- Sozialgerichtsbarkeit
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Die Sozialgerichtsbarkeit ist die in Angelegenheiten des Sozialrechts tätig werdende Gerichtsbarkeit. Die Sozialgerichtsbarkeit ist dreistufig aufgebaut. Die erste Instanz ist grundsätzlich das Sozialgericht (SG), Berufungs- und Beschwerdeinstanz das Landessozialgericht (LSG) und Revisions- sowie Rechtsbeschwerdeinstanz das Bundessozialgericht (BSG) mit Sitz in Kassel. Die Sozialgerichtsbarkeit ist von der Arbeitsgerichtsbarkeit und der Verwaltungsgerichtsbarkeit abzugrenzen. Die Abgrenzung erfolgt nach dem Rahmen der Zuständigkeit. Derzeit bestehen 68 Sozial-, 14 Landessozial- und ein Bundessozialgericht.
Sozialgerichtsbarkeit ist eine der fünf Gerichtsbarkeiten der Bundesrepublik Deutschland. Wiederholt wird diskutiert, die Sozial- zusammen mit der Verwaltungs- und der Finanzgerichtsbarkeit zu einer öffentlich-rechtlichen Fachgerichtsbarkeit zusammenzuführen.[1] Dieses Vorhaben ist jedoch verfassungsrechtlich bedenklich, sodass nach überwiegender Ansicht ein solcher Schritt nur nach vorheriger Grundgesetzänderung gangbar erscheint[2].
Das Verfahrensrecht der Sozialgerichtsbarkeit ist primär im Sozialgerichtsgesetz (SGG) geregelt. Ergänzend finden Vorschriften der Zivilprozessordnung, des Gerichtsverfassungsgesetzes und des Verwaltungszustellungsgesetzes Anwendung, sofern im SGG nichts Näheres bestimmt ist.
Inhaltsverzeichnis
Geschichte der Sozialgerichtsbarkeit
Die Sozialgerichtsbarkeit ist ein junger Zweig der deutschen Judikative. Sozialgerichte gibt es in der Bundesrepublik Deutschland erst seit 1954. Zuvor war die Streitschlichtung in sozialversicherungsrechtlichen Fragen eine Aufgabe, die im Wesentlichen in der Verwaltung selbst stattfand.
Im Zusammenhang mit der Bismarckschen Sozialgesetzgebung, die 1883 die gesetzliche Kranken- und 1884 die Unfallversicherung einführte, entstand erstmals das Bedürfnis nach einer Einrichtung, die berufen war, über Streitfälle zwischen dem Versicherungsträger und den Versicherten zu entscheiden. Statt den Zugang zu den Gerichten zu eröffnen, sah das Unfallversicherungsgesetz von 1884 die Errichtung eines Schiedsgerichts vor, das organisatorisch den einzelnen Berufsgenossenschaften als Versicherungsträger zugeordnet war. Eine Unabhängigkeit, wie sie den Gerichten und Richtern gemäß Art. 97 GG heute zukommt, war damit nicht gewährleistet. Das Schiedsgericht war dreifach besetzt: Vorsitzender war ein rechtskundiger Landesbeamter; ihm zur Seite standen je zwei Vertreter von Unternehmern und Arbeitnehmern. Diese Struktur findet sich dem Grunde nach noch heute bei der Besetzung der Spruchkörper der Sozialgerichte. Gegen Entscheidungen der Schiedsgerichte stand den Beteiligten der Rekurs zu, ein Rechtsmittel, über das das Reichsversicherungsamt entschied.
Mit der Reichsversicherungsordnung (RVO) wurde das Verfahren für Rechtsschutz in den Bereichen der Kranken-, Invaliden- und Unfallversicherung vereinheitlicht. Das System wurde 1927 auf den Bereich der Arbeitslosenversicherung ausgedehnt. Nicht einbezogen wurden allerdings die Sozialhilfe- und Fürsorgeangelegenheiten, da es sich bei ihnen nicht um Versicherungsleisten handelte.[3] Die RVO sah ein dreistufiges Rechtsschutzsystem vor, das freilich wiederum innerhalb der Verwaltung durchgeführt wurde: In erster Instanz entschieden danach die Spruchausschüsse bei den Versicherungsämtern, in zweiter Instanz die Spruchkammern der Oberversicherungsämter, und letztinstanzlich konnten die Spruchsenate der Landesversicherungsämter bzw. des Reichsversicherungsamtes angerufen werden. Eine Überprüfung dieser Entscheidung durch unabhängige Gerichte war nicht vorgesehen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs blieb die grundsätzliche Rechtsschutzstruktur der Vorkriegszeit zunächst erhalten. Während in den drei westlichen Besatzungszonen für allgemeine verwaltungsgerichtliche Streitigkeiten bereits 1946 (allgemeine) Verwaltungsgerichte geschaffen wurden, verblieb die Streitschlichtung in Fragen der Sozialversicherung zunächst weiter im Bereich der Versicherungsträger bzw. der Exekutive, wobei die Aufgaben des Reichsversicherungsamtes von den Oberversicherungsämtern und den Landesversicherungsämtern übernommen wurden.
