Progressivismus

Progressivismus

Progressivismus (engl. progress von lat. progressio, onis, f.: Fortschritt) bezeichnet intellektuelle Strömungen in Politik, Bildung, Sozialwesen und Kultur. Er ist vor allem mit der Geschichte der Vereinigten Staaten verknüpft, wo der Progressivismus im 19. Jahrhundert als linksliberale Antwort auf die Industrialisierung und den sozialen Wandel entstand; er wurde als Alternative zum Konservativismus und dem Sozialismus verstanden.

Insbesondere in den USA erlangte er − durch den Versuch von Theodore Roosevelt, durch Abspaltung von der Republikanischen Partei eine „Progressive Party“ zu etablieren − eine gewisse Bedeutung. In der Schweiz existierten geraume Zeit die Progressiven Organisationen der Schweiz (POCH), die jedoch später in den Grünen aufging. Eine bekannte deutsche Partei war die Deutsche Fortschrittspartei.

Inhaltsverzeichnis

Politischer Progressivismus

Der Progressivismus unterscheidet sich von Teilen der europäischen Sozialdemokratie und vom demokratischen Sozialismus vor allem durch die typisch amerikanische Betonung des Individuums, seiner Freiheitsrechte und dem grundsätzlichen Bekenntnis zum Markt. Anders als die europäischen Organisationsformen der Linken neigt der Progressivismus auch zur direkten Demokratie. Daher tritt er für institutionelle Reformen ein, zu denen größtmögliche Transparenz, öffentliche Verantwortlichkeit von Verwaltungsentscheidungen, Volksbegehren und Volksentscheide und andere Instrumente direkter Demokratie gehören. Auch die öffentlichen Vorwahlen, die heute die Kandidatur z. B. zur Nominierung als US-Präsidentschaftskandidat prägen, sind Ergebnis der progressiven Politik.

Der Progressivismus geht historisch von Werten wie Menschenrechten, sozialer Gerechtigkeit und dem Recht auf Bildung und Aufstieg aus.

Um 1900 gehörten die Progressives in den USA zu den Befürwortern von Anti-Kartell-Politik, strenger Regulierung von Konzernen und Monopolen, als auch von staatlich finanzierten Umweltschutzmaßnahmen (u.a. Einrichtung von Nationalparks). Auch das Wahlrecht für Frauen (in den USA bundesweit eingeführt 1920) gehörte dazu.

In den Großstädten hatte der Progressivismus ebenso Anhänger wie bei Bauern auf dem Land. Im ländlichen Amerika kämpften die unabhängigen Kleinbauern u.a. gegen die Macht der Banken und Großgrundbesitzer, gegen den Goldstandard in der Währungspolitik und für eine staatliche Unterstützung der Landwirtschaft.

In der amerikanischen Linken, von der Demokratischen Partei (z. B. Barack Obama und Hillary Clinton) bis zu den Grünen (z. B. der Verbraucheranwalt Ralph Nader), berufen sich manche auf das progressive Erbe.

Der Progressivismus hatte im 19. und 20. Jahrhundert auch eine ausgesprochen soziale Komponente, die dem im Vergleich zu Europa verspäteten Wohlfahrtsstaat in den USA den Boden bereitete. Dazu gehörten eine aktive und professionelle Sozialarbeit, die in Verantwortung der Behörden und nicht nur der kirchlichen und bürgerlichen Freiwilligenarbeit liegt; eine aktive Stadt- und Wohnungspolitik, die menschenwürdiges Wohnen in der Großstadt ermöglicht und sich um soziale Brennpunkte kümmert; eine aktive Arbeits-, Frauen- und Kinderschutzpolitik in den Betrieben; die Unterstützung der Gewerkschaften; außerdem die Unterstützung des Verbraucherschutzes und der Verbraucherbewegung.

Viele Kulturschaffende und Journalisten unterstützten den Progressivismus mit aufklärerischen Werken, auch mit einem investigativen Journalismus (muckraking). Bekannt ist z. B. Der Dschungel von Upton Sinclair, der die hygienischen und sozialen Missstände in den Schlachthöfen von Chicago beschreibt.

