Bosniaken

Bosniaken

Bosniaken (bosnisch: Bošnjaci) sind eine Ethnie mit etwa 3 Millionen Angehörigen, die primär in Bosnien und Herzegowina, Serbien und Montenegro, insbesondere dem Sandschak, sowie in der Diaspora in Europa und Nordamerika leben. Da die Konfession im Osmanischen Reich und im späteren Jugoslawien als Unterscheidungskriterium der Nationalitäten in Bosnien und Herzegowina verwendet wurde, war lange Zeit der Begriff „Muslime“ (bzw. „slawischsprachige Muslime“) üblich bzw. ist es in Serbien und Montenegro teilweise noch immer. Die Bosniaken sind neben Kroaten und Serben laut Verfassung eines der drei konstitutiven Völker von Bosnien und Herzegowina.

Heute werden mit dem Wort „Bosnier“ (Bosanci) im Allgemeinen die Angehörigen des Staates Bosnien und Herzegowina unabhängig von der Volksgruppe bezeichnet, während man mit „Bosniaken“ (Bošnjaci) die vormals als Bosnische Muslime (oder auch Slawische Muslime) bezeichnete Volksgruppe unabhängig vom Wohnort bezeichnet.

Bosniaken sprechen eine Variante des Štokavischen, die als bosnische Sprache bezeichnet wird. Die von ihnen verwendete standardsprachliche Form des Štokavischen wird heute von den Ländern des Westbalkans offiziell als eigenständige Sprache betrachtet. Sie weist im Vergleich zu den anderen Standardvarietäten des Serbokroatischen etwas größere Einflüsse der türkischen (mit ca. 1800 Lehnwörtern) und der arabischen Sprache auf.

Bis zum Bosnienkrieg 1992 stellten die Bosniaken vor allem die Stadtbevölkerung des Landes, sie siedelten vor allem im Zentrum und im Osten Bosnien und Herzegowinas sowie in der Region Bihać im Westen. Nach den sogenannten „ethnischen Säuberungen“ während des Krieges konzentrieren sie sich inzwischen auf den Raum Bihać und die Region um die Städte Sarajevo, Zenica und Tuzla.

Inhaltsverzeichnis

Ethnonym

Die Bezeichnung bošnjak hatte ursprünglich mehrere unterschiedliche Bedeutungen. Man verstand darunter:[1]

  • eine Person, die aus Bosnien stammt. Daneben existierte die Bezeichnung Bosnier (bosn. bosanac, Pl. bosanci)
  • einen Bewohner von Bosnien
  • Heute jedoch trifft diese Bezeichnung lediglich auf die bosnisch-herzegowinischen Muslime zu.

Im mittelalterlichen Bosnien und Herzegowina nannte man die Bewohner des Landes Bošnjani (Sg. Bošnjanin). Im Lateinischen verwendete man damals die Benennung Bosn(i)enses, im Italienischen Bosnesi oder Bosignani. Nach der Eroberung durch die Osmanen im 15. Jahrhundert tauchte die türkisierte Form Boşnak (türk. Pl. Boşnaklar) auf. Bosnische Franziskaner verwendeten beide Formen wechselweise, um dadurch alle Einwohner von Bosnien, also Muslime und Nicht-Muslime zu bezeichnen. Die heutige, moderne Bezeichnung für die Einwohner des Staates Bosnien und Herzegowina lautet jedoch Bosnier (Bosanci).

Osmanische Autoren, wie etwa Evliya Çelebi, verwendeten die Bezeichnung „Bosniaken“ jedoch ausschließlich für die muslimische Bevölkerung von Bosnien. Nicht-Muslime wurden von ihnen meist Reaya oder Walachen genannt.

Die österreichisch-ungarische Verwaltung unter der Leitung des gemeinsamen Finanzministers Benjámin Kállay (1839–1903) versuchte die Bezeichnung Bosniaken für die gesamte Bevölkerung wieder einzuführen. Dies stieß jedoch auf breite Ablehnung unter den bosnischen Kroaten und Serben. Die bosnischen Muslime akzeptierten die Benennung nur in sehr begrenztem Maße.

