Verlust der Mitte

Verlust der Mitte

Verlust der Mitte ist ein 1948 zuerst erschienenes kulturphilosophisches Buch des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr (1896-1984). Die darin geäußerte konservative Kulturkritik machte Sedlmayr in der Öffentlichkeit bekannt.

Inhaltsverzeichnis

Intention

Sedlmayr versucht, wie der Untertitel vermerkt („Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit“), strukturanalytisch die bildende Kunst als Zeichen der Zeit zu deuten und durch ihre Analyse die vorherrschenden geistes- und kulturgeschichtlichen sowie gesellschaftlichen Paradigmen zu erschließen.

Sedlmayr, wissenschaftlich in erster Linie mit Architektur beschäftigt (er hatte seine Dissertation über den Barockarchitekten Johann Bernhard Fischer von Erlach (1656-1723) verfasst), analysierte auch im Verlust der Mitte die vorherrschende Weltanschauung vorrangig durch die Betrachtung der Bewältigung von Bauaufgaben. Er stellte die Bauwerke und Architekten heraus, die dem modernistischen Zeitgeist am besten entsprachen.

Inhalt

Das Werk ist in drei Abschnitte gegliedert, die jeweils in mehrere Kapitel unterteilt sind.

Erster Teil: Symptome

In diesem Teil wird ein grundlegender Wandel der Bauaufgaben in der Moderne behauptet, der sich zuerst um 1760 mit dem Aufkommen des englischen Gartens symptomatisch gezeigt habe. In den grundlegenden Jahren des Umbruchs vor der Französischen Revolution änderte sich das Bauen als Kunst radikal. Wurden früher Kirche und Palast-Schloss de facto als einzige architektonische Kunstwerke betrachtet, kamen der Baukunst gegen Ende des 18. Jahrhunderts neue führende Aufgaben zu, in chronologischer Folge waren dies der Landschaftsgarten, das architektonisches Denkmal, Museum, Nutzbau und Wohnhaus, Theater, Ausstellung und das „Haus der Maschine“ (Garagen, Fabriken, Bahnhöfe, Flugzeughallen).

Sedlmayr beschreibt die Entwicklung seit Ende des 18. Jahrhunderts als einen Prozess der Autonomisierung gegenüber den traditionellen „führenden Aufgaben“, die nach Sedlmayr in der Gestaltung von Kirche und Palast-Schloss gelegen haben, und der Ausdifferenzierung der Kunst in einzelne „reine“ Kunstgattungen. Dies wird auch anhand der Entwicklung der modernen Malerei gezeigt.

Francisco de Goya sei als Vorläufer der Moderne ein "Alleszermalmer" der Malerei, ähnlich wie z.B. Immanuel Kant in der Philosophie. Obgleich als Hofmaler tätig, habe er durch seinen individuellen, subjektiven Zugang zur Malerei die "öffentliche Sphäre" untergraben, indem er Träume und Wahnvorstellungen in den Mittelpunkt vieler Bilder gestellt habe. Neben Goya werden u.a. auch in der Kunst Caspar David Friedrichs, Daumiers und Cézanne Symptome der - nach Auffassung Sedlmayers - "krankhaften" Entwicklung der modernen Gesellschaft analysiert. Sedlmayrs Interpretation zufolge erhebt Caspar David Friedrich die Verlassenheit des Menschen in der Natur zum Wesen des Menschen. In der Malerei Cézannes sei das "reine Sehen" gereinigt von allen "vorgewußten" intellektuellen und gefühlshaften Elementen.

Insgesamt malt er ein düsteres Bild des Umbruchs, in dem er die Unterordnung der verschiedenen Künste unter eine gemeinsame Idee, die des sakral gebundenen Gesamtkunstwerks, verloren sieht. Ein Stilchaos sei die Auswirkung der Französischen Revolution, die ein Ende der Stilgeschichte herbeigeführt habe.

