- Turbo-Folk
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Turbo-Folk ist ein Musikgenre, das sich vor allem in Südosteuropa entwickelt hat, und dort breite Bevölkerungsschichten erreicht. Im engeren Sinn handelt es sich dabei um eine neuere Musikrichtung, die sich Ende der 1970er Jahre langsam zu entwickeln begann, um Ende der 1980er Jahre tatsächlich populär zu werden. Zentrum der Turbo-Folk-Bewegung ist bis heute Serbien, aber die Stilrichtung ist auf dem gesamten ehemaligen Jugoslawien populär. Turbo-Folk ist aus musikalischer Hinsicht durch Mischungen zwischen der traditionellen Volksmusik und Schlager mit Rock, Pop und Techno; elektronische Instrumente werden verstärkt eingesetzt. Politisch war Turbo-Folk seit Anfang der 1990er eng mit den Nationalismen des ehemaligen Jugoslawiens verbunden,[1] seit Mitte des Jahrzehnts ist jedoch eine stetige Entpolitisierung zu erkennen, die die internationale Vermarktung der betroffenen Künstler im südosteuropäischen Raum vereinfacht.
Inhaltsverzeichnis
Entwicklung
Die Entwicklung des Turbo-Folk aus der Volksmusik beginnt Ende der 1970er Jahre. Bis dahin wurde Volksmusik hauptsächlich mit traditionellen Musikinstrumenten gespielt, vor allem dem Akkordeon. Der Bass war meistens der klassische Kontrabass, das Schlagzeug höchstens eine Snaredrum, meist aber Bongos. Mitte bis Ende der 1970er Jahre nahm das Genre der Narodna Muzika (Volksmusik) eine größere Formenvielfalt an - nicht selten waren sogar ganze klassische Orchester zu hören, vor allem bei Darbietungen des Sängers Šaban Šaulić. Zu jener Zeit gab es allerdings nur wenige Sänger und Interpreten, die heute noch nennenswert wären.
Mit der Entwicklung von Studiotechnik und elektronischen Instrumenten ging auch die Entwicklung der jugoslawischen Folkmusik einen Schritt nach vorn. War es in den 1970ern eher die ältere Generation, die solche Musik hörte, wuchs nun eine junge Generation von Menschen heran, was zur Veränderung des Volksmusikstils beitrug. In Belgrad formierte sich eine Schar junger Musiker um Saša Popović, der heute gemeinsam mit Lepa Brena Musikchef des Plattenlabels Grand Production ist. Plötzlich hörte man Rhythmen aus der Popmusik, Keyboards, ungewöhnliche Effekte, neue Gesichter und poppige, teils sogar "ungezogene" Texte, die man so bis dahin in dieser Musikrichtung nicht zu hören bekam. Der größte Star der jugoslawischen Musikszene war „Lepa Brena“ („Die schöne Brena“). Begleitet wurde sie von der Band (vorher sprach man von Orchestern oder Ensembles) „Slatki Greh“ („Die süße Sünde“), deren Frontman Saša Popović war. Die Gruppe landete viele Hits wie „Čačak“, „Mile voli disko" („Mile liebt Disco“), „Hajde da se volimo" („Lass uns Liebe machen“), "„Luda za tobom" („Verrückt nach dir“), „Čik pogodi" („Rate mal“). Ihr Lied „Mače moje" („Mein Kätzchen“) wurde 1985 wegen ihres angeblich vulgären Textes verboten. Neben den neuen Sängern sangen solche Hits nun auch die älteren und etablierten Musiker, die sich sehr schnell, bis 1985, dem neuen Musikstil anpassten. Einige Beispiele für diesen Trend sind das Orchester von Mirko Kodić, Dragan Knežević, Dragan Stojković „Bosanac“ und Novica Nikolić „Patalo“.
