Philosophische Anthropologie

Philosophische Anthropologie
Caspar David Friedrich, Der Mönch am Meer (1808–1810). Das Bild thematisiert die Frage nach der Stellung und der Bedeutung des Menschen im Weltganzen.

Die philosophische Anthropologie (griechisch ἀνθρωπολογία anthropología „die Menschenkunde“, von ἄνθρωπος ánthropos „der Mensch“) ist die Disziplin der Philosophie, die sich mit dem Wesen des Menschen befasst. Die moderne philosophische Anthropologie ist eine sehr junge philosophische Fachrichtung, die erst im frühen 20. Jahrhundert als Reaktion auf den Verlust von Weltorientierung entstand:

„Wir sind in der ungefähr zehntausendjährigen Geschichte das erste Zeitalter, in dem sich der Mensch völlig und restlos problematisch geworden ist: in dem er nicht mehr weiß, was er ist; zugleich aber auch weiß, dass er es nicht weiß.“ (Max Scheler)

Inhaltsverzeichnis

Einführung

Die philosophische Anthropologie reflektiert auf den Menschen schlechthin, auf das Wesen des Menschen, also auf das (vorgegebene) „Ewige“ in ihm und an ihm. Sie sieht vom konkreten Menschen ab und zielt auf die Abstraktion und das Universale. Zugleich besteht die Grundsituation der philosophischen Anthropologie darin, dass der Mensch nach dem Menschen fragt. Sie ist also auch immer Selbstreflexion und hat aufgrund der Gegenüberstellung von Innenperspektive des Subjekts und Außenperspektive des Beobachters teilweise auch eine dialektische Fragestellung.

Die philosophische Anthropologie betrachtet den Menschen vom Boden metaphysischer Grundgewissheiten, die selbst nicht ihr Gegenstand sind. Sie behandelt weder Fragen der Erkenntnistheorie, noch das Leib-Seele-Problem, noch Fragen von Freiheit und Determinismus. Sie ist auch nicht unmittelbar normativ, d. h. aus ihr können ethische Aussagen nur unter Hinzuziehung außeranthropologischer Wahrheiten abgeleitet werden, da ansonsten ein naturalistischer Fehlschluss drohen könnte. Andererseits ist die Feststellung, dass der Mensch immer mit Normen lebt, eine anthropologische Tatsache.

Im Mittelpunkt der philosophischen Anthropologie steht die Lebenssituation des Menschen. Dabei werden naturwissenschaftliche, soziologische sowie alle weiteren relevanten einzelwissenschaftlichen Erkenntnisse beachtet und – wo sinnvoll – integriert. Andererseits haben die Erkenntnistheorie ebenso wie die Einzelwissenschaften immer anthropologische Implikationen. Einzelwissenschaften im Umfeld der philosophischen Anthropologie sind die sog. Humanwissenschaften, zu denen insbesondere die Biologie, die Primatologie, die Neurowissenschaften, die Psychologie, die Sprachwissenschaften, die Ethnologie, die Paläontologie, die Soziologie und auch die Geschichtswissenschaften sowie eine Vielzahl von Variationen aus diesen Fächern wie die Soziobiologie oder die Evolutionäre Psychologie gehören. Zu jeder dieser Fachrichtungen gibt es auch eine spezifische Anthropologie wie etwa eine medizinische, eine pädagogische, eine historische oder eine theologische Anthropologie.

Die philosophische Anthropologie wird auch heute noch oftmals mit der kritischen Frage konfrontiert, wieso es bei der Vielzahl dieser humanwissenschaftlichen Fächer auch noch einer philosophischen Anthropologie bedürfe und ob deren Fragestellung nicht durch die anderen philosophischen Disziplinen abgedeckt sei. Obwohl die Fachwissenschaften ein breites Bild vom Menschen entwerfen, geben sie keine integrierende Zusammenschau, insbesondere nicht aus einer ‚übergeordneten‘ Perspektive. Es bleiben eine Reihe von Fragen offen, so etwa:

  • Welche Stellung hat der Mensch im Kosmos?
  • Inwieweit gehört Kultur zur Natur des Menschen?
  • Welche Fähigkeiten und Eigenschaften sind in welchem Maße im Kontext der Lebenswelt entstanden?
  • Ist der Mensch von Natur aus gut?
  • Ist Altruismus eine Frage der (geistigen) Vernunft oder der (materiellen) Evolution?
  • Was bedeutet die Gebundenheit des menschlichen Denkens an die Sprache?
  • Gibt es geschlechtsspezifische Wesensmerkmale?
  • Welche Rolle spielt die Selbstverwirklichung in der Arbeit für den Menschen?
  • Sind Kreativität und Phantasie Wesensbestimmungen des Menschen?
  • Was bedeutet das menschliche Streben nach Wissen und Verstehen?
  • Gibt es für den Menschen einen Sinn des Lebens?
  • Ist der Mensch zur Freiheit fähig bzw. ‚verurteilt‘?
  • Sind aus Aggressivität des Menschen entstehende Kriege und Gewalt prinzipiell überwindbar?
  • Kann man aufgrund der Individualität eines jeden Menschen überhaupt allgemeingültige Wesensaussagen machen?

Jeder Mensch entwickelt ganz in Abhängigkeit von seiner persönlichen Biographie und Lebenswelt ein eigenes Bild vom Menschen. Aufgabe der philosophischen Anthropologie ist es nun, die Erkenntnisse der Einzelwissenschaften und philosophischen Disziplinen so zusammenzuführen, dass Antworten auf diese Art von Grundfragen systematisch und auf einem gesicherten Niveau als Orientierung gegeben werden können. Insbesondere ist aufzuzeigen, wo bestehende Menschenbilder metaphysische Antworten bzw. Prämissen enthalten. Andererseits kann die philosophische Anthropologie nur einen Teil der philosophischen Fragen beantworten, da sich Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Ethik oder Ästhetik in ihrem Grundanliegen nicht mit dem selbstreflektierenden Verhältnis des Menschen zu seiner Lebenswelt befassen. Aus dem Zusammenspiel mit den Ergebnissen der Einzelwissenschaften ergibt sich, dass die philosophische Anthropologie zwar zeitlose Geltung hat, d. h. grundsätzliche Erkenntnis über den Menschen befördern kann, jedoch diese im Allgemeinen auch die aktuelle Gegebenheit der Reflexion widerspiegeln.

Klassische Auffassungen über den Menschen

Hildegard von Bingen, Liber Divinorum Operum (13. Jh.). Der Mensch im Mittelalter ist als Mikrokosmos Spiegel des Makrokosmos – und zugleich Ebenbild Gottes.

In der Antike war die Rolle des Menschen durch seine Stellung im Kosmos als von den Göttern geschaffen und durch den Geist mit diesen verwandt bestimmt. Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Dieser Ausspruch des Protagoras (bei Platon im Theaitetos) kennzeichnet die Haltung der Sophisten in der Antike, deren Lehren antimetaphysisch waren, und die klar zwischen Natur und Kultur unterschieden.

Dagegen ist es nach Platon für den Menschen wesentlich bzw. wesensbestimmend, dass er dank seiner unsterblichen Seele nicht nach den irdischen Gütern, sondern nach dem Einen, dem Göttlichen strebt oder mindestens streben sollte. Die Seele ist im Körper nur gefangen. Der Leib und die Triebe sind nachrangig und werden vom Geist gelenkt. Über den Neuplatonismus der Patristik gelangt dieses Menschenbild in das Christentum und beeinflusst damit stark die Auffassungen des Abendlandes.

Aristoteles sah hingegen den Menschen auch als Teil der Natur. Körper und Seele bilden eine organische Einheit. Es gibt eine Parallelität zwischen der Natur und dem Seelenleben. Die Triebe entsprechen dem Pflanzlichen, die Sinnlichkeit dem Tierischen und das Denken dem Göttlichen. Der Mensch ist das sittliche Wesen, das aus Vernunft nach der Verwirklichung der Tugend strebt. Als vernunftbegabtes Wesen (zõon lógon échon) und als soziales Wesen (zõon politikón) verwirklicht sich der Mensch durch seine Lebenspraxis.