Zweiter Teil: Diagnose und Verlauf

Im zweiten Teil wird Sedlmayr hinsichtlich seiner Meinung zum Umbruch konkreter und kritisiert diesen diagnostisch als einen „Verlust der Mitte“, also den Verlust des rechten Maßes, der zurückgreifend auf Blaise Pascals Worte „Die Mitte verlassen, heißt die Menschlichkeit verlassen.“ gleichbedeutend mit dem „Verlust des Humanismus“ sei. Der moderne, „autonome“ Mensch habe allem gegenüber eine Störung. Er habe ein gestörtes Verhältnis zu Gott, da er in seiner Kunst nicht mehr ihm diene (Tempel, Kirche, Götterbild); zu sich selbst, da er sich mit Misstrauen, Angst und Verzweiflung betrachte; zu seinen Mitmenschen, da der Mensch in der Kunst auf das Niveau der übrigen sichtbaren Dinge herabgedrückt werde; und zur Natur, da er sich nicht mehr als Krone der Schöpfung über sie erhebt, sondern sich mit ihr solidarisch erklärt.

Dritter Teil: Zur Prognose und Entscheidung

Im dritten Teil schließlich gibt Sedlmayr eine Prognose, in der er der Moderne die Chance einräumt, später als geschlossenes – insbesondere durch sein Chaos, seine Gottferne, seine Gesamtaufgaben der Kunst und seine neue Auffassung von Kunst geprägtes – Zeitalter betrachtet zu werden.

Rezeption

Sedlmayrs Buch erzielte sehr hohe Auflagen und wurde in der medialen Öffentlichkeit und Fachwissenschaft kontrovers diskutiert. Konservative Kreise schätzten seine Kritik an der Moderne und modernen Kunst und riefen dazu auf, sich auf alte Werte und Ausdrucksformen zu besinnen; progressive Leser, wie etwa Willi Baumeister oder Werner Haftmann, kritisierten Sedlmayr für seine negative Wertung des Umbruchs. Teilweise wurde auch – wie etwa von der Kunsthistorikerin Hilde Zaloscer[1] oder dem Schriftsteller Rolf Schneider – auf Parallelen zum Konzept der Entarteten Kunst der Nationalsozialisten hingewiesen. Hans Aurenhammer verweist darauf, dass Sedlmayr schon 1930 NSDAP-Mitglied gewesen sei und 1939 in der Schrift Die Kugel als Gebäude, oder: Das Bodenlose [2] "mit antisemitischer Verhöhnung der Moderne" bereits "Kerngedanken" von 'Verlust der Mitte' (1948) "vorweggenommen" habe.[3] Sedlmayr wurde 1945 als NSDAP-Mitglied zwangsemeritiert, lehrte aber 1951-64 als Ordinarius in München. Eine neuerliche Berufung nach Wien stieß 1962 wegen Sedlmayrs Aktivitäten am Wiener Institut vor 1945 auf so starken Widerstand, dass Sedlmayr absagte. Der These, dass "Verlust der Mitte" durch die nationalsozialistische Sicht der Entarteten Kunst geprägt sei oder diese rechtfertige,[4][5] wurde allerdings von anderer Seite – beispielsweise vom konservativen Publizisten Alexander Gauland – vehement widersprochen[6].

Trotz der unzeitgemäßen Weltanschauung Sedlmayrs und seiner politischen Verstrickung zur NS-Zeit war das Interesse an ihm noch zwei Jahrzehnte nach seinem Tod ungebrochen oder ist sogar wieder aufgelebt. Für ernsthafte Kunsthistoriker führe insofern an ihm kein Weg vorbei.[7] Von Horst Bredekamp wurde bemerkt, dass Sedlmayrs Analyse sich über Strecken fast nahtlos in die Gesellschaftstheorie Niklas Luhmanns (1927-1998) einfügen ließe. Allerdings wird die Ausdifferenzierung der Künste und der Zerfall einer religiös, politisch oder kulturell bestimmten "Mitte" bei Luhmann nicht negativ bewertet. Vielmehr lasse Luhmanns „Hinweis, daß der Zerfall ‚genügend Möglichkeitsüberschüsse‘ birgt und zunächst unwahrscheinlich wirkende, neue Systembildungen erlaubt“ Sedlmayrs antimoderne Kunst- und Gesellschaftskritik ins Leere laufen.[8]

Gegner und Befürworter können sich heute darauf einigen, dass die Veröffentlichung des Buches das allgemeine Interesse an der modernen Kunst wie kaum ein anderes Werk gefördert hat.

