The Man of the Crowd

The Man of the Crowd

Der Mann in der Menge („The Man of The Crowd“) ist eine Erzählung Edgar Allan Poes, die das literarische Motiv des verfluchten Wanderers benutzt. Sie wurde 1840 erstmals veröffentlicht, und zwar in Burton’s Gentleman’s Magazine.

Inhalt

In der Einleitung wird der Leser unter Bezugnahme auf ein deutsches Buch – den „Hortulus animae“ aus dem Verlag Hans Grüninger – darauf vorbereitet, dass es Geheimnisse gebe, die zum Glück ebenso unergründlich seien wie dieses Buch unlesbar. Dann stellt sich der namenlos bleibende Ich-Erzähler als ein Flaneur vor, der das abendliche Treiben auf einer großen Straße Londons durch das Fenster eines Kaffeehauses beobachtet. Gerade von einer Krankheit genesen, genießt er diesen Zustand mit Zeitung und Zigarre und beschreibt detailliert die verschiedenen Schichten vorbeiströmender Menschen – von den Geschäftsleuten, Advokaten und Adligen abwärts über die besseren und die weniger guten Angestellten zu den Arbeitern, den Taschendieben und Huren. Ermöglicht wird dieser soziologische Querschnitt durch die Gasbeleuchtung, die die Menschen bis tief in die Nacht hinein auf den Straßen hält und beobachtbar macht. Die Aufmerksamkeit des Beobachters wird nun durch einen ganz besonders faszinierenden Mann von etwa 70 Jahren gefesselt. Von ihm sagt der Erzähler:

Ich habe in meinem ganzen Leben kein zweites (Antlitz) gesehen, das ihm auch nur im entferntesten glich. Aber ich erinnere mich sehr wohl, dass gleich mein erster Gedanke bei seinem Anblick war, dass jeder Maler, der nur immer den Teufel malte, dies Gesicht allen künstlerischen Darstellungen des Satans vorgezogen haben würde.

Der Erzähler verlässt das Kaffeehaus und folgt diesem Mann, der äußerlich zerlumpt gekleidet ist, doch unter den Lumpen trägt er, wie im Licht einer Gaslaterne gut zu erkennen ist, qualitativ gute Wäsche, und es schimmern ein Diamant und ein Dolch hervor. Von rätselhafter Unruhe getrieben, durcheilt der schäbige Alte die Stadt, es beginnt zu regnen, aber den Erzähler stört das nicht, der Alte biegt in Seitenstraßen ein, wechselt oftmals die Straßenseite, dreht mehrere Runden auf einem hell erleuchteten Platz, rennt dann scheinbar ziellos und dennoch zielstrebig durch ein Kaufhaus, stürzt sich in das Gewühl des Publikums, das aus einem Theater quillt, und eilt schließlich stadtauswärts

...in das widerwärtigste Viertel Londons, wo alle Dinge den hässlichen Stempel trostlosester Armut und abscheulichster Verkommenheit tragen. In dem trüben Lichte einer vereinzelten Laterne bemerkte man alte, hohe, wurmstichige, hölzerne Behausungen, die dem Einsturz nahe schienen und so unordentlich und willkürlich umherstanden, dass es einen Weg, der den Namen Straße verdient hätte, gar nicht gab. Die Pflastersteine waren durch das frei wuchernde Gras aus ihren Fugen gedrängt. Unrat verweste in den verstopften Rinnen. Die ganze Atmosphäre schien von Verwahrlosung vergiftet.

Hier bahnt er sich seinen Weg durch das Gewühl von Trunkenbolden vor einer Spelunke. Als sie schließt, kehrt er in die Stadt zurück, zurück auf die jetzt leerere Hauptstraße, wo der Erzähler ihn entdeckte und die Verfolgung aufnahm. Der erschöpfte Erzähler gibt auf:

Ich trat dem Wanderer fest entgegen und blickte ihm unverwandt ins Gesicht. Aber er bemerkte mich nicht, sondern setzte seine feierliche Wanderung ruhig fort. Jetzt folgte ich ihm nicht weiter und blieb in tiefem Nachdenken stehen. "Dieser alte Mann", sagte ich endlich zu mir selbst, "ist die Verkörperung, ist der Geist des Verbrechens. Er kann nicht allein sein. Er ist der Mann in der Menge. ("This old man is the type and the genius of deep crime. He refuses to be alone. He is the man of the crowd.") Es wäre vergebens, ihm noch weiter nachzugehen, denn ich würde doch nichts von ihm, nichts von seinen Taten erfahren."

Deutung

Der Beobachter des menschlichen Treibens in einer Großstadt, der Flaneur, ist durch Poe und in seiner Nachfolge durch Baudelaire zum literarischen Topos geworden. In Der Mann in der Menge wird er verknüpft mit dem Motiv des verfluchten Wanderers (Ewiger Jude, Fliegender Holländer, Melmoth der Wanderer u.a.). Es fällt auf, dass Poe dem die Stadt ziellos durchstreifenden Alten zwar vom Erzähler nachsagen lässt, er sei die Verkörperung des Verbrechens (der Dolch!), ihn aber bei keinerlei verbrecherischem Tun zeigt. Assoziativ drängt sich die Ähnlichkeit mit dem Gauner und Hehler Fagin aus Charles Dickens’ Roman Oliver Twist auf, der 1837 erschienen war. Vielleicht hat Poe, der die Erzählung in Philadelphia schrieb, sie deshalb in ein London verlegt, das in seiner Abgründigkeit stark an Flora Tristans Im Dickicht von London ("Promenades dans Londres") von 1840 erinnert.

In der Hoffnung, sein Geheimnis zu enträtseln, folgt nicht nur der Erzähler, sondern auch der Leser gespannt diesem Wanderer, dessen Fluch es ist, dass er nicht allein sein kann (was im Motto von La Bruyère vorweggenommen wird): Immer sucht er das Menschengewühl auf. Aber das Rätsel wird nicht gelöst. Marie Bonapartes Versuch, den alten Wanderer als Wiedergänger von Poes Ziehvater John Allan zu identifizieren, scheint dem Wunsch geschuldet, alles auf den Ödipuskomplex zu reduzieren. Die Geschichte bleibt eine im Letzten vieldeutige Parabel.

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Edgar Allen Poe

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