In der Spätantike seit Paulus von Tarsus und in der Patristik, besonders durch Augustinus, verband sich das antike Denken mit dem christlich jüdischen Menschenbild als Ebenbild Gottes. Die Menschen sind von Gott mit Leib und Seele (griechisch: Psyche, hebräisch: Neschome, Ruach) geschaffen. Die Wahrheit liegt im Inneren des Menschen. Der Mensch ist nun der Gefallene, mit der Erbsünde belastete Mensch, der sich nicht allein und durch seine Vernunft zum Glück verhelfen kann, sondern der die Gnade bzw. Vergebung Gottes benötigt, um dem Schicksal des Fegefeuers bzw. der Hölle zu entrinnen. Entsprechend war die Frage des Mittelalters, wie der Mensch sich in der von Gott geschaffenen Ordnung stellt.

Nach Thomas von Aquin ist (ähnlich wie für Aristoteles) die geistige Seele bzw. der Geist als Entelechie eine intelligible Substanz, in der die geistigen und seelischen Fähigkeiten des Menschen grundgelegt sind. Die Seele ist vom Körper zu Lebzeiten nur begrifflich zu trennen, existiert wegen ihrer Unsterblichkeit aber nach dem Tod des Menschen auch getrennt weiter. Der Leib ist Werkzeug der geistigen Seele, speziell der Vernunft. Der Mensch hat die natürlichen Neigungen, sein Leben zu erhalten, seine Art durch Nachkommen zu erhalten und eine Neigung, aus Vernunft das Gute zu tun.

Albrecht Dürer, Selbstbildnis (1500). Ein Mensch in der Pose Christi, des Erlösers, eines Gottes.

Mit der kopernikanischen Wende verschob sich das Selbstbild des Menschen. Er stand nun nicht mehr im Zentrum, sondern war alleingelassen im weiten Raum und mit der Unendlichkeit konfrontiert, die ihn ängstigte (Pascal). Die Physik wurde zur Methode der Erklärung der Welt (Kepler, Galilei). Es entstand eine naturalistische Auffassung vom Menschen (Hobbes’ Kampf aller gegen alle). Gleichzeitig konnte der Gegensatz von Leib und Seele nicht aufgelöst werden. Dies führte zu Descartes’ Dualismus: Der Mensch ist körperlich (res extensa) und verfügt zugleich über eine Seele (res cogitans). Die Erklärung des Menschen wurde zu der Frage nach seiner Erkenntnisfähigkeit. Als Ebenbild Gottes bleibt er aber immer noch im Zentrum des Denkens.

Die von Descartes angestoßene Bewusstseinsphilosophie fand unterschiedliche Antworten bei den Empiristen und bei den Rationalisten. Beiden gemeinsam ist, dass sie psychologische Antworten gaben. Locke und Hume begründeten den Sensualismus. Die Empiristen gingen grundsätzlich vom Egoismus des Menschen aus. Auch das Sozialverhalten erfolgt nach dem Prinzip, dass Näherliegendes vorgezogen wird. Leibniz unterteilte das Bewusstsein in bewusste Wahrnehmungen (apperceptiones), einfache Wahrnehmungen (perceptiones), unbewusste Wahrnehmungen (petit perceptiones) und unterbewusste Strebungen (appetitiones). Christian Wolff unterschied zwischen empirischer und theoretischer Psychologie und legte damit den Grundstein für den durch Jakob Friedrich Fries und Johann Friedrich Herbart begründeten Psychologismus im 19. Jahrhundert. Der Bewusstseinsphilosophie seit Descartes ist allerdings gemeinsam, dass sie Anthropologie als eigenständiges Thema noch nicht verfolgte.

Historische Anfänge der Anthropologie

Der Begriff der Anthropologie wird erstmals von Magnus Hundt in der Schrift Anthropologicum de hominis dignitate, natura et proprietatibus (Leipzig 1501) gebraucht. Ein weiterer früher Nachweis ist die Psychologia anthropologica des Otto Casmann, eines Rektors in Stade, aus dem Jahre 1596.

Während Johann Friedrich Blumenbach (1752 – 1840) die naturwissenschaftliche Anthropologie begründete, gilt Immanuel Kant als der Urvater der philosophischen Anthropologie mit der erstmals 1772 gehaltenen Vorlesung über „Verschiedene Racen des Menschen“. Kant unterschied die Anthropologie in physiologische und pragmatische Anthropologie. Während die erste Thema der Naturwissenschaft sei, behandelt die zweite das philosophische Thema der Freiheit und was der Mensch aus ihr macht. Der Mensch sei zwar auch Tier, aber durch die Vernunft charakterisiert und bestimmt, sich in der Gesellschaft zu kultivieren und zu moralisieren. Er ist für Kant autonom und damit in der Lage, seinen tierischen Hang zur Trägheit zu überwinden. Dabei gilt:

„Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.“ (Kant, Über Pädagogik).

Einen wesentlichen Anstoß hat auch Herder gegeben, von dem die Auffassung über das Mängelwesen Mensch stammt und der insbesondere die Sprache als besonderen Wesenszug des Menschen in den Mittelpunkt rückte.[1] Schon als Tier hat der Mensch die Sprache der Empfindungen. Der Mensch kann aber zusätzlich die Welt mit Reflexion betrachten. Durch die Unterscheidung der Dinge mit Hilfe seiner Sinne kann er sie bezeichnen. Indem er sie bezeichnet, denke er über sie nach und entwickele Verstand.

„Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung, er steht aufrecht. Die Waage des Guten und des Bösen, des Falschen und Wahren hängt an ihm; er kann forschen, er soll wählen.“

Hegel hingegen stand der Anthropologie kritisch gegenüber, der er vorhielt, sich nur mit dem Möglichen des Menschen zu befassen, während die Geschichte das Wirkliche des Menschen betrachte.

Grundlegung der Anthropologie durch Kant

In der Vorrede seiner Anthropologie (1798) unterschied Immanuel Kant die physiologische Anthropologie, die auf die Erforschung dessen geht, was die Natur aus dem Menschen macht, von der pragmatischen Anthropologie, die das untersucht, „was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll.“ Deshalb wird auf ihn die noch heute nachwirkende strikte Trennung zwischen physiologischer und pragmatischer Anthropologie zurückgeführt, doch ist dies ungenau.

Die physiologische Anthropologie ist die (biologische) Naturlehre des Menschen. Diesen Teil der Menschenkunde klammert Kant bis auf gelegentliche Querverweise als für seine Absichten unergiebig aus. Da der Mensch „die Gehirnnerven und Fasern nicht kennt, noch sich auf die Handhabung derselben zu seiner Absicht versteht“, bleibt er in diesem Spiel seiner Vorstellungen nur Zuschauer und das spekulative Nachgrübeln über die Naturursachen der Empfindungen und Erinnerungen ist unergiebig (Vorrede zur Anthropologie, 1798/1983, BA III).

Kants Anthropologie enthält eine auf 300 Seiten breit angelegte Menschenkunde, unter anderem mit Themen der Allgemeinen Psychologie (im heutigen Sinn), Charakterkunde, Sozialpsychologie, Psychopathologie, Gesundheitspsychologie und auch Anfänge anderer psychologischer Teildisziplinen. Er verbindet diese Themen mit der philosophischen Bestimmung des Menschen als vernünftiges und moralisches Wesen. Im letzten Kapitel, über den Charakter der Gattung, fasst Kant sein allgemeines Menschenbild zusammen: „Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein, und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaft zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren; wie groß auch sein tierischer Hang sein mag, sich den Anreizen der Gemächlichkeit und des Wohllebens, die er Glückseligkeit nennt, passiv zu überlassen, sondern vielmehr tätig, im Kampf mit den Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit seiner Natur anhängen, sich der Menschheit würdig zu machen“. (1798/1983, A 321) Kant fragt, wie nun die pragmatische Menschenkunde und Pädagogik fortschreiten müssen, um die sittlichen Anlagen so zu entwickeln, dass sie nicht mehr im Widerstreit zur Natur der Menschen stehen.