Mit dem Erlass des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland 1949 zeichnete sich ab, dass eine Änderung dieser Strukturen in Zukunft unerlässlich war. Einerseits ordnete das Grundgesetz in Art. 20 GG ausdrücklich eine Trennung gesetzgebender, vollziehender und rechtsprechender Gewalt an, sodass die Doppelfunktion der Versicherungsämter, die bislang exekutive und judikative Aufgaben wahrnahmen, nicht dauerhaft Bestand haben konnte. In Art. 96 Abs. 1 GG a.F. sprach das Grundgesetz sodann ausdrücklich von der „Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit“ und machte damit deutlich, dass über Rechtsstreitigkeiten in sozialversicherungsrechtlichen Angelegenheiten künftig von Organen der Judikative zu entscheiden war.
Unklar war zunächst, ob die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit einen einheitlichen Gerichtszweig darstellen sollte oder ob beide Bereiche institutionell zu trennen waren. In den politischen Diskussionen, die im Vorfeld der Umsetzung des vom Grundgesetz erteilten Arbeitsauftrags geführt wurden, vertraten vor allem Politiker der SPD die Forderung nach einer einheitlichen Gerichtsbarkeit für Arbeits- und Sozialversicherungsangelegenheiten.[4] Mit der Verabschiedung des Sozialgerichtsgesetzes 1953 im Deutschen Bundestag setzte sich letztlich die gegenteilige Auffassung durch. Das SGG führte zur Gründung von Sozialgerichten, Landessozialgerichten und des Bundessozialgerichts.[5]
Zuständigkeit
Der Rechtsweg zur Sozialgerichtsbarkeit (somit die sachliche Zuständigkeit der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit) ist im § 51 des Gesetzes über die Sozialgerichtsbarkeit (SGG) abschließend (enumerativ) geregelt.
Der Rechtsweg zur Sozialgerichtsbarkeit ist demnach nicht identisch mit allen Rechtsmaterien des Sozialgesetzbuches bzw. des Sozialrechts; die Zuordnung ist vielmehr Ergebnis historischer und rechtspolitischer Zufälligkeiten. Für Streitigkeiten auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts nicht-verfassungsgrechtlicher Art, also auch für alle sozialrechtlichen Materien, die von § 51 SGG nicht erfasst werden, ist der Rechtsweg zur (allgemeinen) Verwaltungsgerichtsbarkeit eröffnet (§ 40 VwGO).
Die Rechtswegzuweisung der sozialhilferechtlichen Streitigkeiten im weiteren Sinn (SGB II, SGB XII, AsylbLG) an die Sozialgerichtsbarkeit in § 51 Abs. 1 Nrn. 4a und 6a ist erst zum 1. Januar 2005 erfolgt (bisher waren die Verwaltungsgerichte zuständig). Um die mit dieser Zuständigkeitsänderung verbundene (personelle und organisatorische) Überlastung der Sozialgerichte zu mildern, eröffnet das SGG seit dem 1. Januar 2005 den Ländern die Möglichkeit, befristet bis zum 31. Dezember 2008 die Sozialgerichtsbarkeit in Angelegenheiten der Sozialhilfe nach § 51 Abs. 1 Nrn. 4a und 6a SGG durch "besondere Spruchkörper der Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte" ausüben zu lassen (§ 1 Satz 2, §§ 50a bis 50 d SGG; eingefügt durch das 7. SGGÄndG vom 9. Dezember 2004, BGBl. I 2004, S. 3302). Von dieser Möglichkeit hat allerdings nur das Land Bremen Gebrauch gemacht.
Die immer wieder geführte Diskussion zur Zusammenlegung der Sozial- mit der Verwaltungsgerichtsbarkeit hat zu keinem abschließenden Ergebnis geführt. Der Bundestag hat über entsprechende Vorstöße des Bundesrates nicht entschieden.
