Pflichtgemäßes Ermessen

Pflichtgemäßes Ermessen

Ermessen ist eine Bezeichnung aus dem Verwaltungsrecht. Ermessen hat eine Behörde dann, wenn ihr, trotz Vorliegen aller tatbestandlichen Voraussetzungen einer Rechtsnorm, „Spielraum für eine eigene Entscheidung“ verbleibt.

Dies kann je nach Fall sowohl die Entscheidung betreffen, überhaupt tätig zu werden (Entschließungsermessen), als auch die Entscheidung, eine von mehreren Handlungsalternativen zu wählen (Auswahlermessen). Im Gesetz wird ein Ermessensspielraum häufig mit der Formulierung „kann“, „darf“, "ist berechtigt" oder "ist befugt" eingeräumt. Diese Auslegung ist jedoch nicht zwingend. Der Gegenbegriff ist die gebundene Entscheidung, bei der das Legalitätsprinzip gilt.

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Inhaltsverzeichnis

Entschließungsermessen

Eine Behörde hat Entschließungsermessen, wenn sie selbst entscheiden kann, ob sie – bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen – überhaupt handelt. Entschließungsermessen gibt es vorrangig im Recht der Gefahrenabwehr, also in Bereichen, in denen das Opportunitätsprinzip gilt. Eine Behörde kann jedoch durch bereits getroffene Entscheidungen bei gleicher Sachlage in ihrem Entschließungsermessen gebunden sein (bis hin zur sog. Ermessensreduzierung auf Null). Weiterhin kann man zwischen dem Begriff des freien Ermessens und dem des pflichtgemäßen Ermessens unterscheiden. Ersteres kommt im deutschen Verwaltungsrecht praktisch nicht vor. Im Fall des sogenannten "intendierten Ermessens" schreibt das Gesetz für den Regelfall eine bestimmte behördliche Reaktion vor und räumt ein Ermessen nur für atypische Fälle ein. Im Gesetz wird diese Form des Ermessens häufig durch die Verwendung des Wortes "soll" eröffnet.

Ein Beispiel für Entschließungsermessen ist, dass die Polizei nicht dazu verpflichtet ist, ein im Halteverbot geparktes Auto abschleppen zu lassen.

Auswahlermessen

Hat die Behörde Auswahlermessen, so kann sie selbst wählen, in welcher Form und gegen wen (so genannte Störer- oder Verantwortlichenauswahl) sie vorgeht - solange dabei die äußeren Grenzen des Ermessens eingehalten werden; dass sie aber überhaupt im Rahmen der gesetzlich eröffneten Handlungsalternativen tätig wird, ist eine Frage des Entschließungsermessens.

Ermessensgrenzen

Grenzen für die Ermessensausübung ergeben sich für Behörden des Bundes aus § 40 VwVfG, für Behörden der Länder aus den gleichlautenden Vorschriften der jeweiligen Landesverwaltungsverfahrensgesetze. Daraus folgt zunächst, dass eine Behörde, sobald ihr Ermessen zusteht, dieses pflichtgemäß ausüben muss. Ist dies nicht der Fall, liegt ein Ermessensfehler vor. Es werden in der Regel nach der sog. Ermessensfehlerlehre folgende Ermessensfehler unterschieden, wobei die Terminologie (Fachsprache) nicht einheitlich ist:

  • Ermessensausfall (oder Ermessensnichtgebrauch) liegt vor, wenn die Behörde das ihr zustehende Ermessen gar nicht ausübt, z. B. weil sie nicht erkennt, dass ihr überhaupt ein Ermessen zusteht.
  • Ermessensfehlgebrauch (oder Ermessensmissbrauch) bedeutet, dass die Behörde den Sinn und Zweck des Gesetzes nicht richtig erkennt und ihre Ermessensentscheidung auf fehlerhafte Überlegungen stützt. Mit anderen Worten: In das Ermessen wurde etwas eingestellt, was so überhaupt nicht eingestellt werden durfte. Diese in der Praxis umfangreichste Fallgruppe beinhaltet u. a. die folgenden Unterfälle des Ermessensfehlgebrauchs:
    • zweck- oder sachfremde Erwägung: Die der Entscheidung zugrundelegten Belange bzw. Erwägungen durften so überhaupt nicht eingestellt werden, da sie keinen Bezug zum Ermessenstatbestand haben oder im konkreten Fall sonst ungeeignet sind (z.B. Rücknahme eines Verwaltungsaktes, weil die betroffene Person angesehen und / oder wirtschaftlich wichtig ist)
    • sonstige logische Fehler: Beim Ermessensvorgang wird gegen die Denkgesetze von Logik und Erfahrung verstoßen (sonstige strukturelle Mängel der Erwägungen)
    • Ermessensfehlgewichtung: Die Bedeutung (Gewichtung) der betroffenen öffentlichen und privaten Belange, die sich aus den ermittelten Tatsachen ergeben, wird im Rahmen der Subsumtion verkannt durch entweder a) eine Überbewertung oder b) eine Unterbewertung bzw. eine gänzliche Nichtberücksichtigung der Tatsachen auf der Ebene der Interessenabwägung (d. h. eine nicht oder nicht ausreichende Berücksichtigung wesentlicher und bekannter Umstände für die Interessengewichtung)
    • Ermessensdisproportionalität: Der Ausgleich zwischen den betroffenen öffentlichen und privaten Belangen wird in einer Weise vorgenommen, die zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht (d. h. die Gewichtung ist zwar vom Ansatz her in Ordnung, aber das Rangverhältnis der Belange wird fehlerhaft in Beziehung zueinander gesetzt bzw. verkannt)
    • Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (insb.: Verstöße gegen die Selbstbindung der Verwaltung infolge ermessensregelnder Verwaltungsvorschriften oder bei vorausgegangener ständiger Praxis)
  • Ermessensüberschreitung ist anzunehmen, wenn sich die Behörde nicht in dem Rahmen hält, der vom Gesetz als äußerste Entscheidungsgrenze vorgegeben wird, d. h. eine Rechtsfolge gewählt wird, die generell oder im Einzelfall unzulässig ist. Dies ist z. B. der Fall, wenn ein Verwaltungsakt eine Nebenbestimmung erhält, die im Gesetz nicht vorgesehen ist.

Wenn ein Ermessensfehler vorliegt, ist die Entscheidung der Behörde somit rechtswidrig. Die Entscheidung kann dann in der Regel mit einem Rechtsbehelf angegriffen werden, z. B. durch Widerspruch gegen einen Verwaltungsakt.

Weitere Begrenzungen des Ermessens können sich aus dem Vorrang und dem Vorbehalt des Gesetzes ergeben.

Vorrang des Gesetzes

Unter der Geltung des Grundgesetzes gibt es kein "freies", sondern nur gebundenes Ermessen, da die Behörde als Teil der Staatsgewalt an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) und an höherrangiges Recht gebunden ist. Behördliches Handeln darf damit niemals gegen das Grundgesetz, Gesetze oder auch Verordnungen verstoßen. Soweit nur der Vorrang des Gesetzes gilt, sind dies die einzigen Grenzen für das behördliche Ermessen. Das behördliche Einschreiten ist dann unabhängig von speziellen Ermächtigungen – eine Behörde kann tätig werden, wenn sie zuständig für den betroffenen Bereich ist.