Kants oft zitierte Definition der Anthropologie steht nicht in den Vorlesungen zur Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), sondern in der Logik:

Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung lässt sich auf folgende Fragen bringen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? 4. Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion, und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen. Der Philosoph muß also bestimmen können: 1. die Quellen des menschlichen Wissens, 2. den Umfang des möglichen und nützlichen Gebrauchs alles Wissens, und endlich 3. die Grenzen der Vernunft.

Kant 1800/1983, A 25–26

Separat steht außerdem Kants vielzitierte Schrift Was ist Aufklärung? (1784/1983), von deren Absicht zweifellos auch die pragmatische Anthropologie bestimmt ist.

Kants Anthropologie ist zunächst auf innere Erfahrung gegründet. Er entwickelt jedoch eine Beobachtungslehre, denn die Anthropologie gewinnt Regeln für die „mannigfaltigen Erfahrungen, die wir an dem Menschen bemerken.“ Seine Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ist nach heutigem Fachverständnis weitgehend ein Lehrbuch der empirischen Psychologie. Alle diese Erkenntnisse sollen jedoch durch die Philosophie geordnet und geleitet werden. Mit der konsequenten Unterscheidung zwischen rationaler (metaphysischer) und empirischer Psychologie hat Kant das Gebiet und die Methodik der Psychologie neu bestimmt. Sie ist nicht mehr Teil der Metaphysik, in der sie früher als Seelenlehre meist abgehandelt wurde. Sie bildet jetzt den Hauptinhalt der auf Erfahrung beruhenden Anthropologie, und erhält eine wichtige pragmatische Wende, denn sie öffnet den Zugang zu dem, was der Mensch moralisch und aufklärerisch, pädagogisch, gesundheitspsychologisch usw. aus sich macht. Die Psychologie ist zwar „nur“ empirische Wissenschaft und kann grundsätzlich nicht zu eindeutigen, sicheren, mathematisch formulierten Gesetzmäßigkeiten nach dem Vorbild der exakten Naturwissenschaften gelangen. Auch ohne diesen Rang gibt es nützliches Wissen, wobei Kants praktische Absichten viel deutlicher waren als bei den meisten „Psychologen“ des folgenden Jahrhunderts.[2]

Wenn Kant wegen seiner zugleich empirischen und methodenkritischen Ausrichtung der Anthropologie/Psychologie als bedeutendster Psychologe vor Wilhelm Wundt anzusehen ist, könnte hierin auch der Grund für die zwiespältige Rezeption von Kants Anthropologie in beiden Disziplinen liegen. Viele Autoren der Philosophischen Anthropologie zeigen noch heute eine eigentümliche Distanz. Andererseits hatte bereits Carl Gustav Carus in herausragender Weise Kants Anthropologie gewürdigt, und in der Folgezeit erschienen einige Bücher, die Kants Programm nahe standen, unter anderem von Gottlob Ernst Schulze und Jakob Friedrich Fries über Psychische Anthropologie. Sie grenzten sich ebenfalls von der spekulativen Seelenlehre ab und traten mit neuem Methodenanspruch und mit konkreten Anwendungsempfehlungen hervor (siehe auch Friedrich Eduard Beneke und Rudolf Hermann Lotze.[3] In der Philosophie hatte Kants Anthropologie jedoch eine erstaunlich geringe Wirkung, und das von Kant entwickelte Programm wurde in der Folgezeit nicht nachhaltig aufgenommen, weder in der Philosophie noch in der Psychologie. In der Psychologie scheint die grundlegende pragmatische Anthropologie weitgehend vergessen zu sein. Es bleibt Spekulation, ob ein Titel „Lehrbuch der empirischen Psychologie“ mehr Wirkung ermöglicht hätte. Für Kant war, seiner Vorrede zufolge, diese „auf Weltkenntnis abzweckende Vorlesung“ zwar interessant, aber im Vergleich zur „reinen Philosophie“ zweitrangig. Im gesamten Fach Philosophie kam es in der Folgezeit nicht zu einer ähnlich weit gefassten Konzeption.

Vorläufer der modernen philosophischen Anthropologie

William Blake, Nebukadnezar (1795). Der Mensch als Tier, hier interpretiert als Strafe Gottes.

Wilhelm Wundt, Physiologe, Philosoph und schließlich Psychologe, war der wichtigste Gründervater der Disziplin Psychologie. Er entwickelte vor dem Hintergrund seines ausgedehnten philosophischen Werks eine umfassende Sicht des Menschen, fundiert durch die von ihm geprägte experimentelle Physiologische Psychologie und durch sein Verständnis der Psychologie als empirische Geisteswissenschaft. Diese reicht von der Sprachpsychologie bis zur Völkerpsychologie (für die er auch den Begriff psychische Anthropologie erwogen hatte). Der breite humanwissenschaftliche Horizont regte Wundt zu bis heute wichtigen epistemologischen und methodologischen Klärungen an. Wundt verband einen Methodologischen Dualismus (Psychologie gegenüber Physiologie) mit einem Methoden-Pluralismus (innerhalb der Psychologie) und einem perspektivischen Monismus (ein Lebensprozess unter verschiedenen Perspektiven). Aus dieser philosophischen und zugleich interdisziplinären Sicht widersprach Wundt der beginnenden Trennung der Psychologie von der Philosophie.[4]

Eine Revolution der Anthropologie bedeutete der Darwinismus. Im Zuge der von Darwin entwickelten Evolutionstheorie setzte sich die Einsicht durch, dass der Mensch nach demselben allgemeinen Modell 'gebaut' ist wie alle anderen Wirbeltiere. Man fand Argumente und Belege, dass der Mensch aus derselben Evolutionslinie wie der Gorilla und Schimpanse stammt. Somit hielt man es mehrheitlich für widerlegt, dass der Mensch das Ergebnis eines besonderen göttlichen Schöpfungsaktes ist

Gleichzeitig setzte mit Friedrich Nietzsche (angeregt durch Ludwig Feuerbachs Materialismus und Schopenhauers Lehre vom Vorrang des menschlichen Willens) eine Kritik der alten Definition des Menschen als vernünftigem Lebewesen ein. Für Nietzsche lässt sich das Leben nur ästhetisch rechtfertigen: „Wir haben umgelernt. Wir sind in allen Stücken bescheidner geworden. Wir leiten den Menschen nicht mehr vom ‚Geist’, von der ‚Gottheit’ ab. Wir haben ihn unter die Thiere zurückgestellt.“[5]

Ein erster Ansatz zur Verarbeitung der so neu entstandenen Selbsterklärung des Menschen ist bei Kierkegaard der in seiner Existenz auf sich selbst angewiesene Mensch. Zur weiteren Desillusionierung trug die Psychoanalyse Sigmund Freuds bei, welche den Menschen von unbewussten Lust- und Todestrieben bestimmt sieht. Weniger Beachtung fand der kulturanthropologische Ansatz von Adolf Bastian mit seiner Lehre vom Menschen in ethnischer Anthropologie.

Verarbeitungen finden sich auch in der Lebensphilosophie, die sich als selbständige philosophische Disziplin am Ende des 19. Jahrhunderts etablierte. Neben Wilhelm Dilthey sind Georg Simmel, Ludwig Klages und auch Otto Friedrich Bollnow zu nennen. Auf diesem Fundament entstanden die spezifischen Ansätze der Philosophischen Anthropologie.

Begründung der neueren Philosophischen Anthropologie

Die moderne Philosophische Anthropologie im eigentlichen Sinne ist in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden.[6] Die geschichtliche Situierung dieser Ansätze als Versuche, ein einheitliches Menschenbild zu beschreiben, ist nicht zufällig. Deren Entstehung ist nur durch das Aufkommen des Zentralthemas ‚Der Mensch’ in der von der theologischen Bindung emanzipierten Wissenschaft der Neuzeit zu erklären. Solange die Metaphysik die beherrschende Disziplin war, konnten die empirischen Wissenschaften keinen Eingang in eine philosophische Methode finden. Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstarkte Tendenz, durch wissenschaftliche Vereinheitlichung und Systematisierung den Menschen umfassend begrifflich bestimmen zu wollen und die einhergehende Suche nach einer rationalen Begründung für dessen Sonderstellung machten es erst möglich, dass die philosophische Anthropologie als solche zu einem eigenständigen und viel beachteten Bereich in der Philosophie werden konnte.

