Wiener Dioskurides

Wiener Dioskurides
Widmungsbild (fol. 6 verso) Prinzessin Juliana Anikia flankiert von den allegorischen Gestalten Großherzigkeit und Klugheit

Der Wiener Dioskurides (auch Juliana-Anicia-Kodex) ist eine spätantike Sammelhandschrift mit Bilderherbar, figürlichen Malereien und zoologischen Illustrationen. Sie wurde vor 512 n. Chr. für die byzantinische Aristokratin Juliana Anicia angefertigt und ist ein wertvolles Quellenwerk für antike Naturwissenschaften und frühbyzantinische Kunst- und Kulturgeschichte.[1] Seit 1997 zählt die Handschrift zum UNESCO-Weltdokumentenerbe; Aufbewahrungsort ist die Österreichische Nationalbibliothek. Sie umfasst heute 485 großformatige Pergamentblätter (etwa 30 x 37 cm).

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Die pharmakologische Sammlung des Pedanios Dioskurides basiert auf den älteren Werken des Krateuas und des Sextius Niger und besaß vom Mittelalter bis zur Neuzeit große Autorität – nicht nur im öströmischen Raum, sondern auch im lateinischen Kulturkreis. Der eigentliche Text des Dioskurides De materia medica ist nach Sachgebieten geordnet, der Wiener Dioskurides-Kodex weist allerdings eine ältere alphabetische Gliederung auf.[2] Es ist eine Sammelhandschrift mit sechs pharmakologischen und naturwissenschaftlichen Schriften (485 Blätter). Doch nimmt das „Dioskuridesherbarium“ (fol. 12-387) mit 383 Bildern von Arzneipflanzen den meisten Raum ein. Zu jedem Pflanzenbild sind Texte nach Dioskurides, Krateuas und Galenos gestellt, sowie verschiedene Varianten der Pflanzennamen. Die beigefügten Schriften handeln vor allem von Giften sowie von Fischen und Vögeln, ihnen vorangestellt ist ein anonymes Lehrgedicht über die Kräfte göttlich geweihter Pflanzen (Carmen de viribuis herbarum fol. 388 recto bis 392 recto).[1] Eine antike Vorlage stammt aus dem 3. oder 4. Jahrhundert, dabei handelte es sich wohl nicht um ein Buch in unserem Sinne, sondern um eine Buchrolle. Die daraus kopierten Pflanzenbilder vermitteln jedenfalls einen guten Eindruck vom Niveau hellenistischer Buchkunst in Alexandrien.[3]

Ursprünglich enthielt der Kodex 546 Blätter – die Bilder der Mandragora (nach fol. 26) etwa, gingen bereits vor dem Mittelalter verloren. Heute finden sich an anderer Stelle (fol. 287 bis 289) drei kleinere Blätter, die eine Abschrift des fehlenden Textes „perì mandragóra“ in griechischer Schrift des 13. Jahrhunderts enthalten – außerdem die Zeichnung einer Alraune.[4]

Eines der Autorenbilder (fol 5. verso)
Schmuckblatt mit der stark beschädigten Miniatur eines Pfauen (fol. 1. verso)

Die Autorenbilder stammen aus byzantinischer Zeit. Gleich auf zwei von ihnen (fol. 4 verso und fol. 5 verso) ist die Mandragora dargestellt, wohl weil deren menschengestaltige Wurzel als augenfällig göttlich signiert galt. Das Bild auf fol. 5 zeigt eine allegorische Szene, in der Epinoia (Denkkraft) eine Mandragora hält, ein Maler (links) ein Abbild schafft und Dioskurides (rechts) die Pflanze beschreibt. Die Pflanzenbilder dagegen sind Kopien älterer Originale aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. Deren Herkunft ist nicht komplett geklärt, teilweise gehen sie wohl auf Krateaus zurück.[5] Diese lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen: Die Bilder von fol. 12 verso bis 42 verso, also etwa von Beifuß, Osterluzei und Wegerich, sind räumlich ausgewogen und naturhaft. Die andere Gruppe erscheint flach und eher schematisch, als wären ihre Vorbilder gepresste oder getrocknete Präparate gewesen.[3]

