding Odradek, Feuilleton-Artikel in Die Zeit
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