Die philosophische Anthropologie ist im Wesentlichen durch die Arbeiten von Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen geprägt. Eine frühe Arbeit stammt von Paul Alsberg (Das Menschheitsrätsel, 1922). Lange Zeit dominierten in der Rezeption die Ansätze von Scheler und vor allem von Gehlen, während Plessner marginalisiert wurde. Die Bedeutung von Scheler und Gehlen ist allerdings zurückgegangen. Stattdessen ist in den letzten Jahren eine regelrechte Plessner-Renaissance zu verzeichnen.

Neben den drei Protagonisten der philosophischen Anthropologie kann man in einem weiter gefassten Verständnis auch andere philosophische Ansätze dieser Disziplin hinzurechnen.

Programmatik Max Schelers

Die Schrift von Max Scheler Die Stellung des Menschen im Kosmos aus dem Jahr 1928, ursprünglich ein Jahr zuvor als Vortrag gehalten, gilt als Gründungsdokument der modernen Philosophischen Anthropologie. Schon die früheren Arbeiten zeigen seinen Weg dorthin:

  • Zur Idee des Menschen, 1915
  • Vom Umsturz der Werte, 1915
  • Vom Ewigen im Menschen, 1923

Quasi als Leitsatz schrieb er 1915:

„In einem gewissen Verstande lassen sich alle zentralen Probleme der Philosophie auf die Frage zurückführen, was der Mensch sei und welche metaphysische Stelle und Lage er innerhalb des Seins, der Welt und Gott einnehme.“
„Der Mensch nur ein Wurm“, karikaturistische Kritik am materialistischen Reduktionismus der Evolutionstheorie (1882).

Die von Scheler entwickelte Anthropologie war dabei noch metaphysisch bestimmt. In Anlehnung an Husserl war sein Philosophieren eine erweiterte Anwendung der phänomenologischen Methode auf die Gebiete der Ethik, der Kulturphilosophie und der Religionsphilosophie. Für Scheler war der Mensch einerseits durch seine Triebe bestimmt, andererseits selbst- und mitverantwortlich für sein Handeln in der Welt. Die von Aristoteles überlieferte und von der klassischen Philosophie vertretene humanistische Auffassung des Menschen als ein vernünftiges Lebewesen, als ein animal rationale ersetzte er durch ein diesseitiges Menschenbild. Allerdings hielt er die Lehre von Charles Darwin für einen Irrtum, bestenfalls eine unbewiesene Hypothese. Es führe „kein noch so enger Steg und Weg vom 'homo naturalis' und seiner hypothetisch konstruierten Vorgeschichte zum 'Menschen' der Geschichte“, (in: Scheler, Vom Umsturz I,275). Stattdessen entwickelte er eine Stufenleiter des Lebendigen, in der die Pflanze noch ganz bewusstlos reiner Gefühlsdrang ist, während das Tier zwar auch psychische Leistungen hat, jedoch nur instinkthaft, die beim Menschen dagegen stärker, ja wesensmäßig höherstehend ausgeprägt sind. Der Mensch hat eine Sonderstellung, indem er Geist hat. Scheler zufolge ist der Mensch nicht „umweltgebunden“. Er kann sich unbegrenzt weltoffen verhalten. Insofern hat er keine Umwelt, sondern Welt. Die Besonderheit des Geistes befähigt den Menschen zur Vergegenständlichung seiner Welt als Ganzes und seiner selbst. Hierdurch kann er Geschichte gestalten, Kultur schaffen und sein Handeln nach Normen und Werten ausrichten.

Als biologische Erscheinung, als Lebewesen sei der Mensch ein „erblich krankes Tier“, das sich „in einer Sackgasse verlaufen“ hat, ein „Übergang“, ein „faux pas“, im Grunde eine bloße Verlegenheit der Natur. Insofern ist diese Annäherung an den Menschen von der Natur aus abzulehnen. Der Versuch einer natürlichen Erklärung des Menschen führt immer wieder zur Wiederholung des großen Irrtums der europäischen Geistesgeschichte: zum Humanismus. Das wahre Wesen des Menschen liegt jenseits seiner biologischen und sozialen, auch vernünftigen Funktionen: der Verstand ist biologisch gesehen eine Krankheit. Das wahre Wesen des Menschen sei seine geistige Personalität, die darin gründet, dass der Mensch transzendiert, ja selbst eine Gestalt der Transzendenz ist. Als geistige Person ist der Mensch nicht „Teil der Welt“, der objektiven Realität, sondern der idealen Wirklichkeit. Um sich als geistige Person zu konstituieren, muss er die Wirklichkeit „entwirklichen“, von dem, was „ist“, abstrahieren, es als nicht existierend denken. Mit anderen Worten: Der Mensch als Wesen, „das Gott sucht“, als „Gottsuchender“ bzw. „Gottsucher“ und als „lebendiges x“. Nicht Gott ist, so dekretiert Scheler gegen die wissenschaftliche, auf Ludwig Feuerbach zurückgehende Religionskritik, eine anthromorphe Erfindung, sondern umgekehrt: der Mensch ist theomorph.

Der gesamten philosophischen Anthropologie ist als Grundzug die Abkehr von der humanistischen Menschenauffassung der klassischen Philosophie eigen. Eine ahumane und apologetische Tendenz durchzieht diese Disziplin von ihren Anfängen bis zu ihren gegenwärtigen Ausgestaltungen. Scheler schrieb:

„Wer sehe nicht, daß hinter der scheinbar so harmlosen Gleichheitsforderung stets und immer, um welche Gleichheit es sich auch handle – nur der Wunsch auf die Erniedrigung der Höherstehenden, Mehrwertbesitzenden auf das Niveau der Niedrigstehenden verbirgt“ (in: Umsturz S. 193).

Helmuth Plessners Theorie der exzentrischen Positionalität

Ein weiterer Schüler Husserls war Helmuth Plessner, der einen zoologisch fundierten Ansatz verfolgte. In dem zeitgleich zu Schelers Schrift im Jahr 1928 erschienenen Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch bestimmte Plessner den Menschen als exzentrisches Wesen. Während das Tier an seine unmittelbare Umwelt gebunden ist, kann der Mensch gleichsam aus sich heraustreten und die Perspektive eines Beobachters seiner selbst einnehmen. Er nimmt eine exzentrische Position ein. Im Gegensatz zu Scheler waren für ihn Körper und Geist eine Einheit. Ich bin Leib und habe einen Körper. Der Mensch ist weltoffen und hat einen Drang nach Erfahrung, habe aber keine feste Identität. Sein Wesen sei unbestimmbar, er sei ins Nichts gestellt und müsse zu sich selber Stellung beziehen. Er ist nach Plessner gesetzt durch seine Körperlichkeit und muss sich selber setzen im Verhältnis zu dem Anderen.

Plessner lehnte eine teleologische Deutung der Evolution ab. Für ihn gab es drei anthropologische Grundgesetze. Das erste besteht in der vermittelten Unmittelbarkeit, was bedeutet, dass der Mensch seine Umwelt bloß vermittelt – entfremdet, durch kulturelle Medien, durch Sprache – erfassen kann. Zum zweiten die natürliche Künstlichkeit, d. h. es liegt in der ‚Natur‘ des Menschen ‚Künstlichkeiten‘ hervorzubringen, die ihm dann objektiv entgegentreten und so auf ihn zurückwirken. Kultur ist der Umweg über diese künstlichen Dinge. Drittens der utopische Standort, den der Mensch einnimmt, wenn er mit der Frage nach dem Sein, der kontingenten Welt konfrontiert wird. Die Lösung dieses Problems sucht der Mensch in der Transzendenz der Religion.

In Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus greift Plessner 1924 den von Ferdinand Tönnies eingeführten Widerspruch zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft auf und bezieht für eine Kultur des Gesellschaftlichen Stellung. Hierfür macht er vor allem seine anthropologischen Auffassungen geltend und versucht zu zeigen, dass erst die gesellschaftliche Lebensform dem Menschen die Möglichkeit gebe, sich entsprechend seiner Eigenarten ganz zu entfalten. Damit bekommt seine Anthropologie eine gesellschaftspolitische Dimension, die von aktuellem Interesse ist.[7] Bekannt wurde Plessner auch mit der Arbeit Lachen und Weinen (1941), in der er das Verhalten von Menschen in Extremsituationen untersucht.

Arnold Gehlens Mängelwesen

Arnold Gehlens Hauptwerk Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt erschien 1940. Er strebte eine empirisch fundierte Philosophie an, mit dem Anspruch, die wissenschaftsorganisatorische Teilung in Natur- und Geisteswissenschaften aufzuheben und die verschiedenen ausdifferenzierten Betrachtungsweisen zu einer Gesamttheorie des Menschen zusammenzuführen. Eine Erklärung des Wesens des Menschen aus einer ausschließlich biologischen Betrachtung lehnte er ab.

Gehlen will den Menschen aus sich selbst begreifen. Zu diesem Zweck setzt er den Begriff der Handlung in das Zentrum seines Ansatzes. Er stellt die Hypothese auf, dass der Mensch als ein handelndes Wesen aufzufassen sei. Gehlen bestimmt den Menschen, unter Hinzuziehung der Arbeiten Herders und Nietzsches, als „Sonderentwurf“ der Natur, als ein einzigartiges „Mängelwesen“. Dem Menschen fehlen sowohl spezialisierte Organe als auch eine spezifische Umwelt. Aufgrund seines „Nichtfestgestelltseins“, seines „Unfertigseins“ ist der Mensch gezwungen zu handeln, nicht aus Luxus, sondern aus der Lebensnotwendigkeit heraus. Gehlen setzt den Ansatz der „Weltoffenheit“ von Scheler fort. Allerdings sieht er den Grund für die Weltoffenheit, die den Menschen vom Tier unterscheidet, in der „mangelhaften“ Morphologie des Menschen und nicht wie Scheler in der Besonderheit des Geistes. Der Mensch ist weltoffen, da er keinem konkreten Umweltausschnitt in Bezug auf seine Organbeschaffenheit angepasst ist. Er hat keinen klar definierbaren, abgrenzbaren Lebensraum wie ein Tier. Ganz im Gegenteil: Er ist potentiell überall lebensfähig, vorausgesetzt, er wandelt seine Umwelt in eine lebensdienliche Welt um.

Die menschliche Gattung sichert ihr Überleben, indem sie Kultur und Institutionen schafft. So erreicht der Mensch eine „Entlastung“ von seinen biologischen Mängeln. Durch Kultur (wie Sprache, Technik und Kunst) ist der Mensch in der Lage, seine Mängel zu kompensieren. Mittels dauerhafter gesellschaftlicher Institutionen, wie Moral- und Rechtsnormen, erreicht er eine Stabilisierung und Kontrolle der Lebensführung. Kultur und Institutionen haben die Funktion von „Führungssystemen“ individueller und gesellschaftlicher Strukturen.

Ernst Cassirers animal symbolicum

Wohl weil die maßgebliche Arbeit in der Emigration entstand, ist der Ansatz Cassirers in der Diskussion der philosophischen Anthropologie kaum zu finden. Cassirers Konzept entwickelte sich systematisch aus seiner Erkenntnistheorie und der zunächst als Kulturphilosophie ausgelegten Philosophie der symbolischen Formen. Als philosophische Anthropologie formulierte er sein Konzept im Versuch über den Menschen (engl. 1944). Vorläufer für diesen Ansatz findet man hinsichtlich des Symbols in der Identitätstheorie mit dem Schlüsselbegriff eines signifikanten Symbols von George Herbert Mead und in der Theorie der kulturellen Symbolisierung von Alfred North Whitehead, die beide bei Cassirer allerdings nicht zitiert werden, der sich vielmehr auf Hermann von Helmholtz und Heinrich Hertz bezieht. In Bezug auf den sprachlichen Aspekt bilden Wilhelm von Humboldt und Herder den Ausgangspunkt.

Nach den Entwicklungen in der Psychologie, der Biologie und der Evolutionstheorie bedurfte es zur Beantwortung der Frage, was der Mensch sei, eines neuen Schlüssels. Diesen sah Cassirer in der Bedeutungstheorie der symbolischen Formen. Erkenntnis findet nicht nur begrifflich in der Sprache statt, sondern auch durch Mythen, in der Religion und in der Kunst. Auch Geschichte, Wissenschaft, Technik und Politik haben ihre eigenen symbolischen Formen.

Jeder Organismus besitzt nach Jakob Johann von Uexküll entsprechend seiner anatomischen Struktur jeweils ein Merknetz und ein Wirknetz. Komplexere Tiere wie auch der Mensch haben – entsprechend den Ergebnissen der Gestaltpsychologie – ein kompliziertes gesamthaftes Wahrnehmungssystem. Tiere haben in Bezug auf ihre Wahrnehmungen üblicherweise ein festes Reiz – Reaktionsschema. Bevor der Mensch handelt, verarbeitet er das Wahrgenommene hingegen im Denken zu Symbolen, die quasi als vermitteltes Symbolnetz zwischen Merken und Wirken (Handeln) stehen. Bis auf wenige, gering entwickelte Ausnahmen verarbeiten Tiere ihre Wahrnehmungen als reine Zeichen und können sich auch nur zeichenhaft ausdrücken (Ruf des Eichelhähers). Sie bewegen sich gleichsam auf der Ebene der emotionalen Sprache ohne syntaktische oder logische Strukturen. Sie drücken etwas aus, können aber nichts darstellen. Indem der Mensch in der Lage ist, Aussagen mit Sinngehalt zu machen, also etwa propositionale Sätze zu formulieren, unterscheidet er sich vom Tier. Indem das Zeichen eine Bedeutung erhält, wird es zum Symbol. Erst aufgrund des symbolischen Denkens kann der Mensch die abstrakte Bedeutung von Beziehungen verstehen.

Raum und Zeit als organische Sphäre hat der Mensch mit dem Tier gemeinsam. Der Mensch hat darüber hinaus aber auch die Fähigkeit, gedanklich einen abstrakten Raum zu bilden. Wie schwierig das ist, zeigt die Beschreibung des Demokrit, der diesen abstrakten Raum ein Nichtsein mit wahrer Wirklichkeit nennt. Der abstrakte Raum des Physikers folgt keinen sinnlichen, sondern nur logischen Prinzipien. Die Fähigkeit der abstrakten Symbolsprache ist Voraussetzung für Wissenschaft.

Auch in der Zeitvorstellung verwendet der Mensch über das reine Vorher und Nachher hinaus Symbole. Erinnern ist nicht Wiederherstellen eines vorhandenen Bildes, sondern Rekonstruktion. An die Zukunft denken und in der Zukunft leben ist ein notwendiger Teil der menschlichen Natur. Sowohl die Wiedergabe des Vergangenen als auch die Erwartungserlebnisse basieren auf symbolischem Denken. Die theoretische Idee der Zukunft ist eine Bedingung der kulturellen Tätigkeit des Menschen. Symbolische Formen haben eine Ausdrucksfunktion (das freundliche Lächeln nimmt Angst), eine Darstellungsfunktion (sprachliche Bezeichnung von Sachverhalten mit einem pragmatischen Bezug zur Welt) und eine Bedeutungsfunktion (abstrakte, relationale Theorien auf logisch–mathematischer Basis).

Franz von Stuck, Sisyphus (1920). Der Mythos von Sisyphus ist von Albert Camus noch im 20. Jh. als Modell verwendet worden.