Seit spätestens Mitte der 1960er Jahre verstehen sich Bosniaken zunehmend als ethnische Nation. Daher wird die Bezeichnung Bosniaken für die bosnischen Muslime und die Bezeichnung Bosnier für alle Einwohner von Bosnien und Herzegowina verwendet.[2]

Geschichte

„Ethnographische Karte der europäischen Türkei“ von 1877, die Bosniaken werden hier als Mohamedan. Serbokroaten oder Bosnische Türken bezeichnet

Politisches Instrument für die Bewegung der Blockfreien

Nachdem Tito zusammen mit Nasser und Nehru die Bewegung der blockfreien Staaten gegründet hatte, kamen die bosnischen Muslime nach dem Zweiten Weltkrieg wieder leichter in Kontakt mit der restlichen muslimischen Welt. Obwohl die Islamische Religiöse Gemeinschaft, welche die jugoslawischen Muslime offiziell repräsentierte dazu instruiert wurde, den Islamischen Weltkongress in Karachi 1952 zu boykottieren, wurden deren Angehörige bald im Namen der sozialistischen Republik Jugoslawien in alle Welt geschickt. Ein muslimischer Hintergrund war ein Vorteil für Kandidaten für den jugoslawischen auswärtigen Dienst. Viele bosnisch-muslimische Diplomaten dienten daher in den arabischen und indonesischen Staaten. Die Tatsache, dass diese Beamten alle Mitglieder der kommunistischen Partei waren und ihre Religion größtenteils aufgegeben hatten, schien von keiner Bedeutung zu sein, solange sie muslimische Vornamen trugen.[3]

Das Streben nach Anerkennung

Bei der Volkszählung von 1948 standen den Muslimen im ehemaligen Jugoslawien drei Optionen zur Verfügung: Sie konnten sich als "muslimische Serben", "muslimische Kroaten" oder aber als "Muslime (nicht deklarierte Nationalität)" nennen. Tatsächlich gaben der überwiegende Teil der Muslime "nicht deklariert" an.

1953 gab es ein ähnliches Ergebnis. Diesmal wurde der Geist des Jugoslawismus allgemein promoviert. Die Bezeichnung "Muslim" wurde entfernt. An dessen Stelle trat die Angabe "Jugoslawe (nicht deklarierte Nationalität)". Wiederum entschieden sich die meisten für diese Option.

In den 1960ern begann sich der Trend zu ändern, und bis heute ist nicht klar, weshalb. Im Allgemeinen waren die bosnischen Politiker damals der serbischen Dominanz sehr ergeben. Die bosnische kommunistische Partei zählte etwa 60% Serben und lediglich 20% Muslime. Nach dem Rücktritt des Serben Đuro Pucar als Parteivorsitzender und Aleksandar Ranković als Titos Sicherheitschef kam es zu einer entspannteren Politik gegenüber den nicht-serbischen Volksgruppen. Es gab aber bereits früher Bestrebungen zur Anerkennung der Muslime als eigenständige Ethnie. Zwei Faktoren waren dabei entscheidend: Ein Bestreben, das in den frühen 1960ern aufkam, die republikanischen Identitäten gegenüber einem „integralen Jugoslawismus“ zu stärken, und der Aufstieg einer kleinen Élite muslimischer Kommunisten innerhalb der Partei.[4]

Bei der Volkszählung von 1961 war es möglich "Muslim im ethnischen Sinne" anzugeben. Ebenso bezog sich die bosnische Verfassung von 1963 in der Präambel auf "Serben, Kroaten und Muslime, in Vergangenheit vereinigt durch ein gemeinsames Leben", was implizit bedeutete, dass die Muslime als Volksgruppe erachtet wurden.[5] Von nun an wurden die Muslime in gleicher Weise mit den übrigen Volksgruppen behandelt, wenn dies auch noch nicht offiziell bestätigt wurde.