Oft spielt Ermessen auch zusammen mit den Zwangsgeldern eine Rolle. Beispiele:

  • Ermessensnichtgebrauch: es wird immer ein Einheitsbetrag angesetzt; der Ermessensspielraum wird nicht genutzt
  • Ermessensfehlgebrauch: dem Bürger werden Pflichten auferlegt, die nicht sachdienlich sind
  • Ermessensüberschreitung: das Zwangsgeld wird zu hoch oder zu niedrig angesetzt
  • Ermessensreduktion auf Null: es gibt nur eine Möglichkeit, das eingeräumte Ermessen sachdienlich auszuüben

Vorbehalt des Gesetzes

Engere Grenzen ergeben sich, sobald der Vorbehalt des Gesetzes gilt. Dies ist namentlich der Fall bei Grundrechtseingriffen, grundrechtsrelevanten Akten sowie bei "sonst Wesentlichem". Gilt der Vorbehalt des Gesetzes, darf die Behörde nur tätig werden, wenn ihr eine gesetzliche Grundlage zur Verfügung steht und die Voraussetzungen dieser Norm erfüllt sind. Dabei ist es auch möglich, dass die Behörde sich für eine Handlung auf eine Verordnung stützt, soweit die Verordnung ihrerseits rechtmäßig ist.

Die Ermächtigungsgrundlage kann der Behörde dann eine Entscheidung vorgeben, so dass sie kein Ermessen hat. Sie kann auch Ermessen in atypischen Fällen eröffnen (z. B. bei der Formulierung "soll"), oder das Tätigwerden ganz der Entscheidung einer Behörde überlassen. Dabei ist aber zu beachten, dass das so eingeräumte Ermessen im Einzelfall auch durch betroffene Grundrechte wieder eingeschränkt werden kann (verfassungskonforme Auslegung).

Ermessensreduzierung auf Null

In bestimmten Situationen wird das Ermessen so stark eingeengt, dass nur noch eine Entscheidung richtig (rechtsfehlerfrei) ist. Dann spricht man von Ermessensreduzierung auf Null (oder Ermessensreduktion auf Null).

Liegt eine Ermessensreduzierung auf Null vor, so kann ein Verwaltungsgericht prozessual die Verpflichtung der Behörde, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, eigenhändig umsetzen (sog. Spruchreife).

Ein besonders häufiger Fall der Ermessensreduzierung auf Null ergibt sich aus der Selbstbindung der Verwaltung, die sich aus dem Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG) ergibt. Hat eine Behörde das ihr zustehende Ermessen in rechtlich einwandfreier Weise in einer bestimmten Fallgestaltung ausgeübt, so ist sie grundsätzlich verpflichtet, auch in zukünftigen, gleichgelagerten Fällen das Ermessen in gleicher Weise auszuüben.

Beurteilungsspielraum

Kein Ermessen stellt der sog. Beurteilungsspielraum (missverständlich auch Tatbestandsermessen genannt) dar. Anders als beim Ermessen lässt hier die Rechtsfolgenseite der Norm keinen Handlungsspielraum zu. Hier hat der Gesetzgeber vielmehr bestimmte Tatbestände unbestimmt und weit gehalten, so dass für den Rechtsanwender ein Beurteilungsspielraum bei der Subsumtion eines konkreten Sachverhalts unter den Tatbestand der jeweiligen Norm verbleibt. Die Ausfüllung der unbestimmten Rechtsbegriffe kann im Grundsatz in vollem Umfang gerichtlich überprüft werden, wohingegen die Ermessensausübung nur im Bereich der Ermessensfehler gerichtlich überprüft werden kann.

Siehe auch

Literatur

  • Udo Di Fabio: Die Ermessensreduzierung. Fallgruppen, Systemüberlegungen und Prüfprogramm. In: VerwArch. Bd. 86, 1995, S. 214–234.
  • Thomas Groß: Die deutsche Ermessenslehre im europäischen Kontext. In: Zeitschrift für öffentliches Recht (ZÖR). Bd. 61, 2006, ISSN 0948-4396, S. 625–641.
  • Harald Hofmann, Jürgen Gerke: Allgemeines Verwaltungsrecht mit Bescheidtechnik, Verwaltungsvollstreckung und Rechtsschutz. 9. Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2005, ISBN 3-555-01353-X.
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