Spruchkörper
Erste Instanz
Die Spruchkörper des Sozialgerichts (= 1. Instanz) heißen Kammern, die jeweils mit einem Berufsrichter und zwei ehrenamtlichen Richtern besetzt sind. In Angelegenheiten der Sozialversicherung und der Bundesagentur für Arbeit wird je einer der ehrenamtlichen Richter aus dem Kreis der Arbeitgeber und einer aus dem der Versicherten, in Angelegenheiten des Vertragsarztrechts je einer aus den Kreisen der Krankenkassen und der Vertragsärzte und in Schwerbehinderten- und Versorgungssachen jeweils einer aus dem Kreis der behinderten Menschen und einer aus dem Kreis der "mit dem Recht der schwerbehinderten Menschen vertrauten Personen" bestimmt. In den (2005 neu in die Zuständigkeit der Sozialgerichte gefallenen) Angelegenheiten der Sozialhilfe und des Asylbewerberleistungsrechts werden die ehrenamtlichen Richter wie in der Verwaltungsgerichtsbarkeit von den Landkreisen bestimmt. Bei den Sozialgerichten sind besondere Kammern gebildet für Angelegenheiten: der Sozialversicherung; der Arbeitsförderung (einschließlich der übrigen Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit); der Grundsicherung für Arbeitsuchende; der Sozialhilfe (und des Asylbewerberleistungsgesetzes); sowie des sozialen Entschädigungsrechts und des Schwerbehindertenrechts.
Zweite und dritte Instanz
Die Spruchkörper des Landes- und des Bundessozialgerichts heißen Senate, die jeweils mit drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern besetzt sind. Diese werden ebenso bestimmt wie beim Sozialgericht.
Ehrenamtliche Richter in der Sozialgerichtsbarkeit
Die ehrenamtlichen Richter werden nach dem Justizvergütungs- und entschädigungsgesetz (JVEG) entschädigt. Ehrenamtliche Richter erhalten als Entschädigung Fahrtkostenersatz, Entschädigung für Aufwand, Ersatz für sonstige Aufwendungen, Entschädigung für Zeitversäumnis, Entschädigung für Nachteile bei der Haushaltsführung sowie Entschädigung für Verdienstausfall. Der ehrenamtliche Richter wird meist für einen Zeitraum von drei Jahren berufen. Die Berufung erfolgt nach vorangegangener Bewerbung.
Verfahrensgang in Hauptsacheverfahren
Das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist geprägt vom Amtsermittlungsgrundsatz. Das Gericht hat den Sachverhalt, jedenfalls soweit er streitig ist, von Amts wegen zu erforschen. In der ersten Instanz schließt sich an die Klageerhebung in der Regel ein schriftliches Verfahren an, innerhalb dessen die vorbereitenden Ermittlungen stattfinden (Einholung von Gutachten, gelegentlich auch schon Zeugenvernehmungen). In diesem Verfahrensstadium wirken die ehrenamtlichen Richter nicht mit. Die Ermittlungen sollen so weit vorangetrieben werden, dass der Rechtsstreit in einer einzigen mündlichen Verhandlung erledigt werden kann. Die mündliche Verhandlung stellt den Regelfall dar; daneben kann der Rechtsstreit unter bestimmten Voraussetzungen aber auch durch schriftliche Entscheidungen oder Gerichtsbescheide ohne vorherige mündliche Verhandlung beendet werden.
Regelfall: Mündliche Verhandlung
In der mündlichen Verhandlung trägt in der Regel der Vorsitzende (SG) oder Berichterstatter (LSG und BSG) den ermittelten Sachverhalt nach Aktenlage vor; in geeigneten Fällen kann diese Aufgabe auch auf Rechtsreferendare übertragen werden[6]. Danach wird die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten erörtert, gegebenenfalls erfolgt eine Beweisaufnahme durch Zeugenvernehmung, Befragung eines Sachverständigen (z.B. eines Gutachters in medizinischen Fragen) o.ä. Daraufhin stellen die Beteiligten ihre Anträge. Nach geheimer Beratung verkündet der Vorsitzende dann das Urteil (Stuhlurteil), das in den Grundzügen mündlich begründet wird. Das schriftliche Urteil wird danach abgesetzt; hierfür hat das Gericht maximal fünf Monate Zeit. Die Nichteinhaltung dieser Frist stellt einen Revisionsgrund dar.
