Harnschau

Harnschau
Uroskopierad

Die Uroskopie oder Harnschau ist die Betrachtung und Prüfung von unverändertem Urin zu diagnostischen Zwecken. Sie war seit der Antike und dem Mittelalter bis weit in die frühe Neuzeit hinein das wichtigste diagnostische Mittel der Medizin im Bereich der Humoralpathologie, der Säftelehre nach Galen von Pergamon (131 - 200 n. Chr.). Die Uroskopie geht auf Berichte aus Mesopotamien und dem alten Ägypten zurück und wurde von Galen "perfektioniert", dessen Einfluss auf das medizinische Denken bis weit ins 16. Jahrhundert reichte. Nach seiner Säftelehre ließ sich an der Beschaffenheit des menschlichen Urins die etwaigen vorliegenden Krankheiten des Betreffenden aufgrund der zugrundeliegenden fehlerhaften Mischung der Körpersäfte nachweisen bzw. ausschließen.

Inhaltsverzeichnis

Durchführung

Im Rahmen der klassischen Harnschau wurde der Morgenurin („beim Hahnenschrei“) nach einer ausgeklügelten Technik in einem durchsichtigen Glasgefäß mit trichterförmiger Öffnung gesammelt, Matula, kurz Uringlas genannt. Die Matula mit der Urinprobe wurde vor Sonneneinstrahlung und anderen Wärmequellen geschützt in einem Korb dem medizinischen Harn(be)schauer (der Vorläufer des Urologen) gebracht, der die Urinproben zweimal - "frisch" sowie "zwei Stunden alt" - begutachtete. Nach den Vorschriften Galens prüfte man das Urin hinsichtlich Dichte (Konsistenz), Farbe, Geruch, Geschmack und Sediment. 20 verschiedene Harnfarben (von kristallklar über hellgelb, kamelhaarweiß, himbeerrot, brombeerrot, fahlgrün, tiefgrün bis schwarz) wurden dabei unterschieden (im "Fasciculus Medicinae" des Johannes de Ketham [= Johannes Kirchheimer] von 1491 beschrieben). Die Konsistenz teilte man in dünn, mittelmäßig oder dickflüssig ein. Des Weiteren wurde der Urin auf Sediment (Beimengungen, latein. contenta = Inhaltsstoffe) untersucht, zu denen Bläschenbildung, Fetttröpfchen und sand-, blatt-, kleieartige und linsenförmige, unterschiedlich gefärbte Niederschläge, trübende Niederschläge und andere Konkremente gehörten. Der Geschmack des Urins wies unter anderem auf ein Vorliegen der Zuckerkrankheit hin.

Gute Harnschauer (Mediziner) waren in der Lage, männliches und weibliches Urin auseinander zu halten. So konstatierten St. Galler Mönche um 950 dem Bayernherzog Heinrich I., einem Bruder Otto des Großen, dass er in einem Monat niederkomme. Der Herzog war sehr erfreut über diese Mitteilung, hatte er doch zu Testzwecken der Medizinkenntnisse der Mönche in St. Gallen statt seinem das Urin einer hochschwangeren Magd gesandt.

Im "Ständebuch" von Jost Amman von 1568 ist der Beruf "Der Doctor" mit Harnglas in der Hand abgebildet, der nur durch einen Blick auf den Urin die Krankheit erkennen und die richtige Medizin verordnen kann. Er ist wie folgt beschrieben:

»Ich bin der Doctor der Artzney /
An dem Harn kann ich sehen frey /
Was kranckheit ein Menschn thut beladn /
Dem kan ich helffen mit Gotts gnadn /
Durch ein Syrup oder Recept /
Das seiner kranckheit widerstrebt/
Daß der Mensch wider werd gesund/
Arabo die Artzney erfund.« 

Der Urinzustand wurde unter Berücksichtigung der körperlichen Verfassung, des Temperaments und Geschlechtes des Probanden sowie der Jahreszeit bewertet und daraus minutiös erarbeitete Urinkarten gezeichnet. Damit wurde schon damals wie heute der Urin- und der klinische Befund des Patienten im Zusammenhang gewertet. Die Harnschau entwickelte sich neben der Pulsdiagnostik zu einer Diagnosemethode für fast alle damals bekannten Krankheiten. Daraus entwickelte sich schließlich die Ansicht, dass alles, was den menschlichen Körper beträfe, sich im Urin widerspiegele und zu erkennen sei. Das führte zu Aberglaube und Missbrauch, die in der so genannten Uromantie ("Harnwahrsagerei") ihren Höhepunkt fanden.

