Westukraine

Westukraine

Als Westukraine werden allgemein zwei unterschiedlich große Teile der Ukraine bezeichnet

Zentrum der Westukraine ist Lwiw (Lemberg).

Historisch, ethnisch, religiös und politisch spielt die unterschiedlich abgegrenzte Region Westukraine eine von der Ostukraine, aber auch von der Hauptstadt Kiew getrennte Sonderrolle.

Inhaltsverzeichnis

Historische Betrachtungsweise

Im Laufe der Geschichte gehörten der Osten und Süden der Ukraine wiederholt und längerfristig zu den Steppenreichen der eurasischen Nomaden- und Reitervölker der Chasaren, Kyptschaken (Hauptstadt Sharukhan bei Charkiw) und Tataren (Goldene Horde an der Wolga), während die Bauernschaft im Westen der Ukraine die Kiewer Rus stützte. Seit dem 14. Jahrhundert dominierten im Westen der Ukraine die Litauer.

Unter Litauern und Polen setzte eine Katholisierung der Ukraine ein, die nach der Kirchenunion von Brest zunächst auch weite Teile der westlichen Ukraine erfasste, mit dem Austritt Kiews aus der Union aber 1630 ein vorläufiges Ende fand.

Nach dem Zusammenbruch der tatarischen und litauischen Herrschaft erhoben sich die orthodoxen Kosaken der Ostukraine 1648 gegen die katholischen Polen und stellten sich mitsamt Kiew 1654 unter russischen Schutz. Allein die Westukraine blieb 1668 zunächst noch bei Polen, 1793 und 1795 und 1809 fiel auch der Großteil der übrigen Ukraine an Russland.

Parallel zu den polnischen Gebietsverlusten an Russland wurde auch das Gebiet der Unierten Kirche von den orthodoxen Kirchen zurückgedrängt. Daß bei der Teilungen Polens 1772 und 1795 Galizien an Österreich fiel, bewahrte allein diesen äußersten Westen der Ukraine vor russischem Einfluss. Isoliert von den Russen und Kiew führten die Westukrainer in Galizien einen erbitterten Selbstbehauptungskampf gegen Polen und Österreicher, Katholiken und Unierte, der in ihnen allmählich den Glauben weckte, die einzigen „wahren“ Ukrainer zu sein. Hochburg eines im 19. Jahrhundert aufkommenden ukrainischen Nationalismus war daher nicht etwa das unter russischer Herrschaft stehende Kiew, sondern Galizien.

Beim Zusammenbruch Österreich-Ungarns und des russischen Zarenreiches kam Galizien gegen den Willen ukrainischer Nationalisten nicht an eine unabhängige Ukraine, sondern an Polen, die sich in Lemberg festgesetzt hatten. Nachdem die Sowjetunion im September 1939 das Gebiet militärisch besetzt und staatlich angegliedert hatte, deportierte sie etwa eine Million Polen und Ukrainer nach Sibirien. Bevor die Wehrmacht im Juni 1941 in das Gebiet einrückte, wurden durch den NKWD 24.000 aus politischen Gründen Gefangene liquidiert.[1]

Ethnische und religiöse Betrachtungsweise

Während im Osten und Süden in den neuen Regionen zwischen Charkiw und Odessa die russische Minderheit dominiert, stellen Ukrainer in den westlichen und zentralen Regionen sowie Kiew die Bevölkerungsmehrheit – östlich von Kiew auch in Tschernihiw, Sumy, Poltawa, Kirowohrad, Tscherkassy.

Im Gegensatz zu den zumeist atheistischen, russisch-orthodox oder ukrainisch-orthodoxen (mit Bekenntnis zum Moskauer Patriarchat) Bewohnern der Ostukraine sind die Bewohner der Westukraine und Kiews zumeist Katholiken, Unierte und Ukrainisch-Orthodoxe mit Bekenntnis zum Kiewer Patriarchat.

Die ukrainische Sprache dominiert vor der russischen, im äußersten Westen ist die russische Sprache teilweise überhaupt nicht verbreitet. In Galizien gibt es noch immer eine kleine polnische und sogar deutsche Minderheit (Katholiken), in der Karpatoukraine leben zahlreiche weitere (z. T. sogar protestantische) nichtukrainische und westukrainische Minderheiten.