In bestimmten Fällen werden in Hauptsacheverfahren vor der mündlichen Verhandlung oder statt ihrer Erörterungstermine durchgeführt. An ihnen nimmt auf Seiten des Gerichts nur der Vorsitzende teil. Sie dienen der Erörterung des Sachverhalts in komplizierten Verfahren. Dabei kann es inhaltlich um Sachverhaltsaufklärung durch Befragung der Beteiligten gehen. Häufig werden Erörterungstermine aber auch genutzt, um Klägern, die im schriftlichen Verfahren Schwierigkeiten haben, die Sach- und Rechtslage zu erkennen, diese zu erklären und ggf. das Verfahren gütlich zu beenden. Erörterungstermine können auch in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (§ 86b SGG) durchgeführt werden.
Schriftliche Entscheidung
Das Gericht kann im Einverständnis der Beteiligten in voller Kammer- (SG) bzw. Senatsbesetzung (LSG) auch ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Weiter kann, wenn ein Beteiligter nicht erscheint, auch eine Entscheidung nach Aktenlage ergehen, sofern er in der Ladung ausdrücklich auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist.
Gerichtsbescheid
Schließlich besteht am Sozialgericht die Möglichkeit, den Rechtsstreit durch Gerichtsbescheid zu entscheiden; diese Entscheidung ergeht allein durch den Vorsitzenden. Der Gerichtsbescheid hat die Wirkung eines Urteils. In berufungsfähigen Sachen wird damit die Instanz beendet, in nicht berufungsfähigen Sachen kann jeder Beteiligte mündliche Verhandlung erzwingen.
Besondere Möglichkeiten der Verfahrensbeendigung
Als Besonderheit gegenüber Verfahren der anderen Gerichtszweige ist zu nennen, dass der Kläger jederzeit ohne Sanktion, d.h. insbesondere ohne Kostenfolge die Klage zurücknehmen kann. Nach einer Klagrücknahme muss der Kläger also weder Gerichtskosten noch die außergerichtlichen Kosten der Gegenseite übernehmen. Die Sozialgerichtsbarkeit kennt keine Versäumnisurteile. Es gibt auch keine Anerkenntnisurteile, vielmehr erledigt das angenommene Anerkenntnis das Verfahren insoweit.
Sachverständige
Da es in den vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit verhandelten Verfahren häufig um medizinische Sachverhalte geht, hat jeder Kläger das Recht, von einem Arzt seiner Wahl untersucht zu werden. Allerdings kann das Gericht die Einholung eines solchen Gutachtens von einem Vorschuss abhängig machen, der nur dann wieder zurückgezahlt wird, wenn das so eingeholte Gutachten zur Aufklärung des Sachverhalts beigetragen hat.
Sonderfälle
Mehrere Länder können gemäß § 28 Abs. 2 SGG ein gemeinsames Landessozialgericht einrichten. Dies ist derzeit für die Länder Niedersachsen und Bremen, bzw. für die Länder Berlin und Brandenburg der Fall.
Siehe auch
Zu Namen und Sitz der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit siehe Liste deutscher Gerichte#Sozialgerichtsbarkeit.
Weblinks
Literatur
- Michael Stolleis: Entstehung und Entwicklung des Bundessozialgerichts. In: Sozialrechtsprechung - Verantwortung für den sozialen Rechtsstaat. Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, herausgegeben vom Hans Zacher. 1979.
- Ulrich Wenner, Franz Terdenge, Renate Martin: Grundzüge der Sozialgerichtsbarkeit. Strukturen - Kompetenzen - Verfahren. Erich Schmidt Verlag Berlin. 2. Auflage 1999. ISBN 3-503048073.
- Thorsten Vehslage, Stefanie Bergmann, Svenia Kähler, Matthias Zabel: Referendariat und Berufseinstieg. Stationen - Chancen - Bewerbung, 2. Auflage, München (C.H. Beck) 2007, ISBN 9783406548543.
Einzelnachweise
- ↑ Rede von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries am 24. April 2004 in Kassel.
- ↑ vgl. Heydemann, NJW-Aktuell Heft 12/2010, S. 12
- ↑ Diese Differenzierung wirkte bis 2004 fort. Sie war dafür verantwortlich, dass die (nicht versicherungsrechtlich strukturierte) Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz bis 2004 ein Gegenstand war, der vor den (allgemeinen) Verwaltungsgerichten verhandelt wurde.
- ↑ Stolleis, Festschrift zum 25jährigen Bestehen des BSG, S. 40.
- ↑ Zum Ganzen: Wenner, Terdenge, Martin: Grundzüge der Sozialgerichtsbarkeit. 2. Auflage 1999, S. 29 ff.
- ↑ Vehslage, Bergmann, Kähler, Zabel, S. 154
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