Eine Vielzahl von Akademikern und Beamten, unter der intellektuellen Führung von Prof. Muhamed Filipović und der Mithilfe kommunistischer Funktionäre wie etwa Atif Purivatra, startete daher eine Kampagne zur Großschreibung des "M" im Wort "Musliman" (Mitglied einer Volksgruppe im Gegensatz zu "musliman", das lediglich auf die Religionszugehörigkeit verwies). Filipović wurde 1967 deswegen sogar aus der Partei ausgeschlossen. Das bosnische Zentralkomitee der kommunistischen Partei entschied 1968 jedoch, dass "die derzeitige sozialistische Praxis zeigt, dass Muslime eine eigenständige Volksgruppe sind". Trotz heftigen Widerstandes in Belgrad von Seiten serbisch-nationaler Kommunisten wie etwa Dobrica Ćosić oder etwa mazedonischer Politiker wurde diese Vorgangsweise von der Zentralregierung angenommen. Die Angabe bei der Volkszählung von 1971 lautete daher "Muslim (im Sinne einer Volksgruppe)". Das Studium der islamischen Theologie in Bosnien-Herzegowina, ebenso wie der studentische Austausch mit anderen muslimischen Staaten, wurden seitdem stimuliert. 1977 wurde die Fakultät der Islamischen Theologie an der Universität Sarajewo eingerichtet.[4]

Die Rolle der Intellektuellen

Die Bewegung zur Anerkennung der Slawischen Muslime als eigenständige Volksgruppe begann in den späten 1960ern und Anfang der 1970er. Dies war keine islamisch-religiöse Bewegung, sondern wurde von Kommunisten und anderen säkularisierten Muslimen geführt, welche die muslimische Identität in Bosnien-Herzegowina in etwas definitiv nicht-religiöses umwandeln wollten. Es entwickelten sich jedoch zwei unterschiedliche Strömungen: Die Bewegung des säkularen „Muslimischen Nationalismus“, und ein davon getrenntes Wiederaufleben des islamischen Glaubens.[6][7]

Zur ersten Strömung gehörten Wissenschaftler wie Atif Purivatra, der sich seit Ende der 1960er intensiv und auf akademischem Niveau mit der Frage der Nationalität der bosnischen Muslime auseinandersetzte. Ein prominentes Beispiel für die Sichtweisen der zweiten Strömung ist die "Islamische Deklaration". Diese programmatische Schrift wurde von Alija Izetbegović Mitte der 1960er Jahre verfasst. Izetbegović stand mit seinen Ansichten im Gegensatz zu Purivatra; er beschäftigte sich vielmehr mit der Lage des Islam in der ganzen Welt, statt mit den Problemen in Bosnien-Herzegowina. Er verurteilte unter anderem den Nationalismus als trennendes Instrument und bezeichnete den Kommunismus als inadäquates System.[3] Izetbegović wurde in der Folge 1983 zu vierzehn Jahren Haft wegen „Aufrufs zur Zerstörung Jugoslawiens“ verurteilt.

Verteilung der Bosniaken in verschiedenen Ländern

Bosniaken in den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens

Land Anzahl der bosniakischen Einwohner Anteil an der Gesamtbevölkerung [%]
Bosnien und HerzegowinaBosnien und Herzegowina Bosnien und Herzegowina 2.185.055 [8] 48
KroatienKroatien Kroatien 0020.755 [9] 00,5
SerbienSerbien Serbien 0136.087 [10] 01,8
SlowenienSlowenien Slowenien 0021.542 [11] 01,1
MazedonienMazedonien Mazedonien 0017.018 [12] 00,8
MontenegroMontenegro Montenegro 0053.605 [13] 08,6

In Bosnien und Herzegowina leben die Bosniaken meist im Nordwesten (um Bihać) und in der Mitte des Landes, wobei der Kanton Una-Sana mit 94,3 % den höchsten Anteil von Bosniaken an der gesamten Einwohnerzahl aufweist. Ihr kulturelles Zentrum ist Sarajevo.

Bosniaken in anderen Staaten der Welt

Eine große bosniakische Diaspora besteht in der Türkei.[14][15] Diese kamen hauptsächlich als Muhadschir im 19. Jahrhundert in die osmanische Türkei, nachdem das osmanische Reich Teile Rumeliens (Balkans) verloren hatte und in den verlorenen Balkangebieten zahlreiche Massaker an Muslimen begangen wurden.[16] Seit den 1960er Jahren kamen Bosniaken als Gastarbeiter in westeuropäische Staaten, in den 1990er Jahren als Kriegsflüchtlinge auch in die USA, nach Kanada und Australien.

