Rolf Kühn (Philosoph)

Rolf Kühn (Philosoph)
Rolf Kühn während eines Vortrags in Brüssel anlässlich der Verleihung des Cardinal Mercier Preises am 17. November 2005

Rolf Kühn (* 1944 in Essen) ist ein deutscher Philosoph, der vor allem in den Bereichen der Phänomenologie, der psychologischen und philosophischen Anthropologie und der Religions- und Kulturphilosophie arbeitet.

Er ist in Anschluss an den französischen, 2002 verstorbenen Philosophen Michel Henry der Hauptvertreter der von diesem begründeten radikalen Lebensphänomenologie“ (bzw. „materialen Phänomenologie des Lebens“) im deutschen Sprachraum.

Bekannt ist Kühn auch durch seine Übersetzungen Michel Henrys sowie Maine de Birans.

Inhaltsverzeichnis

Biographie

Rolf Kühn wurde, nachdem er zuvor am Institut catholique de Paris das Lizenziat für Katholische Theologie erworben hatte, 1985 an der Pariser Sorbonne unter seinem philosophischen Lehrer Claude Bruaire mit einer Dissertation über die Philosophin und Mystikerin Simone Weil promoviert. 1991 folgte die philosophische Habilitation zum Begriff der Leiblichkeit bei Michel Henry an der Grund- und Integrativwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, wo er auch als Lehrbeauftragter tätig war. Danach erhielt er Lehraufträge u.a. in Beirut, Nizza, Lissabon und Freiburg.

Seit 1992 hat Kühn drei Hauptwerke und zahlreiche Aufsätze Michel Henrys übersetzt. Hierdurch und durch zahlreiche eigene Veröffentlichungen und Herausgeberschaften zur Henryschen Lebensphänomenologie sowie durch Vorträge und Seminare hat Kühn wesentlich dazu beigetragen, diesen bedeutenden französischen Philosophen der Gegenwart im deutschen Sprachraum bekannt zu machen.

Im Jahr 2006 hat Kühn einen regelmäßig zusammenkommenden Forschungskreis für Lebensphänomenologie gegründet.

Kühn ist Mitglied des Beirats des Mitteleuropäischen Instituts für Philosophie (SIF) in Prag

Rolf Kühn lebt heute als Privatdozent und freier Autor in Gundelfingen bei Freiburg i. Br.

Philosophie

Am Anfang des philosophischen Denkwegs von Rolf Kühn stand die oben erwähnte Auseinandersetzung mit dem Denken Simone Weils. Die von der französischen Denkerin am Ende ihres kurzen Lebens formulierte Aufforderung zwischen Leben und Wahrheit zu wählen[1], forderte Kühn dazu heraus, das Leben zu wählen als jenes ursprüngliche Erscheinende, welches jegliches Für-wahr-Halten in einem radikal-phänomenologischen Sinne erst ermöglicht. Dabei war für ihn die „radikale Lebensphänomenologie“ Michel Henrys derart inspirierend, dass man sicher lange denken konnte, Kühn verstehe sich lediglich als ein Sprachrohr derselben. Doch haben die nach der Jahrhundertwende und dem Tod Henrys im Jahr 2002 sich rasch verändernden Verhältnisse vor allem in den miteinander zusammenhängenden Bereichen der Religion, Ästhetik und politischen Ökonomie in dem Maße ein Weiterschreiben des Henry’schen Ansatzes erfordert, dass im Zuge des Wahrnehmens dieser Aufgabe die philosophische Eigenleistung Kühns immer deutlicher hervorgetreten ist. So hat er nicht nur die Rolle der Mystik und insbesondere Meister Eckharts für die gegenwärtige Philosophie weiter hervorgehoben, sondern auch wichtige Bausteine zu einer kulturkritischen Ästhetik geliefert sowie Folgerungen für die Gegenwart aus der Politik- und Wirtschaftskritik Michel Henrys gezogen. Bei all dem setzt Kühn sich entschieden nicht nur von allen am Wissenschaftswissen orientierten Ansätzen der Philosophie ab, sondern auch von der klassischen Hermeneutik und der so genannten postmodernen Philosophie (bzw. dem Poststrukturalismus oder Dekonstruktivismus), insofern all diese Ansätze von Voraussetzungen ausgehen, welche aber ohne eine vorherige lebendige Selbstgegebenheit eines denkenden, sprechenden oder wahrnehmenden Ichs in einem radikalen Sinne nicht möglich wären.