Der gemeinsame Ursprung der symbolischen Formen ist der Mythos, der zusammen mit der Sprache und der Technik die ursprüngliche Orientierung des Menschen ermöglicht. Mythen sind Denkformen mit Erkenntnischarakter. Im Mythos sind die symbolischen Formen noch mimetisch unmittelbar. Die Welt ist für den Menschen Inkarnation, sie tritt ihm wesenhaft gegenüber. Der Mensch lebt mit den Tabus der Sippe und erklärt sich das Gewitter mit dem Hammer des Donnergottes. In dem Moment, in dem die Menschen ihre Lebenssituation hinterfragen, wird das Denken analog. Es entstehen Religionen mit abstrakten Geboten und einer Loslösung von den mythischen Bildern. Die erscheinenden Gegenstände (Substanzen) werden in einem festen Raum–Zeit–Gefüge in eine pragmatische Ordnung eingepasst. Es entstehen Unterscheidungen von Form und Inhalt und darauf aufbauend von Erscheinung und Wirklichkeit. Mit der Reflexion der Vernunft erfolgt eine erneute Loslösung nun von konkreten Schöpfungsvorstellungen, so dass die Vorstellungen über gesellschaftliche Normen rein symbolisch werden. Das Denken verliert seine Gegenständlichkeit und löst sich von der demonstrativen Beziehung zum Hier und Jetzt. Aus Abbildtheorie der Substanz werden nichtanschauliche und nichtrepräsentative Relationen. Zu beachten ist, dass in der Geschichte die Phasen der menschlichen Entwicklung jeweils in sich verwoben sind, wobei die Frühkulturen weniger, die Moderne hingegen viel stärker zur Abstraktion befähigt ist.

Anthropologie der Bedürftigkeit und Ethik bei Wilhelm Kamlah

Aufgrund des möglichen Vorhalts eines naturalistischen Fehlschlusses vom Sein auf das Sollen (Moore) haben die meisten philosophischen Anthropologien auf eine Verknüpfung der Analyse der menschlichen Identität und Lebenswelt mit Handlungsregeln verzichtet. Allerdings kann man durchaus den jeweiligen Status vom Standpunkt der Zweckmäßigkeit aus beurteilen und unter diesem Gesichtspunkt normative Aussagen treffen. Dies ist der Ansatz von Wilhelm Kamlah, der alle Handlungen des Menschen in Abhängigkeit von seinen Bedürfnissen und Widerfahrnissen betrachtete. Dabei ist der Mensch kein Einzelwesen, sondern immer auf den Anderen angewiesen. Daraus leitet sich die Notwendigkeit von Handlungsregeln ab, die Kamlah in einer eudämonistischen Ethik als Philosophie der Lebenskunst sah. Die hierin eingeschlossene Kritik am Verbot des Selbstmordes bei entsprechend negativen Lebensbedingungen setzte er 1976 mit seinem Suizid selbst um.[8]

Dialogische Anthropologie bei Martin Buber und Kuno Lorenz

Martin Buber entwickelte eine Dialogik. Zentrale Kategorie ist das sich in der Begegnung aktualisierende Zwischen. Der Mensch lernt, das Grundwort ICH-DU zu sprechen und bleibt nicht immer nur beim ICH-ES. Die Vorstellung Martin Bubers vom menschlichen Dasein, sein Personenbegriff, ergibt sich aus dem Verhältnis zum Anderen eben durch Beziehung. Am Ende des ersten Teils seines Werks Ich und Du fasst er das wie folgt zusammen: „Und in allem Ernst der Wahrheit, du: ohne Es kann der Mensch nicht leben. Aber wer mit ihm allein lebt, ist nicht der Mensch“. Wie wird man jetzt nach Buber Mensch? Subjekt begegnet Subjekt, in Beziehung treten mit dem Anderen (Du) und der damit einhergehenden Ichwerdung. Die Erkenntnis des Einzelnen von sich selbst als ein Ich, durch das (selbst-) Bewusst werden in der Beziehung zu einem Du. Beziehung ist bei ihm existentiell zur Erkenntnis des wahrhaftigen Dasein der eigenen Person. Das Zwischenmenschliche, die Beziehung zum anderen lassen uns Mensch sein. „Der Mensch wird am Du zum Ich“ Erst wenn das eine Individuum die Existenz eines anderen Individuums anerkennt und mit ihm in Beziehung tritt, begreift es sich als wahres Selbst.

Im Anschluss daran und in Auseinandersetzung mit der anthropologischen Philosophie von Ernst Cassirer, Albert Camus und Wilhelm Kamlah entwickelt Kuno Lorenz eine dialogische Anthropologie. Nur durch differenzierte Ausbildung von Ich und Du und damit die Rückbindung der Werke des Menschen an die in ihnen verkörperten Prozesse der Individuation und der Sozialisation können Menschen ihres Menschseins innewerden. Zwar wird eine (im Handlungsvollzug mögliche) dialogische Übergangsmöglichkeit zwischen Ich-Rolle und Du-Rolle erarbeitet, aber es wird vor einer Einebnung von Gegenstandsebene und Zeichenebene in der Handlungsdarstellung gewarnt.

Anthropologie und Existenzialismus bei Helmut Fahrenbach

Eine Verbindung der Anthropologie Plessners mit dem Existentialismus und der Philosophie Heideggers findet sich bei Helmut Fahrenbach, der darauf verweist, dass der Mensch „sich aufgegeben“ ist, also nur lebt, indem er ein Leben führt. Er kann sich selbst wählen (Kierkegaard), ohne die Moral aus seinem Selbstverhältnis ausschließen zu können. In diesem Sinne nimmt Fahrenbach eine Verknüpfung von Anthropologie, Normativität und Ethik vor, wie sie bei den Klassikern der Anthropologie noch nicht zu finden ist.

Ansätze in der Gegenwart

Die nachfolgend geschilderten Ansätze stehen als Beispiele für aktuelle Diskussionen.

Odo Marquard beschreibt den Menschen als Homo Compensator. Die Kompensationsidee, die sich sowohl bei Plessner als auch bei Gehlen findet, hat sich in weiten Bereichen der Pädagogik und der Soziologie platziert. Konrad Lorenz und Karl-Otto Apel haben die Moral als Kompensationsmechanismus beschrieben. Der Mensch kompensiert auf natürliche Weise durch hohe Geburtenraten nach großen Seuchen. Das Gehirn kompensiert bei Schädigungen. Kompensation gibt es als Vergeltung und Kompensation gibt es als Entschädigung. Schon Cicero vertrat eine Theorie der kompensatorischen Lebenskunst der Weisen. Marquard konstruiert einen Gegensatz zwischen Geschichtsphilosophie und philosophischer Anthropologie, der er eine rein naturalistische Position zuweist und diese gleichzeitig kritisiert.

Alwin Diemer hat einen Versuch unternommen, Philosophische Anthropologie unter systematischen Gesichtspunkten zu entwickeln, mit Unterscheidungs- und Bestimmungsmerkmalen, mit der Abgrenzung nach oben (Gott) und der Abgrenzung nach unten (Tierwelt). Seine Phänomenologie des Humanbereichs zählt überwältigend viele Aspekte und Fragestellungen auf. Diemer betont die doppelte Funktion der Menschenbilder und erklärt: „Die Rede vom Bild impliziert zweierlei: einmal das Moment des Sekundären, das an Ab- und Ebenbild erinnert, zugleich aber auch das Moment des Primären: „Bild“ bedeutet dann zugleich Vor- und Leitbild. … Diese Leitbilder fungieren, wenn die entsprechenden Metaphysiken bzw. Ideologien politisch-gesellschaftliche Macht besitzen, als entsprechende pädagogische Ideen“ (1978, S. 231).

Robert Spaemann sieht das Wesen des Menschen im Nachvollzug von Kant in der Verbindung des Natürlichen und des Vernünftigen:

„Vernunft heißt Versöhnung mit dem was vor ihr ist: Der Natur. […] Vor allem aber: Anerkennung eines fremden Vernunftwesens kann sich nur realisieren als Anerkennung dieses Wesens in seiner Natürlichkeit.“

Spaemann wendet sich vor allem gegen den Materialismus, der oft mit der Evolutionstheorie verbunden wird. Begriffe wie System, Information, Programm oder Struktur sind Abstraktionen und damit nicht frei von Annahmen, sondern „theoriebeladen“. Es sind Erklärungsbegriffe für die Bedingungen für das Auftreten neuer Phänomene, die nicht den Ursprung dieser Phänomene selbst begründen können.