Das Akkordeon wird zwar heute noch benutzt, jedoch ist es zu einem der vielen Nebeninstrumente geworden, weil der größte Teil der Töne von Keyboards stammt. Ebenso verhält es sich mit dem Schlagzeug, welches dem Drumcomputer gewichen ist. Die Entwicklung nahm vielfältige und teils bizarre Formen an: ein Sänger mit dem Künstlernamen „Louis“, der wie ein buddhistischer Mönch gekleidet war und einen Kahlkopf mit langem Schnauzbart hatte, verzeichnete eine erfolgreiche Karriere. Sein Lied „Ne kuni me majko“ („Verfluche mich nicht, Mutter“) war einer der größten Hits in den 1980er Jahren. Plötzlich hörten auch viele Personen zu, die Folkmusik bis dahin nicht so gerne hörten, und die Branche wuchs rapide.
Der Begriff „Turbo-Folk“ tauchte erst Anfang der 1990er Jahre für ein neues Subgenre der Volksmusik auf. Im „offiziellen“ Sprachgebrauch (z. B. in Medien) bezeichnet man die Musikrichtung oft als „neukomponierte Volksmusik“ (novokomponovana narodna muzika). Der alternative Musiker und Sänger Rambo Amadeus, der in den urbanen Gegenden des ehemaligen Jugoslawien bei der Jugend große Popularität genoss, soll den Begriff Turbo-Folk erfunden haben. Die Bezeichnung, anfangs noch als Spottname für diese Musikrichtung gebraucht, bürgerte sich allmählich ein. Zu dieser Zeit waren einige Wegbereiter aus den 1980er Jahren, die Elemente aus Rock und Pop in ihre Musik einbrachten, auf dem Zenit ihres Erfolges, wie zum Beispiel alle Sänger von Južni Vetar, Halid Muslimović, Halid Bešlić, Lepa Brena und Zorica Brunclik. In den 1990ern tauchten neue Musikstile auf, etwa House und Techno, die sich in der damals von kurzlebigen modischen Trends dominierten serbischen Folkmusik niederschlugen. Zu jener Zeit waren die einflussreichsten Studiomusiker die „Futa & Zlaja Band“ und Perica Zdravković, die sich von Južni Vetar getrennt hatten, später auch „Srki Boy“. Mit diesen Musikern haben fast alle Turbo-Folk-Sänger ihre Alben aufgenommen.
Bald bekam die neue Musikrichtung, die vor allem von Jugendlichen gehört wurde, von Kritikern den Namen „Turbo-Folk“. Die bekanntesten Sänger jener Zeit waren: Nino, Mira Škorić, Džej Ramadanovski, Snežana Babić und die legendäre Ceca Ražnatović (Geburtsname: Veličković), die spätere Ehefrau des berühmt-berüchtigten serbischen Freischärlers und „Geschäftsmannes“ Željko Ražnatović Arkan. Später sprangen auch viele etablierte Musiker auf den Zug auf, was der Karriere der meisten mehr schadete als nutzte. Ende der 1990er Jahre kehrten so gut wie alle typischen Vertreter des Turbo-Folk ihm den Rücken.
Anspruchsvolle Produktionen gab es zu jener Zeit kaum. Auf der Bühne und in Video-Clips kamen viel brachiale Erotik und eine eigene kühle und künstliche Ästhetik zum Einsatz.
Heutzutage gibt es zwar noch den Begriff Turbo Folk, aber der Musikstil änderte sich. Viele der ehemaligen Sänger machen wieder teils anspruchsvolle „Narodna muzika“ (Volksmusik), was als Rückbesinnung gewertet wird. Das Publikum hielt nichts mehr vom dröhnenden und wenig innovativen Einheitsbrei. Turbo-Folk basiert heute weniger auf Techno, sondern verstärkt auf arabischen Rhythmen. Viele Komponisten halten sich nicht mehr bedingungslos an modische Trends und sind innovativer, wodurch ein großer Variantenreichtum entstanden ist.