Politische Betrachtungsweise

Nach dem Sieg der Sowjets und der Niederschlagung der ukrainischen Unabhängigkeitsbestrebungen war zunächst 1920–1934 das ostukrainische Charkiw anstelle Kiews Hauptstadt der Ukrainischen Sowjetrepublik. Die Sowjets förderten Industrie im Osten des Landes und Schifffahrt im Süden gegenüber der Landwirtschaft im Westen, die zur „Kornkammer“ wurde.

Im Ergebnis des Zweiten Weltkriegs kam 1946 dann aber auch Ost-Galizien mit Lwiw sowie die Karpatoukraine unter sowjetische Herrschaft. Bis 1947, vereinzelt sogar bis 1954 widersetzten sich die religiös und national verschiedenen Westukrainer bewaffnet der sowjetischen Herrschaft, siehe Ukraiinske Wyswolne Wijsko (Ukrainische Befreiungsarmee) und Ukrajinska Powstanska Armija (Ukrainische Aufstandsarmee). Auch danach blieb Lemberg eine Hochburg der nationalen und religiösen Opposition.

Zweite Stichwahl 2004, die Westukraine wählte „orange“

Seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 zeigten alle Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, dass diese Teilung des Landes anhält. Alle ukrainischen Wahlsieger waren auf eine Mehrheit der Stimmen der russischstämmigen Ukrainer in der Ostukraine angewiesen, so zuletzt auch im Stichwahlgang der Präsidentschaftswahlen in der Ukraine 2004. Der Wiederholungswahlgang verstärkte diese Polarisierung noch. Während der von Russland unterstützte Ostukrainer Wiktor Janukowytsch in allen neun Regionen des Ostens und Südens z. T. sehr deutliche Mehrheiten erzielte, setzte sich der westukrainische Kandidat Wiktor Juschtschenko schließlich durch. Im Gegensatz zu weniger deutlichen Mehrheiten in Kiew und der zentralen Ukraine erzielte Juschtschenko im äußersten Westen Mehrheiten von über 90 %.

Kritik an dem Modell einer "bipolaren Ukraine"

Insbesondere während der Berichterstattung in Folge der Präsidentschaftswahlen in der Ukraine 2004 wurde in westlichen Medien das Bild einer Ost-West-Spaltung des Landes bemüht, um die politische Trennung zwischen Wiktor Juschtschenko und Wiktor Janukowytsch zu illustrieren. Da die Gebiete der heutigen Ukraine durch verschiedene Vielvölkerreiche geprägt wurden, haben sich die Regionen kulturell anders entwickelt, was sich auch im Sprachgebrauch niederschlägt. Die Darstellung einer Ost-West-Dichotomie, geprägt durch einen russischsprachigen, sowjetnostalgischen Osten und einen ukrainischsprachigen, nationalistischen und an demokratischen Werten orientierten Westen, verkennt aber das Spektrum nationaler und sprachkultureller Identitäten in der Ukraine. Laut der Volkszählung 2001 bezeichneten sich von den etwa 48 Millionen ukrainischen Bürgern 77,8% als ethnische Ukrainer (wobei aber nur 67,5% Ukrainisch als ihre Muttersprache angaben) und 17,3% als ethnische Russen. Zu den weiteren Minderheiten gehören Weißrussen (0,6%), Moldauer (0,5%) und Krimtartaren (0,5%). Darüber hinaus gibt es bulgarische, ungarische, rumänische, polnische und jüdische Minderheiten. Die Bevölkerung der Ukraine lässt sich also hauptsächlich in ukrainischsprachige Ukrainer, russischsprachige Ukrainer und russischsprachige Russen unterteilen, wobei der Wandel zwischen den Identitäten oftmals fließend ist. So kann die Selbstdefinition als Ukrainer auch mit einer Verbundenheit zur russischen Sprachkultur einhergehen.[2]

Literaturangaben und Anmerkungen

  1. Konrad Schuller: "Die Vorgeschichte". Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. August 2009, S. 40
  2. Vgl. Wilfried Jilge, Gespalten in Ost und West? Sprachenfrage und Geschichtspolitik in der Ukraine im Kontext der Wahlkämpfe 2004 und 2006. In: Ukraine-Analysen 19, ISSN 1862-555X, S. 18-22.

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