Als einen (bereits bei Henry schon so verstandenen) radikal-phänomenologischen Denker "avant la lettre" arbeitete Kühn jüngst den gewöhnlich dem französischen Spiritualismus des 19. Jahrhunderts zugeordneten Philosophen Maine de Biran heraus.

Kritik erfährt die Position Kühns vor allem von Phänomenologen wie Bernhard Waldenfels oder (in der sachlichen Auseinandersetzung intensiver) Hans Rainer Sepp, die Kühn bestreiten, dass es angemessen sei, von einer ursprünglichen "Selbstaffektion" (des inkarnierten Lebens) zu sprechen, ohne gleichursprünglich die Bedeutung von "Fremdaffektion" zu bedenken. Auf der Linie dieser Kritik bewegt sich auch die kürzlich von der Theologin Saskia Wendel formulierte Warnung davor, dass Kühns Philosophie des Christentums in der Gefahr stehe, einem theologischen Monismus zu verfallen, der das freie personale Gegenüber von Gott und Mensch im Grunde negiert.

Werke

  • Leiblichkeit als Lebendigkeit. Michel Henrys Lebensphänomenologie absoluter Subjektivität als Affektivität. Freiburg / München: Alber 1992. ISBN 3-495-47738-1.
  • Husserls Begriff der Passivität. Zur Kritik der passiven Synthesis in der genetischen Phänomenologie. Freiburg/München: Alber 1998, ISBN 3-495-47884-1.
  • Mit Stefan Nowotny (Hg.), Michel Henry. Zur Selbsterprobung des Lebens und der Kultur. Freiburg/München: Alber 2002. ISBN 3-495-48087-0.
  • Radikalisierte Phänomenologie. Frankfurt/M: Lang 2003. ISBN 3-631-50390-3.
  • Geburt in Gott.Religion, Metaphysik, Mystik und Phänomenologie. Freiburg/München: Alber 2003, ISBN 3-495-48087-0.
  • Epoché und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion in der Phänomenologie. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, ISBN 3-8260-2589-X.
  • Gabe als Leib in Christentum und Phänomenologie. Würzburg: Echter 2004, ISBN 3-429-02553-2.
  • Innere Gewißheit und lebendiges Selbst. Grundzüge der Lebensphänomenologie. Würzburg: Königshausen&Neumann 2005, ISBN 3-8260-2960-7.
  • Anfang und Vergessen. Phänomenologische Lektüre des deutschen Idealismus. Fichte, Schelling, Hegel. Stuttgart: Kohlhammer 2005. ISBN 3-17-018529-2.
  • Wort und Schweigen. Phänomenologische Untersuchungen zum originären Sprachverständnis. Hildesheim: Olms 2005, ISBN 3-487-12910-8.
  • Pierre Maine de Biran - Ichgefühl und Selbstapperzeption. Ein Vordenker konkreter Transzendentalität in der Phänomenologie. Hildesheim: Olms 2006, ISBN 3-487-13087-4.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Vgl. dazu: Simone Weil, Ecrits de Londres et dernières lettres, Paris 1957, S. 210 f., 213, 255 f. aus dem Jahr 1942/43; vgl. dazu auch: Dies., Lettre aux Cahiers du Sud sur les responsabilités de la littérature vom April 1941 (in: Dies., Œuvres Complètes, tome IV, volume 1 (Écrits de Marseille), Paris, 2008, S. 71, in Bezug auf Henri Bergson: "Au centre de la philosophie (de Bergson) se trouve une notion essentiellement étrangère à toute considération de la valeur, à savoir la notion de vie". (Anmerkung: Wenn das Leben in sich keinen begrifflichen, allgemeinen "Wert" birgt (ein Schlüsselbegriff bei Simone Weil), dann gilt im Umkehrschluss, dass das Leben keine "Wahrheit" impliziert, denn die Wahrheit ist bei ihr der Grundwert aller Axiologie, Erkenntnislehre, Ethik und Religion.

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