Im 18. Jahrhundert wandelte sich die Uroskopie durch die Anwendung exakter Nachweisverfahren zu einer wissenschaftlichen Untersuchungsmethode, der Urindiagnostik. 1736 prägte der Hallenser Kliniker J. Juncker für die Kunst, „...das Wasser zu besehen“, den Begriff "Urologie". 61 Jahre später beschrieb der schottische Chemiker und Anatom William Cumberland Cruikshank (* 1745 in Edinburgh, † 1800 in London) erstmals Eiweiß im Harn (Albuminurie) als Zeichen einer Lebererkrankung. Auch heute wird routinemäßig im Rahmen einer Urinuntersuchung neben den chemischen Laboruntersuchungen der Urin auf Farbe, Geruch und Beimengungen untersucht und dies im Bericht vermerkt. Dazu kam im 20. Jahrhundert die lichtmikroskopische Untersuchung.

In der Naturheilpraxis ist eine modifizierte klassische Harnschau auch heute noch eine tragende Diagnosemethode.

Wegen der als "unfehlbare diagnostische Methode" für fast alle Krankheiten von den mittelalterlichen Ärzten angesehenen Harnschau, die dazu als wesentlichste ärztliche Tätigkeit betrachtet wurde, erhob man seinerzeit das kolbenförmige Harnglas, die Matula, zum Standessymbol der Ärzteschaft. Es findet sich noch heute in den Emblemen mehrerer urologischer Berufsverbände wie dem des "Berufsverbandes Deutscher Urologen", der "Deutschen Gesellschaft für Urologie" (DGU) und der "Amerikanischen Gesellschaft für Urologie" (American Urological Association, AUA).

Kritik

Eine Grenze zwischen wissenschaftlichem Bemühen und einer Wahrsagerei mittels Harnschau (der sog. Uromantie) zu ziehen, ist bis über das Mittelalter hinaus kaum möglich. Noch zu unvollständig sind die Kenntnisse über die Zusammensetzung des Harns und die physiologischen Grundlagen der Harnentstehung sowie die Kenntnisse über Krankheitsprozesse im Allgemeinen. Immerhin wurden schon im 16. Jahrhundert seitens der "neugalenistischen Medizin" die Auswüchse der Harnschau bekämpft.

Zu bedenken ist, dass schon die alten Griechen, Ägypter, Perser, Inder und Chinesen über eine mögliche süßliche Beschaffenheit des Urins Bescheid wussten.[1]. Aber erst 1675 führte Thomas Willis (1621–1675) die zusätzliche Bezeichnung mellitus ein und erst 1776 machte der britische Arzt und Naturphilosph Matthew Dobson (1732–1784) eine Art Zucker im Urin für dessen süßen Geschmack verantwortlich.[2] Johann Peter Frank (1745–1821) wird zugeschrieben, 1794 als erster die Unterscheidung in einen Diabetes mellitus und Diabetes insipidus getroffen zu haben.[3]

Literatur

  • Kay P. Jankrift: Mit Gott und schwarzer Magie. Medizin im Mittelalter. Theiss Verlag, Stuttgart 2005; ISBN 3-8062-1950-8
  • Dieter Breuers: Ritter, Mönch und Bauersleut. Eine unterhaltsame Geschichte des Mittelalters. Lübbe, Bergisch Gladbach 1997; ISBN 3-404-12624-6
  • Willy Louis Braekman und Gundolf Keil: Die 'Vlaamsche leringe van orinen' in einer niederfränkischen Fassung des 14. Jahrhunderts. Randbemerkungen zur Gliederung des mittelalterlichen Harntraktats, Niederdeutsche Mitteilungen 24 (1968), S. 75-125
  • Hans Christoffel: Grundzüge der Uroskopie, Gesnerus 10 (1953), S. 89-122

Einzelnachweise

  1. pharmacareers: Diabetes - History, part 1
  2. M. Dobson: Nature of the urine in diabetes. In: Medical Observations and Inquiries. 5, 1776, S. 298–310
  3. Heinz Schott und Mitarbeiter: Die Chronik der Medizin, Chronik-Verlag, 1993 ISBN 3-611-00273-9

Weblinks


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