Humberto Maturana und Francisco Varela entwickelten die Theorie vom Menschen als sich selbst organisierendes (autopoietisches) System in Verbindung mit der Evolutionären Erkenntnistheorie. Ob der dahinter stehende radikale Konstruktivismus ein notwendiges Weltbild darstellt, ist stark umstritten. Die Idee des autopoietischen Systems beeinflusste auch Niklas Luhmann, der die Systemtheorie in die Soziologie übertrug.

Gesa Lindemann hat im Anschluss an die historisch-reflexive Anthropologie Helmuth Plessners das Konzept der reflexiven Anthropologie entwickelt. Ausgangspunkt ist ein neuartiges Verhältnis von Anthropologie und Soziologie. Anthropologie bzw. anthropologische Annahmen werden nicht als sozialtheoretisches Fundament begriffen, sondern zum Gegenstand der Beobachtung gemacht. Bei diesem Ansatz geht es um die Bearbeitung der Frage, wie in Gesellschaften der Kreis sozialer Personen begrenzt wird und welche Funktion der Anthropologie in der Moderne zukommt.

Bálint Balla legt seiner Soziologie das Axiom zu Grunde, dass der Mensch ein Wesen sei, das sich auf die ihm eigene Weise mit dem Grundproblem der „Knappheit“ auseinandersetzt.[9]

Als kritische soziologische Umgestaltung der Gehlenschen Mängelwesenthese ist Dieter Claessens’ Studie „Das Konkrete und das Abstrakte“ von 1980 bedeutsam geworden.

Gunter Gebauer will den Menschen in seiner Lebenswelt unter seinen Lebensbedingungen betrachten. Anthropologie solle nicht des Wesen des Menschen in Abgrenzung zum Tier leisten, sondern den Menschen aus Sicht des anderen Menschen reflektieren. Anthropologie habe nicht die Ideen, das Universale oder Ewige zum Gegenstand. Der Mensch hat zwar biologische Ausgangsbedingungen, sei aber Produkt seiner selbst. Der Mensch ist in seine Umwelt hineingeboren, aber er verändert sie. Durch sein Handeln gibt der Mensch der Welt objektive Gestalt. Anthropologie ist geschichtlich, sowohl in ihrem Objekt, als auch in ihren Methoden. Sie fragt nicht nur, wer ich bin, sondern auch, wie ich geworden bin, was ich bin. „Anthropologie ist zuerst der Ausdruck von Unsicherheit. Was ist die Bestimmung des Menschen, wenn sie in seine eigene Hand gelegt ist?“

Thomas Rentsch will den Menschen in seiner Lebensweise verstehen und eine praktische Ethik daran anschließen. Hierzu muss in der Nachfolge Kants erst die menschliche Grundsituation analysiert werden. Die Existenz des Menschen ist bestimmt durch die sich jeweils gegenseitig bedingenden Situativität, Selbstreflexivität und Sprachlichkeit. Moralität ist ein von der menschlichen Praxis untrennbarer Bestandteil. Der Mensch verfügt über Freiheit zur Selbstgesetzgebung und Selbstregelung, denn der Unbestimmtheit, der Geworfenheit der Menschen entspricht seine Freiheit zu allen möglichen Setzungen. Ethik muss daher immer im Horizont der philosophischen Anthropologie stehen, sie ist Bestandteil der Lebenswelt.

Karl-Siegbert Rehberg nimmt die Institutionenlehre Gehlens auf: Er weist gesellschaftlichen Institutionen zwei Dimensionen zu: zum einen eine restriktive und stabilisierende Funktion für die Akteure, zum anderen gesellschaftliche Integration individueller Handlungen. Institutionen sind idealtypisch solche Sozialformen, in denen eine Synthese zwischen Sozialstruktur, Organisation, Normen- und Faktenwissen hergestellt wird. Institutionen sind Vermittlungsinstanzen kultureller Sinnproduktion, durch welche kulturelle Objektivationen verbindlich gemacht werden. Institutionen werden auch als symbolische Ordnungen aufgefasst. Dies beruht auf der anthropologischen, der erkenntnistheoretischen und der kulturphilosophischen Grundannahme der symbolischen Vermitteltheit aller Welt- und Selbsterkenntnis des Menschen (s. o. Ernst Cassirer), der als Kulturwesen Situationen deuten und andere Handlungsmöglichkeiten bereithalten muss. Der Gebrauch von Zeichen und Symbolen ermöglicht solche Transzendierungsleistungen und die Verfügung über „signifikante Symbole“ (Symbole, deren Bedeutungen mit anderen geteilt werden), heißt gleichzeitig „Geist“ zu haben (G.H. Mead). Symbole dienen der Entlastung von Druck aufgrund sinnlicher Triebe oder vom Bewusstsein der Sterblichkeit.

René Girard entwirft in Rahmen seiner mimetischen Theorie eine Wissenschaft des Menschen, die die gesamte Entwicklung der menschlichen Kultur – von der Menschwerdung und der Entstehung von Religion und Institutionen bis hin zu den gesellschaftlichen Organisationsformen der Gegenwart – auf der Grundlage der Mechanismen, die die Eindämmung der Gewalt erlauben, erklärt.

Ernst Tugendhat knüpft wieder an Kant an und begründet aus heutiger Sicht, weshalb die Anthropologie im Zentrum der Philosophie steht. Was immer Metaphysik bedeuten kann, es reduziere sich auf Anthropologie. Aus Tugendhats Sicht sind alle metaphysischen Themen eigentlich Elemente des menschlichen Verstehens. Die philosophische Anthropologie als Grunddisziplin der Philosophie befasst sich mit diesem Kernbereich des Menschlichen, dem Verstehen, und fragt nach der Struktur dieses Verstehens. Was bleibt als Frage nach dem Sein des Menschen übrig, so überlegt Tugendhat, wenn alles Historische im Sinne des nur Traditionellen weggezogen würde? Tugendhat sieht die Anthropologie in einem Gegensatz sowohl zur Metaphysik als auch zur Orientierung am Geschichtlichen, am historisch Vorgegebenen, Traditionen, göttlicher Offenbarung usw. Zum Verhältnis philosophischer zu empirischer Anthropologie meint Tugendhat, dass beide verschiedene Schwerpunkte haben, sich jedoch aufeinander zubewegen müssen. „Der Schwerpunkt der philosophischen Anthropologie ist dadurch gekennzeichnet, daß sie in 1. Person geschieht und von einer Reflexion auf allgemeine Strukturen ausgeht, dadurch daß man in ihr von sich ausgeht, ergeben sich Einseitigkeiten, über die man sich durch die breiteren Kenntnisse der empirischen Anthropologie belehren lassen muss“ (2007, S. 45–46).

Ferdinand Fellmann definiert den Menschen als Paar-Wesen. Die Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau gilt ihm als anthropologisches Radikal, das die Menschen vom Hordenleben der nichtmenschlichen Primaten getrennt hat. Fellmann untermauert sein Bild vom Menschen evolutionsbiologisch, versteht seine Rekonstruktion der Urszene der Menschwerdung aber als Beitrag zur philosophischen Anthropologie. Vor dem Biologismus ist dieser Ansatz dadurch geschützt, dass die Polarität der Geschlechter die moralische Dimension der Rechtfertigung des Menschen durch die Liebe einschließt.

Fragestellungen der modernen Philosophischen Anthropologie

Eine allgemeine Kritik an der Philosophischen Anthropologie, die z. B. Martin Heidegger vertreten hat, argumentiert, dass bei der Untersuchung des Bildes vom Menschen schon immer ein vorher festliegendes Menschenbild zugrunde liege, das die jeweiligen Ergebnisse bestimme. Diese Kritik hat allerdings mit Ausnahme der Fundamentalphilosophie (Metaphysik) jede philosophische Teildisziplin gegen sich. Auch Jürgen Habermas stellt sich kritisch zur Anthropologie, in der er nur eine auf die Einzelwissenschaften reagierende Disziplin sieht.