Die Illustrationen zeigen überwiegend hohe künstlerische Qualität, sind aber nicht immer korrekt im Sinne der Naturtreue; mitunter weichen Beschreibung und Illustration ab. Offenbar war den Kopisten nicht immer bewusst, wie die (teilweise unerreichbaren) Originale in Wirklichkeit beschaffen waren. Eine Rolle spielten auch Blattverluste und die zahlreichen Neubindungen: So gelangte etwa 1406 durch den byzantinischen Gelehrten Johannes Chortasmenos das Bild eines Pfauen als Schmuckblatt an den Beginn des Kodex, während dessen ursprünglicher Platz am Beginn der Paraphrase der „Ornithiaka“ des Dionysios war.[6] Vom diesem Lehrgedicht über Vögel, des ansonsten unbekannten Autors, ist eine prosaische Bearbeitung erhalten, daher der Name. Allerdings ist diese unvollständig. So fehlen insgesamt zehn Blätter, darunter die Beschreibung des Pfauen.[7]

„Alter-“ und „neuer Index“ und „alter Titel“

Der Ziertitel

Der „alte Index“ (fol. 10 verso bis 11 recto) umfasst 264 Namen, während der spätere Gesamtbestand 435 beträgt. Die alte Auflistung umfasst möglicherweise den Kernbestand einer verschollenen Vorlage die später erweitert wurde. In einem „neuen Index“ aus dem Jahr 1406 ist deshalb auf den ursprünglich leeren Blattvorderseiten 4, 5, 6 und 7 der fehlende Bestand nachgetragen, allerdings ist diese Liste nicht vollständig erhalten. Nach dem „alten Index“ folgt der „alte Titel“ in schwarz-roter Zierschrift. Er lautet, ebenso wie der Text im Ziertitel auf Blatt 7 in deutscher Übersetzung: Erhalten ist hier das Werk des Pedanios Dioskurides aus Anazarbos über die Pflanzen, Wurzeln, Säfte und Samen, zugleich die Blätter und Heilmittel. Beginnen wir also der Reihe nach mit dem Buchstaben Alpha.[8][9]

Material und typografische Gestaltung

Die Blätter des Kodex messen ungefähr 30 x 37 cm.[10] Das Pergament wurde aus dem Fell von Ziegen und Kälbern gewonnen, bei letzteren auch von ungeborenen. Solches Jungfernpergament ist sehr empfindlich und so sind manche der Seiten stark beschädigt, bis verstümmelt. Der verwendete Schrifttyp ist archaisierende griechische Majuskel, sogenannte Bibelmajuskel, spätere Transkriptionen sind in modernerer Minuskelschrift ausgeführt. Die meisten Blätter sind mit durchschnittlich 32 Zeilen beschrieben, jedoch gibt es deutliche Abweichungen: Blatt 269 verso weist 50 Zeilen auf.[11]

Inhaltsverzeichnis

Erstes Autorenbild. Heuresis überreicht Dioskurides eine Alraunwurzel
  • Das Pfauenbild (Schmuckblatt) auf 1 verso
  • Cheirongruppe (erstes Ärztebild) 2 verso
  • Galenosgruppe (zweites Ärztebild) 3 verso
  • Neuer Index von Chortasmenos, 4r, 5r, 6r, 7r
  • Heuresis und Dioskurides (erstes Autorenbild) 4 verso
  • Atelier des Dioskurides (zweites Autorenbild) 5 verso
  • Widmungsbild für Juliana Anikia, 6 verso
  • Ziertitel, 7 verso
  • Alter Index, 8 recto bis 10 verso
  • Alter Titel, 10 verso bis 11 recto
  • Das Herbarium, 12 verso bis 387 recto
  • Carmen de viribus herbarum (anonymes Gedicht über Heilpflanzen) 388 recto bis 392 recto
  • Paraphrase des Euteknios zu den Theriaka des Nikandros von Kolophon (Prosabearbeitung eines Lehrgedichtes) 393 recto bis 437 verso
  • Paraphrase des Euteknios zu den Alexipharmaka des Nikandros von Kolophon, 438 verso bis 459 verso
  • Paraphrase der Halieutika des Oppianos, 460 recto bis 473 recto
  • Paraphrase der Ornithiaka des Dionysios, 474 recto bis 485 verso
  • Fragment eines Menaion (liturgischer Text aus dem 11. Jahrhundert). Seit 1406 von Chortasmenos dem Kodex beigebunden, vermutlich um die stark beschädigten letzten Seiten zu schützen. Teile des Menaions wurden auch für den alten Einband verwendet[12]