Turbo-Folk ist fast ausschließlich in Ländern des ehemaligen Jugoslawien zu hören. Dort wurde er oft in der Werbung (zum Beispiel für Nike und Coca Cola) und als Hintergrundmelodie in Spielfilmen benutzt. Zur Zeit des Balkankonfliktes galt der Turbo-Folk als Ausdruck der Politik Slobodan Miloševićs, weil u.a. Svetlana „Ceca“ Ražnatović, „Königin“ des Genres, den der Kriegsverbrechen beschuldigten Željko Ražnatović Arkan heiratete. Die Masse der Sänger ist groß, die Qualität der Musik dagegen oft gering. Viele Sänger beenden ihre Karriere schon nach dem ersten Album, weil nicht genug Nachfrage nach neuen Sängern besteht.
So spaltete sich die Entwicklung zwischen der volkstümlichen Musik (Narodna Muzika) und dem Turbo-Folk. Viele Sänger sind bei der volkstümlichen Variante geblieben und finden heute (2006) hauptsächlich bei älteren Personen ihre Anhänger.
Verbreitung
Die Musik wird auch in Slowenien, Kroatien und Bosnien gern gehört - auch viele kroatische und bosnische Turbo-Folk-Sänger/innen haben sich mittlerweile in Südosteuropa bekannt machen können. Die derzeit bekannteste kroatische Interpretin ist Severina Vučković und der bosnisch-serbische Sänger Mile Kitić. Auch in Kroatien besteht der Begriff fast nur als Fremdbezeichnung, da auch dort kaum ein Interpret oder eine Interpretin ihre Musik als Turbo-Folk bezeichnen würde.
Das größte Verdienst dieser Musikrichtung, die auch weit jenseits der Grenzen des ehemaligen Jugoslawien gerne gehört wird (Rumänien, Türkei, Griechenland, Bulgarien), gebührt der Formation „Južni Vetar“, die eine Erfindung des Musikers Miodrag M. Ilić ist und seit 1982 bis heute große Erfolge feiert. Der Begriff „Južni Vetar“ - wiewohl nur der Name einer Band - wird in Südosteuropa inzwischen als eigenständige Musikrichtung verstanden, besonders in Bosnien. Die größten Namen der jugoslawischen Volksmusik haben ihren enormen Erfolg Miodrag M. Ilić zu verdanken. Darunter fallen: Mile Kitić, Kemal Malovčić, Sinan Sakić, Dragana Mirković, Šemsa Suljaković, Indira Radić, Ivan Kukolj Kuki und sehr viele mehr. Die „Zentrale“ von Južni Vetar befindet sich mitten in Belgrad - das berühmte Studio MMI. Die klassische Besetzung war: Miodrag M. Ilić (Bass), Perica Zdravković (Akkordeon, Keyboards), Sava Bojić (Gitarren). Von 1991 bis 1999 war Branislav Vasić (Akkordeon, Keys) statt P. Zdravković und Sava Bojić Mitglied von Južni Vetar, was im Allgemeinen als schwächste Phase angesehen wird. Seit dem Jahr 2000 ist wieder Sava Bojić zur Band zurückgekehrt, was zu einer Rückkehr zum alten Stil geführt hat. Der Musikstil setzt sich zusammen aus serbischer Volksmusik, orientalischen Klängen und Rhythmen mit einer Prise Rock. Južni Vetar hat bis heute weit über 15 Millionen Tonträger verkauft und hat eine eigene TV-Station sowie eine eigene Plattenfirma namens „JuVekomerc“.
Ein weiterer großer Name in dieser Branche ist Lepa Brena („schöne Brena“), die als erste Anfang der 1980er Jahre einen disco-ähnlichen Touch in die Volksmusik einbrachte, in Verbindung mit dem demals noch sehr unüblichen sexy Image und mit Titeln wie z. B. „Mile voli Disko“ („Mile liebt die Disco“), was ja schon alles zur späteren Entwicklung dieser Musik sagt. Lepa Brena gehört heute zu den größten Entertainern im jugoslawischen Raum und steht zusammen mit ihrem Mann Slobodan „Boba“ Živojinović auch in anderen Wirtschaftszweigen an der Spitze.
Und schließlich der „König“, wie man ihn nennt: Šaban Šaulić, der schon seit den 1960er Jahren die Entwicklung der jugoslawischen Musik entscheidend mitbeeinflusst hat und heute noch einer der beliebtesten Sänger Südosteuropas ist.
