Uroskopie

Uroskopie
Uroskopierad

Die Uroskopie oder Harnschau ist die Betrachtung und Prüfung von unverändertem Urin zu diagnostischen Zwecken (Urognostik). Sie war von der Antike bis weit in die frühe Neuzeit hinein das wichtigste diagnostische Mittel der Medizin im Bereich der Humoralpathologie, der Säftelehre nach Galen von Pergamon (ca. 129 bis ca. 216 n. Chr.). Die Uroskopie geht auf Berichte aus Mesopotamien und dem alten Ägypten zurück und wurde von Galen „perfektioniert“, dessen Einfluss auf das medizinische Denken bis weit ins 16. Jahrhundert reichte. Nach seiner Säftelehre ließen sich an der Beschaffenheit des menschlichen Urins die etwaigen vorliegenden Krankheiten des Betreffenden aufgrund der zugrundeliegenden fehlerhaften Mischung der Körpersäfte nachweisen bzw. ausschließen. Etwa seit 1500 diente die Harnschau dann vor allem der Identifizierung einer geschwächten oder übermäßigen Lebenswärme oder krankhaft veränderter Stoffe, die der Körper über den Harn auszuscheiden suchte.

Inhaltsverzeichnis

Durchführung

Konstantin der Afrikaner bei der Uroskopie

Im Rahmen der klassischen Harnschau wurde der Morgenurin („beim Hahnenschrei“) nach einer ausgeklügelten Technik in einem durchsichtigen Glasgefäß (das Matula genannte Uringlas) gesammelt. Die Matula mit der Urinprobe wurde vor Sonneneinstrahlung und anderen Wärmequellen geschützt in einem Korb dem Harnschauer oder der Harnschauerin gebracht, der bzw. die den Harn dann eingehend und manchmal auch zweimal - zunächst „frisch“ und dann nochmals nach ein oder zwei Stunden - begutachtete. Man prüfte den Urin hinsichtlich Konsistenz, Farbe und Beimengungen, zuweilen auch auf Geschmack und Geruch. 20 verschiedene Harnfarben (von kristallklar über hellgelb, kamelhaarbeige, weinrot, leberfarben und tiefgrün bis schwarz) wurden dabei meist unterschieden (im Fasciculus Medicinae des Johannes de Ketham [= Johannes Kirchheimer] von 1491 beschrieben). Die Konsistenz teilte man in dünn, mittelmäßig oder dickflüssig ein. Des Weiteren wurde der Urin auf Beimengungen (latein. contenta = Inhaltsstoffe) untersucht, zu denen Bläschenbildung, Fetttröpfchen und sand-, blatt-, kleieartige und linsenförmige, unterschiedlich gefärbte Niederschläge, Erst seit dem 17. Jahrhundert verband man einen süßen Geschmack des Urins mit dem Vorliegen eines Diabetes mellitus, der Zuckerkrankheit.

Gute Harnschauer (Mediziner) waren angeblich in der Lage, männlichen und weiblichen Urin auseinander zu halten und selbst Schwangerschaften festzustellen. So konstatierten St. Galler Mönche um 950 dem Bayernherzog Heinrich I., einem Bruder Otto des Großen, dass er in einem Monat niederkomme. Der Herzog war sehr erfreut über diese Mitteilung, hatte er doch zu Testzwecken der Medizinkenntnisse der Mönche in St. Gallen statt seinem den Urin einer hochschwangeren Magd gesandt.

Im Ständebuch von Jost Amman von 1568 ist der Beruf „Der Doctor“ mit Harnglas in der Hand abgebildet, der nur durch einen Blick auf den Urin die Krankheit erkennen und die richtige Medizin verordnen kann. Er ist wie folgt beschrieben:

»Ich bin der Doctor der Artzney /
An dem Harn kann ich sehen frey /
Was kranckheit ein Menschn thut beladn /
Dem kan ich helffen mit Gotts gnadn /
Durch ein Syrup oder Recept /
Das seiner kranckheit widerstrebt/
Daß der Mensch wider werd gesund/
Arabo die Artzney erfund.« 

Der Urinzustand wurde unter Berücksichtigung der körperlichen Verfassung, des Temperaments und Geschlechtes des Probanden sowie der Jahreszeit bewertet. Damit wurde schon damals wie heute der Urin- und der klinische Befund des Patienten im Zusammenhang gewertet. Die Harnschau entwickelte sich neben der Pulsdiagnostik zu einer Diagnosemethode für fast alle damals bekannten Krankheiten. In ausgeklügelten Theorien suchten die gelehrten Ärzte die unterschiedlichen Harnveränderungen mit Hilfe ihrer damaligen pathophysiologischen Theorien zu erklären. Wässriger, dünner Urin beispielsweise zeigte ihnen einen schwachen, womöglich verschleimten Magen oder eine geschwächte Verdauungswärme an.