Werk

  • Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Otto Müller Verlag, Salzburg - Wien 1948. 11. unveränderte Auflage 1998, ISBN 3-7013-0537-4. Das Bucher erschien auch bei Bertelsmann (1983) und als Taschenbuch in mind. 17 Auflagen bei Ullstein (ab 1955).

Literatur

Siehe auch die allgemeine Literatur zu Sedlmayr.
  • Hans H. Aurenhammer: Hans Sedlmayr und die Kunstgeschichte an der Universität Wien 1938-1945. In: Jutta Held, Martin Papenbrock (Hrsg.): Kunstgeschichte an den Universitäten im Nationalsozialismus, Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft, Band 5, Göttingen 2002, S. 161-194.
  • Umberto Eco: Vom Cogito interruptus, in: Über Gott und die Welt. Essays und Glossen, München-Wien: 1985. („Herr Professor Sedlmayr, Sie sind ein Blender.“)
  • Peter Haiko: "Verlust der Mitte" von Hans Sedlmayr als kritische Form im Sinne der Theorie von Hans Sedlmayr, in: Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938-1945, Wien 1989, S. 77ff.
  • Werner Hofmann: Im Banne des Abgrunds: der "Verlust der Mitte" und der Exorzismus der Moderne. Über den Kunsthistoriker Hans Sedlmayr, in: Gerda Breuer (Hg.): Die Zähmung der Avantgarde: Zur Rezeption der Moderne in den 50er Jahren, Basel-Frankfurt 1997, S. 43-54.
  • Werner Hofmann: Denker der Kehrseiten (Nachwort), in: H. Sedlmayr: Verlust der Mitte: Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Ausdruck der Zeit, Klassiker des modernen Denkens, Gütersloh 2004, S. 296-308.
  • Hans Körner: ‚Gefahren der modernen Kunst‘? Hans Sedlmayr als Kritiker der Moderne, in: Christian Drude, Hubertus Kohle (Herausgeber): 200 Jahre Kunstgeschichte in München. Positionen – Perspektiven – Polemik 1780-1980, München-Berlin 2003, S. 209-222.
  • Willibald Sauerländer: Hans Sedlmayrs ‚Verlust der Mitte‘, in: Merkur 47/531 (1993), S. 536-542.
  • Norbert Schneider: Revolutionskritik und Kritik der Moderne bei Hans Sedlmayr, in: XXVIIe congrès internat. d'histoire de l'art (1989), Strasbourg 1992, S. 85-91.
  • Martin Warnke: Apologet der Mitte, in: Ders.: Künstler, Kunsthistoriker, Museen. Beiträge zu einer kritischen Kunstgeschichte, Luzern-Frankfurt 1979, S. 74-76.
  • Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik, Köln 1997, S. 282-295.

Einzelnachweise

  1. Hilde Zaloscer: Kunstgeschichte und Nationalsozialismus, in: Friedrich Stadler (Hg.): Kontinuität und Bruch. 1938–1945–1955, LIT Verlag Berlin-Hamburg-Münster 2004, S. 283-298, hier S. 296, Online bei Google Books.
  2. In: Das Werk des Künstlers, Band 1, 1939.
  3. Hans Aurenhammer: Online-Rückblick auf "150 Jahre Kunstgeschichte an der Universität Wien", Wien 2002.
  4. Friedrich Stadler: „The Emigration and Exile of Austrian Intellectuals“, in Stadler, Friedrich und Weibel, Peter, Hg. The Cultural Exodus from Austria. New York: Springer, 1995, S. 14-26.
  5. Siehe auch Artikel "Hans Seldmayr" in Dictionary of Art Historians
  6. Alexander Gauland: Als die Moderne Gott vertrieb, in: Welt Online vom 20. März 2008.
  7. Thomas Zaunschirm: "Sedlmayr + Bredekamp", in: Ders. : Kunstwissenschaft. Eine Art Lehrbuch. Schriftenreihe des Instituts für Kunst- und Designwissenschaften (IKUD) der Universität Essen, Band 7. Klartextverlag Essen 2002, S.123-133 [1].
  8. H. Bredekamp, Die Kunst der Paradoxie, Rechtshistorisches Journal 1998, 415, 416 ff.

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