Noch immer hat der Turbo-Folk in der Musikszene einen festen Platz.
Die zwei größten serbischen Plattenfirmen City Records und Grand Production haben fast alle heutigen Turbo-Folk-Sänger und -Musiker Südosteuropas unter Vertrag.
Die bekanntesten Turbo-Folk-Sänger geben weltweit Konzerte, wo immer sich Fans südosteuropäischer Lebensart oder Südosteuropäer finden. Die für Veranstaltungen und Konzerte meistbesuchten amerikanischen Städte sind Chicago und Los Angeles und in Europa Zürich, Wien und Stuttgart.
„Jugoslawischer“ Turbo-Folk ist auch im europäischen Ausland sehr bekannt (am meisten in Rumänien, Bulgarien, und Italien), da diese trotz des zum Teil starken orientalischen Flairs im Gegensatz zu griechischer und türkischer Volksmusik für Außenstehende nachvollziehbarer ist und ihm eine weniger melodiöse Schwermut eigen ist. Vor allem aber wegen des Könnens der Akkordeonspieler erfreuen sich diese Künstler großen Respekts im Ausland (zum Beispiel: Miroljub Aranđelović "Kemiš", Mirko Kodić, Bane Vasić, Siniša Tufegdžić und viele andere).
Kontroverse
Bei der ex-jugoslawischen Diasporajugend ist der Turbo-Folk beliebter als bei ihren Altersgenossen im Herkunftsland. In den städtischen Gebieten des ehemaligen Jugoslawien gilt diese Musikrichtung oft auch als primitiv und gehört zum schlechten Geschmack. Leute, die diese Musik hören oder singen, werden auch als „Turbo seljaci“ (Turbo-Bauern) bezeichnet. Da ein Großteil der ehemals jugoslawischen Diaspora ursprünglich aus ruralen Gegenden stammt, verbinden diese Menschen den Turbo-Folk oft mit ihrer Heimat, während sich Leute, die in urbanen Gegenden groß wurden, eher mit Rock- oder Schlagermusik a là Zdravko Čolić oder Oliver Dragojević identifizieren. In elitären Kreisen oder bei Studenten findet der Turbo-Folk keine Anerkennung, was ihn immer wieder zu einem Streitpunkt macht. Was den Musikstil ebenfalls in Verruf gebracht hat, ist der Hang zum Extremismus bei dessen Interpreten und beim Auditorium. Nirgends sieht man so viele Religions- oder Nationalsymbole an Halsketten oder gar als Tattoos, wie an einem durchschnittlichen Turbo-Folk-Konzert. Als weiteres Beispiel kann der Sänger Mitar Mirić dienen, der Anfang der 1990er bei der Vertreibung von Bosniaken durch serbische Paramilitärs in Ostbosnien spöttisch vor der örtlichen Moschee seine Lieder sang. Während sich serbische Sänger aus anderen Musikrichtungen oft für den Frieden einsetzten und als Milošević-Kritiker laut wurden, (allen voran Liedermacher Đorđe Balašević, der dafür vom Regime schikaniert wurde und Auftrittsverbote verhängt bekam) machten die Turbo-Folk-Interpreten meist „gute Miene zum bösen Spiel“ und demonstrierten einen Glanz und eine Fröhlichkeit im Fernsehen, die im reellen Leben längst verflogen waren. Bis heute teilt der Turbo-Folk die Gemüter.
Weblinks
- Sonja Vogel: Der Sound des Jugoslawienkonflikts. In: Die Welt. 5. Oktober 2010, abgerufen am 5. Oktober 2010 (deutsch): „Zehn Jahre nach dem Sturz von Milosevic erlebt auch der Turbo-Folk seinen Niedergang“
Einzelnachweise
- ↑ Eric D. Gordy. 1999. The Culture of Power in Serbia: Nationalism and the Destruction of Alternatives. University Park, PA: Pennsylvania State University Press, S. 103-164
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