Historiker betonen die Grenzen, Widersprüche und Verfolgungsorganisationen in der Reformbewegung der Progressive Era. „Viele Progressive vertraten nicht nur vehement die Forderung nach möglichst rascher 'Amerikanisierung' der Einwanderer, was deren ethnisch-religiöse Identität zu zerstören drohte, sondern stellten sich auch in die vorderste Front der Verfechter von Einwanderungsbeschränkungen.“[1]

Progressivismus im Bildungswesen

Der pädagogische Progressivismus ist bis heute sehr stark in amerikanischen Schulen und Hochschulen verankert. Er sieht den Menschen vor allem als gesellschaftliches Wesen, der am besten in einem sozialen, anwendungsnahen Kontext gemeinsam mit anderen lernt. Die Bildungsphilosophie dahinter und auch zahlreiche praktische Schulversuche wurden vom Pädagogikreformer und Professor John Dewey inspiriert. Dewey wird von US-Pädagogen bis heute als eine der wichtigsten akademischen Leitfiguren der Erziehungswissenschaften angesehen.

Progressive Pädagogik ist weniger interessiert an einem klassischen Bildungskanon, sondern sucht die Lernerfahrung im Hier und Jetzt. Erfahrungslernen, Learning-by-doing und Projektarbeiten werden ebenso hoch gehalten wie kritisches Denken, Problem-lösendes Denken und die Gruppendiskussion. Entdecken, Verstehen und Handeln sind wichtiger als nur abrufbares Handeln. Progressive Pädagogen sehen ihre Verantwortung darin, Lernende zu sozial verantwortlichen und demokratisch handelnden Menschen herauszubilden.

Die amerikanische Bewegung wurde teilweise stark von der deutschen Kindergarten- sowie europäischen Montessori- und Pestalozzi-Bewegung beeinflusst.

Insgesamt orientiert sich der Progressivismus besonders am Lernenden, nicht am Wissen oder Lernziel oder den Prioritäten des Lehrers. Hier ergaben sich Schnittstellen zur Entwicklungspsychologie

Die 'progressive' Pädagogik wirkt bis in die Gegenwart weiter. Ziele, wie sie z. B. im No Child Left Behind-Programm der Regierung Bush enthalten sind, werden vom Leitziel des objektiven Testerfolgs geprägt; Lehrer sollen ihre Schüler dazu bringen, in objektivierten Leistungstests bestimmte Standards zu erreichen. Die Durchsetzung zentralisierter Tests geht auf die Progressive Era zurück. Im Ersten Weltkrieg wurden erstmals alle amerikanischen Rekruten gezwungen, einen Intelligenztest abzulegen.

Kritiker der progressiven Pädagogik wie der ehemalige New Yorker Lehrer John Taylor Gatto sehen gerade in der Senkung des akademischen Anspruchs, wie sie seit dem frühen 20. Jh. propagiert wurde, den Beginn der Verwandlung der Schule zu einem Instrument der Verhaltensmodifikation und der Erziehung zum Konformismus, das den meisten Kindern den Zugang zu den geistigen Traditionen des Westens vorenthält und damit die Entwicklung der Kritikfähigkeit verhindert. An den privaten Eliteinternaten, die von den Kindern der Oberschicht besucht werden, werde dagegen weiter gemäß dem traditionellen Curriculum gelehrt.[2]

Literatur

  • Daniel T. Rodgers: Atlantic Crossings: Social Politics in a Progressive Age, Paperbackausgabe, Harvard University Press, 2000, ISBN 0-674-00201-6

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Jürgen Heideking, Christof Mauch, Geschichte der USA, Tübingen und Basel. 5. Auflage 2007, S. 212 bzw. 213
  2. Vgl. John Taylor Gatto, The Underground History of American Education. An Intimate Investigation into the Prison of Modern Schooling, New York: The Oxford Village Press, 2006

Weblinks


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