Im 18. Jahrhundert wurde die Uroskopie zunehmend durch die Anwendung chemischer Nachweisverfahren bereichert. 1736 prägte der Hallenser Kliniker J. Juncker für die Kunst, „... das Wasser zu besehen“, den Begriff „Urologie“. 61 Jahre später beschrieb der schottische Chemiker und Anatom William Cumberland Cruikshank (* 1745 in Edinburgh, † 1800 in London) erstmals Eiweiß im Harn (Albuminurie) als Zeichen einer Lebererkrankung. Auch heute wird routinemäßig im Rahmen einer Urinuntersuchung neben den chemischen Laboruntersuchungen der Urin auf Farbe, Geruch und Beimengungen untersucht und dies im Bericht vermerkt. Dazu kam im 20. Jahrhundert die lichtmikroskopische Untersuchung.

In der Naturheilpraxis ist eine modifizierte klassische Harnschau auch heute noch eine tragende Diagnosemethode.

Wegen der als „unfehlbare diagnostische Methode“ für fast alle Krankheiten von den mittelalterlichen Ärzten angesehenen Harnschau, die dazu als wesentlichste ärztliche Tätigkeit betrachtet wurde, erhob man seinerzeit das kolbenförmige Harnglas, die Matula, zum Standessymbol der Ärzteschaft. Es findet sich noch heute in den Emblemen mehrerer urologischer Berufsverbände wie dem des „Berufsverbandes Deutscher Urologen“, der „Deutschen Gesellschaft für Urologie“ (DGU) und der „Amerikanischen Gesellschaft für Urologie“ (American Urological Association, AUA).

Kritik

Heute wird die Harnschau vielfach mit Aberglaube und Scharlatanerie assoziiert. Doch damals galt sie den meisten hochgelehrten Ärzten als bewährtes Diagnoseverfahren und Grundlage ärztlicher Autorität. Ihre Kritik richtete sich nur gegen die verbreitete Praxis ihrer weniger gelehrten Konkurrenten, Krankheiten aller Art ausschließlich aus dem Harn zu diagnostizieren, ohne den Patienten selbst überhaupt zu Gesicht zu bekommen.

Einer der letzten bekannten „Urinschauer“ war der steirische Naturheiler Johann Reinbacher vulgo Höllerhansl (1988–1935), der ohne jede medizinische Ausbildung seine „Patienten“ (auch in Abwesenheit) allein durch Untersuchung des Harns „behandelte“. Er war beim Volk beliebt und wurde von der Ärzteschaft verklagt.

Zu bedenken ist, dass schon die alten Griechen, Ägypter, Perser, Inder und Chinesen über eine mögliche süßliche Beschaffenheit des Urins Bescheid wussten.[1]. Aber erst 1675 führte Thomas Willis (1621–1675) die zusätzliche Bezeichnung mellitus ein und erst 1776 machte der britische Arzt und Naturphilosph Matthew Dobson (1732–1784) eine Art Zucker im Urin für dessen süßen Geschmack verantwortlich.[2] Johann Peter Frank (1745–1821) wird zugeschrieben, 1794 als erster die Unterscheidung in einen Diabetes mellitus und Diabetes insipidus getroffen zu haben.[3]

Weiterführende Literatur

  • Gundolf Keil: Die urognostische Praxis in vor- und frühsalernitanischer Zeit, medizinische Habilitationsschrift, Freiburg im Breisgau 1970 (maschinenschriftliches Exemplar im Institut für Geschichte der Medizin Würzburg).
  • Johanna Bleker: Die Kunst des Harnsehens - ein 'vornehm und nötig Gliedmaß der schönen Arztney', Hippokrates 41 (1970), S. 285-395.
  • Dieter Breuers: Ritter, Mönch und Bauersleut. Eine unterhaltsame Geschichte des Mittelalters. Lübbe, Bergisch Gladbach 1997, ISBN 3-404-12624-6.
  • Hans Christoffel: Grundzüge der Uroskopie. Gesnerus 10 (1953), S. 89–122.
  • Kay P. Jankrift: Mit Gott und schwarzer Magie. Medizin im Mittelalter. Theiss Verlag, Stuttgart 2005, ISBN 3-8062-1950-8 .
  • Michael Stolberg: Die Harnschau. Eine Kultur- und Alltagsgeschichte. Böhlau-Verlag, Köln/Weimar 2009, ISBN 3-412-20318-1.

Einzelnachweise

  1. pharmacareers: Diabetes – History, part 1
  2. M. Dobson: Nature of the urine in diabetes. In: Medical Observations and Inquiries. 5, 1776, S. 298–310.
  3. Heinz Schott und Mitarbeiter: Die Chronik der Medizin. Chronik-Verlag, 1993, ISBN 3-611-00273-9.

Weblinks


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