Als Grundfragen der Disziplin kann man herausheben:

a) Wie ist die Stellung und die Sonderrolle des Menschen im Bereich des Lebendigen?
b) Wie kann man die Mehrdimensionalität des Menschen in einem Bild seiner Lebenswelt zusammenfassen?
c) Gibt es für den Menschen als Handelnden ein richtiges Verhalten? (Ethik)

Die modernen mit dem Menschen befassten Naturwissenschaften haben gezeigt, dass dieser dem Tier nicht nur ähnlich ist, sondern auch ähnliches Verhalten aufweist. Der Mensch ist rein genetisch gesehen dem Schimpansen näher verwandt (Hominide) als dieser dem Orang-Utan. Die Soziobiologie argumentiert, dass die umstrittenen 'egoistischen Gene' sogar Altruismus zuließen. Der Erkenntnisapparat ist vor allem auf die Orientierung in der Umwelt ausgerichtet, was jedoch letztlich nicht ohne die Erkenntnis von Wahrheit möglich wäre. Evolutionisten fragen sich, was die Evolution dem Menschen noch bringen wird. Einige Implikationen dieser Fragen führen in den Bereich der Tierethik.

Wie können die heute noch kaum kommunizierenden Evolutionswissenschaften (Evolutionäre Erkenntnistheorie, Evolutionäre Psychologie, Soziobiologie) und die Kultur- und Sozialwissenschaften in einen produktiven Dialog treten? Braucht die philosophische Anthropologie eine noch stärkere Systematik oder kommt in ihrer Vielschichtigkeit und in der Vielzahl von Positionen die Pluralität des Menschen erst recht zum Ausdruck? Kann man auch weiterhin ein einheitliches Menschenbild anstreben oder ist die Achtung vor der Sicht des Anderen und damit die Selbstrelativierung Voraussetzung für den interkulturellen Austausch?

Ein wesentliches Merkmal des Menschen ist die Fähigkeit, sich künftige Bedürfnislagen zu vergegenwärtigen. Daraus resultieren Neugier und Experimentierfreudigkeit, aber auch Ängste vor dem Ungewissen. Warum werden in der philosophischen Anthropologie die Intersubjektivität, Gefühle, die Bedürftigkeit oder Stimmungen (Fröhlichkeit, Trauer, Leid) des Menschen als wesentliche Elemente seines Seins kaum thematisiert?

Leichenberg im KZ Buchenwald (1945). Rassenwahn und Genozid. Grenzenlose Grausamkeit und gegenseitige Vernichtung ist eine Möglichkeit, die im Menschen angelegt ist.

Der Mensch als gesellschaftliches Wesen ist Schöpfer neuer Stoffe, Gentechniker und Gefährder der Natur. Kann der im Zivilisationsprozess enthaltenen Selbstbedrohung noch entgegengewirkt werden? Bedeuten die ökologischen Krisen, dass der Mensch die Natur doch nicht beherrscht, sondern diese wieder Macht über ihn gewinnt? Was bedeutet die Mediengesellschaft für den Menschen? Wird er in Zukunft mit tatsächlicher künstlicher Intelligenz konfrontiert?

Als Einzelwesen ist der Mensch mit Grenzsituationen (Krankheit, Unglück, Schuld) und seiner Endlichkeit konfrontiert. Er ist in einigen Bereichen auch dem Zufall unterworfen. Der Zölibat ist ein Beispiel der Überwindung der biologischen Gesetze der Evolution. Kann der Mensch also seine vielschichtige soziale und instrumentelle Intelligenz nutzen, um sich mit sich selbst zu versöhnen, oder bleibt er ewig die 'Bestie', von der Krieg und Gewalt ausgeht?

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (4 Bde., 1784/91)
  2. Vgl. Brian Jacobs/Patrick Kain (Hrsg.), Essays on Kants anthropology, Cambridge 2003.
  3. Vgl. Schönpflug, 2004.
  4. Gerd Jüttemann (Hrsg.): Wilhelm Wundts anderes Erbe, Göttingen 2006
  5. Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, KSA 6, Kap. 14, S. 180
  6. Vgl. hierzu im Folgenden die gründliche Monographie von Joachim Fischer: Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Verlag Karl Alber, Freiburg/München ²2009.
  7. Vgl. die Dokumentation der Debatte um Plessners Schrift: Wolfgang Eßbach/Joachim Fischer/Helmuth Lethen (Hrsg.): Plessners »Grenzen der Gemeinschaft«, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002.
  8. Wilhelm Kamlah, Philosophische Anthropologie, Sprachkritische Grundlegung und Ethik, Mannheim 1984
  9. Bálint Balla, Knappheit als Ursprung sozialen Handelns, Hamburg 2005

Literatur

Einführungen

Weiterführende Literatur

  • Philosophische Anthropologie. Erster und Zweiter Teil = Band 6 u. 7 der Neuen Anthroplogie, hrsg. von Hans-Georg Gadamer und Paul Vogler. Georg Thieme Verlag, Stuttgart (ISBN 3-13-476601-9 u. ISBN 3-13-476701-5) und Deutscher Taschenbuch Verlag, München (ISBN 3-423-04074-2 u. ISBN 3-423-04148-X). 1974/75
  • Reinhard Brunner u. a. (Hrsg.): Anthropologie, Ethik und Gesellschaft. Campus, Frankfurt am Main 2000, ISBN 3-593-36636-3.
  • Joachim Fischer: Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts. Alber, Freiburg, München 2009, ISBN 978-3-495-48369-5.
  • Gunter Gebauer (Hrsg.): Anthropologie. Reclam, Leipzig 1998, ISBN 3-379-01637-3.
  • Anton Grabner-Haider: Kritische Anthropologie. Echter, Würzburg 1993, ISBN 3-429-01523-5.
  • Brian Jacobs/Patrick Kain (Hrsg.): Essays on Kant's anthropology. Cambridge University Press, Cambridge 2003, ISBN 0-521-79038-7.
  • Fabian Johannes: Anthropology with an Attitude. Critical Essays. Stanford University Press, Stanford 2001.
  • Gerd Jüttemann (Hrsg.): Wilhelm Wundts anderes Erbe. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, ISBN 978-3-525-49087-7.
  • S. Karotemprel (Hrsg.): Philosophical Anthropology. Sacred Heart College, Shillong 1984.
  • Hans-Peter Krüger und Gesa Lindemann (Hrsg): Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert. Akademie Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-05-004052-1.
  • Gesa Lindemann: Das Soziale von seinen Grenzen her denken. Velbrück, Weilerswist, 2009, ISBN 978-3-938808-61-0.
  • B. Mondin: Philosophical Anthropology. TPI, Bangalore 1985.
  • Thomas Rentsch: Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-518-29021-5.
  • Robert Spaemann: Das Natürliche und das Vernünftige, Essays zur Anthropologie. Piper, München, ISBN 3-492-10702-8.
  • Leslie Stevenson / David L. Haberman: Ten Theories of Human Nature. Oxford University Press, Oxford 2008. ISBN 0195368258.
  • Ernst Tugendhat: Anthropologie statt Metaphysik. Beck, München 2007, ISBN 3-406-55678-7.
  • Stephen P. Turner: Philosophy of anthropology and sociology. Elsevier, Amsterdam 2007.

Literatur zu Plessner und seiner Wirkungsgeschichte

  • Gerhard Gamm, Mathias Gutmann, Alexandra Manzei (Hrsg.): Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie. Zur Renaissance Helmuth Plessners im Kontext der modernen Lebenswissenschaften. Transcript, Bielefeld 2005, ISBN 3-89942-319-4.
  • Jan Beaufort: Die gesellschaftliche Konstitution der Natur' Helmuth Plessners kritisch-phänomenologische Grundlegung einer hermeneutischen Naturphilosophie in Die Stufen des Organischen und der Mensch. Königshausen & Neumann, Würzburg 2000, ISBN 3-8260-1937-7.
  • Stephan Pietrowicz: Helmuth Plessner. Genese und System seines philosophisch-anthropologischen Denkens. Alber, Freiburg i. Br. / München 1992, ISBN 3-495-47720-9.
  • Hermann Braun, Die Anfälligkeit des Prinzipiellen. Existenzphilosophie und philosophische Anthropologie vor und nach 1933, in: Perspektiven der Philosophie, Neues Jahrbuch 1991, 345-383.

Biologische Anthropologie

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