Urs Tinner

Urs Tinner

Urs Tinner (* 6. November 1965 in Sennwald) ist ein Schweizer Agent, der nachrichtendienstliche Tätigkeiten ausübte. Als Spion der CIA half er mit, das Atomwaffen-Programm von Muammar al-Gaddafi aufzudecken; von den Schweizer Behörden wird er verdächtigt, gegen das Schweizerische Kriegsmaterialgesetz verstossen zu haben.

Inhaltsverzeichnis

Atomschmuggel nach Libyen

Tinner arbeitete ab 1998 in Dubai und Malaysia für Abdul Kadir Khan, den „Vater der pakistanischen Atombombe“, sowie für dessen Vertrauten Buhary Syed Abu Tahir. Dabei gelangte er in den Besitz von Dokumenten, welche für die Herstellung von Kernwaffen und für die Anreicherung von waffenfähigem Uran relevant sind. Er verkaufte[1] diese Dokumente dem amerikanischen Geheimdienst CIA bzw. der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA, welche in der Folge im Oktober 2003 eine Lieferung mit nukleartechnischem Material auf dem Frachter BBC China abfangen konnten. Tinner trug so wesentlich dazu bei, das Atomwaffenprogramm von Libyen aufzudecken und das Atomschmuggel-Netzwerk von Khan zu zerschlagen.[2]

Tinner-Affäre

Urs Tinner wurde am 8. Oktober 2004 in Deutschland verhaftet und am 30. Mai 2005 an die Schweiz überstellt. Auch gegen seinen Vater Friedrich Tinner, seinen Bruder Marco Tinner sowie weitere Personen ergingen Haftbefehle. Unter dem Verdacht, gegen das Schweizerische Kriegsmaterialgesetz verstossen zu haben, wurden die Tinners von der Bundesanwaltschaft über Jahre in Untersuchungshaft gehalten.

Friedrich Tinner – ein Ingenieur, der mit der Cetec AG bzw. PhiTec AG ein Unternehmen für Vakuumtechnik in Sennwald betrieb und Khan seit Jahren persönlich kannte, sie waren ins pakistanische Urananreicherungsprogramm involviert, das zur ersten «islamischen» Atombombe führte[3] – wurde am 31. Januar 2006 wieder auf freien Fuss gesetzt.

Urs Tinner selbst wurde Ende 2008 nach über vier Jahren Untersuchungshaft entlassen.[4][5][6] Sein Bruder Marco wurde im Januar 2009 entlassen.[7] Eine mögliche Anklage ist bei der Bundesanwaltschaft hängig, die darüber entscheiden muss. Der Eidgenössische Untersuchungsrichter Andreas Müller hatte Ende 2010 in seinem Schlussbericht beantragt, Anklage wegen Verstössen gegen das Kriegsmaterialgesetz zu erheben. Marco Tinner soll sich zudem wegen Geldwäscherei verantworten müssen.[8]

Auf Antrag des damaligen Justizministers Christoph Blocher entschied die Schweizer Regierung im November 2007, die Dokumente aus dem Besitz von Urs Tinner zu vernichten. Der Bundesrat begründete diesen Schritt damit, dass man habe verhindern wollen, dass diese Dokumente in falsche Hände gelangten oder die Schweiz deswegen erpresst würde.

Die zwei Brüder reichten Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein und beklagten sich über die Länge der Untersuchungshaft, ausserdem hätte es keinen ausreichenden Tatverdacht noch entsprechende Beweise gegeben. Das seit 2004 geführte Verfahren selber dauere zu lange. Ausserdem hätten sie wegen der Vernichtung der Dokumente durch die Schweizer Regierung, keinen kompletten Zugriff auf die Verfahrensakten erhalten, was gegen das Prinzip der Waffengleichheit zwischen der Staatsanwaltschaft und dem Beschuldigten verstösse. Das Gericht kam zum Schluss, dass die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention nicht verletzt hat. Auf die Beschwerde im Zusammenhang mit der Aktenvernichtung ist das Gericht nicht eingetreten, unter anderem weil das Strafverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Für die Haft- und Verfahrensdauer gab es ausreichenden Gründe.[8]

In der Schweiz sind diese Ereignisse als Tinner-Affäre, auch Tinner-Akten, bekannt. Die Geschäftsprüfungskomission des Parlaments, welche die Veröffentlichung eines offiziellen Berichts gegen den Willen des Bundesrates[9] durchsetzte, kritisierte die Aktenvernichtung scharf: Der Bundesrat habe ohne akute Bedrohung auf Notrecht zurückgegriffen und damit in ein laufendes Verfahren eingegriffen. Es besteht zudem der Verdacht, dass die Vernichtung des Materials auf Druck der USA erfolgte, welche damit die Rolle der CIA in der Atomschmuggel-Affäre vertuschen wollte.[10] Am 9. Juli 2009 sicherte sich das Eidgenössische Untersuchungsrichteramt gegen den Willen des Bundesrates Zugang zu den Akten.[11]

Literatur

  • Douglas Frantz, Catherine Collins. The Man from Pakistan: The True Story of the World's Most Dangerous Nuclear Smuggler.[12]
  • Adrian Levy, Catherine Scott-Clark. Deception: Pakistan, the United States, and the Secret Trade in Nuclear Weapons.
  • David Albright, Paul Brannan: CIA Recruitment of the Three Tinners: A Preliminary Assessment. Institute for Science and International Security, 2010, Online (PDF)
  • Douglas Frantz, Catherine Collins: Fallout: The True Story of the CIA's Secret War on Nuclear Trafficking.[13] Free Press, 2011, ISBN 978-1439183069

Filme

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Millionen für Atom-Kundschafter in: Facts vom 4. April 2007; Archiv-Version
  2. USA stoppten deutschen Frachter mit Atom-Lieferung für Libyen in: NZZ Online vom 1. Januar 2004
  3. Rezension von Douglas Frantz und Catherine Collins: The Nuclear Jihadist. Twelve Books, New York 2007 in der Neuen Zürich Zeitung
  4. Urs Tinner ist frei, sein Bruder bleibt in Haft in: NZZ am Sonntag vom 28. Dezember 2008
  5. Haager Familie im Visier der Ermittler in: vaterland.li; Archiv-Version
  6. Urs Tinner aus Untersuchungshaft entlassen in. Tages-Anzeiger vom 27. Dezember 2008
  7. Marco Tinner aus Untersuchungshaft entlassen in: Schweizer Fernsehen vom 23. Januar 2009
  8. a b Strassburg lehnt Beschwerde der Gebrüder Tinner ab in: Tages-Anzeiger vom 26. April 2011
  9. Veröffentlichung von Tinner-Bericht abgelehnt in: NZZ Online vom 20. Dezember 2008
  10. Affäre Tinner: Harsche Kritik an Schredder-Aktion in: Tages-Anzeiger vom 22. Januar 2009
  11. Der Bundesrat schiesst zurück in: 20 Minuten vom 9. Juli 2009
  12. Rezension in der Neuen Zürich Zeitung
  13. Buch über den Fall Tinner Video in: 10vor10 vom 25. Januar 2011 (5:30 Minuten)

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