Viele der in Deutschland lebenden Bosniaken sind während des Bosnienkrieges zugewandert. Erste bosniakische Gemeinden entstanden bereits in den 1960er und 1970er Jahren, als zahlreiche Gastarbeiter aus Jugoslawien nach Deutschland kamen. Seit 1994 bzw. 2007 gibt es den Dachverband Islamische Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland.

In Schweden bestehen in Stockholm und Malmö Gemeinden der Bosniaken. Ein bekannter Sohn bosnischer Zuwanderer ist der schwedische Fußballspieler Zlatan Ibrahimović.

Bosniakische Namen

Die bosniakischen Nachnamen haben, wie im südslawischen Raum üblich, oft die Endungen „ić“ oder „ović“. Anhand der Nachnamen ist der Einfluss der osmanisch-islamischen Kultur erkennbar. So tragen viele Bosniaken Namen wie z. B. „Imamović“ (übersetzt: Sohn des Imams) oder „Hadžiosmanović“ (übersetzt: Sohn des Haddschi Osman).

Es gibt daneben aber auch bosniakische Nachnamen, die keine -Endung besitzen. Diese beziehen sich in der Regel auf einen Beruf, auf die Herkunft oder andere Faktoren der Familiengeschichte. Ein Beispiel für einen solchen Namen ist der häufige Name Zlatar (übersetzt: Goldschmied).

Andere bosniakische Namen haben nichts orientalisches an sich, enden aber auf -ić. Diese Namen haben ihren Ursprung im Mittelalter und haben sich wahrscheinlich seitdem nicht verändert. Sie gehören dem alten bosnischem Adel an oder sind der letzten Welle der zum Islam Konvertierten zuzurechnen. Beispiele hierfür sind Tvrtković und Kulenović (vgl. König Tvrtko oder Kulin Ban).

Die Vornamen der Bosniaken sind meist arabischen, türkischen oder persischen Ursprungs. So heißen viele z. B. Hasan, Adnan, Sulejman oder Emir. Einige arabische Namen werden gekürzt. Daneben sind auch Namen populär, die nicht religiös gebunden und im gesamten südslawischen Raum verbreitet sind, wie etwa der Name Zlatan (deut. der Goldige).

Literatur

  • Annette Monika Fath-Lihic: Nationswerdung zwischen innerer Zerrissenheit und äußerem Druck. Die bosnischen Muslime auf dem Weg vom ethnischen Bewusstsein zur nationalen Identität. Dissertation, Universität Mannheim 2007 (Volltext)
  • Purivatra, Atif. Nacionalni i politički razvitak Muslimana (1969)

Weblinks

 Commons: Bosniaken – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Rječnik hrvatskoga jezika, Leksikografski zavod Miroslav Krleža, Zagreb 2000
  2. Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, Hösch/Nehring/Sundhaussen (Hrsg), 2004, ISBN 3-8252-8270-8
  3. a b Malcolm, Noel. Bosnia. A Short History. (1994) S. 197 & S. 200ff
  4. a b Malcolm, Noel (1994). Bosnia. A Short History. S. 197.
  5. Höpken. Die Kommunisten und die Muslime. S. 196-7. & Irwin. Islamic Revival. S. 443.
  6. A. Popović. Islamische Bewegungen. S. 281
  7. Irwin, Zachary. "The Islamic Revival and the Muslims of Bosnia and Herzegovina," East European Quarterly, vol.17, 1983. S. 445-6.
  8. CIA World Factbook: Bosnien und Herzegovina (englisch)
  9. Republika Hrvatska – Državni Zavod Za Statistiku
  10. Serbien#Nationalitäten
  11. http://www.stat.si/Popis2002/gradivo/si-92.pdf
  12. Mazedonien#Ethnien
  13. Montenegro#Bevölkerung
  14. http://www.haberizmit.com/haber_detay.asp?haberID=7028
  15. http://www.trf.nu/joomla/index.php?option=com_content&task=view&id=107&Itemid=80
  16. Rezension: „Schon nach 1840 waren viele Muslime nach Massakern aus Europa geflohen. In den Jahren 1855 bis 66 waren es in der Folge des Krimkriegs eine Million. Hunderttausende flohen aus Serbien und Kreta und nochmals Tausende nach dem russisch-osmanischen Krieg. Und nun gab es die Massaker an Muslimen in den verbliebenen Balkangebieten.“

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