Geschichte

Griechische „Bibelmajuskel“ und darunter Transkription in rote Minuskel
Signatur der Wiener Hofbibliothek auf fol. 2 recto (Peter Lambeck, 17. Jahrhundert)

Das Werk[13] war ursprünglich ein Geschenk der Bürgerschaft von Honoratae (einer Vorstadt Konstantinopels) an Prinzessin Anicia Juliana. Diese hatte dort eine Marienkirche gestiftet. Nach der Eroberung Konstantinopels im vierten Kreuzzug fiel der Kodex den Lateinern als Beute zu – dies ist sichtbar durch Transkriptionen der Pflanzennamen in lateinische Schrift (fol. 13 recto bis 27 verso), außerdem findet sich auf fol. 327 verso das altfranzösische Wort „genestre“ (Ginster).[14] 1261 gelang den Byzantinern die Rückeroberung Konstantinopels. Das Herbar hatte seitdem wieder griechische Besitzer[15]und gelangte in das Johannes-Kloster in Alt-Petra. Dort fertigte 1350 ein Mönch Neophythos eine Kopie an.[16] Wiederum eine Kopie davon ist in Padua aufbewahrt[17] Im 14. Jahrhundert hatte das Herbar wohl noch 500 Blätter, darauf lassen unter anderem die Eintragungen eines Mönches Sisinios schließen.[15]

1406 ließ der Notar der Patriarchatskanzlei Johannes Chortasmenos das Werk restaurieren und neu binden.[18] Chortasmenos fertigte Umschriften der damals bereits schwer lesbaren griechischen Majuskelschrift in Minuskelschrift an (bis fol. 142 verso) und nummerierte die Blätter.[19] Außerdem ergänzte er mit einem „neuen Index“ auf den Blattvorderseiten 4, 5, 6 und 7 den unvollständigen alten Index aus dem 6 Jahrhundert. Nach der Eroberung Konstantinopels geriet das Herbar in den Besitz türkischer Sultane. Aus dieser Zeit stammen arabische, persische und türkische Umschriften. Seit dem 16. Jahrhundert besaßen oder benützten jüdische Ärzte das Werk, unter anderem Hamon, der Leibarzt Suleimans II. Augerius von Busbeck, Gesandter Kaiser Ferdinands des I. an der Hohen Pforte, sammelte systematisch Handschriften in Konstantinopel. 1569 erwarb er das Werk vom Sohn des Arztes Hamon für 100 Goldgulden und fügte es dem Besitz Kaiser Maximilians II. hinzu. Seitdem befindet sich das Herbar in den Beständen der österreichischen Nationalbibliothek, vormals Wiener Hofbibliothek. Daher auch der Name „Wiener Dioskurides“.[20]

Bei der bislang letzten Restaurierung in den Jahren 1960 bis 1965 wurde das umfangreiche Werk aus konservatorischen Gründen in drei Bände geteilt. Bei dieser überaus seltenen Gelegenheit wurde eine Faksimileausgabe[21] angefertigt.

Galerie

Literatur

  • Pedanius Dioscorides – Der Wiener Dioskurides: Codex medicus Graecus 1 der Österreichischen Nationalbibliothek, Graz: Akademische Druck und Verlagsanstalt (Glanzlichter der Buchkunst) Band 8/1 ISBN 3-201-01699-3 und 8/2 ISBN 3-201-01725-6

Sekundärliteratur

  • Hans Biedermann: Medicina Magica – Metaphysische Heilmethoden in spätantiken und mittelalterlichen Handschriften. Graz – Akademische Druck- und Verlagsanstalt, 2. Aufl. 1978 S. 35-39 ISBN 3-201-01077-4
  • Otto Mazal: Pflanzen, Wurzeln, Säfte, Samen: antike Heilkunst in Miniaturen des Wiener Dioskurides. Graz Akadem. Druck- und Verlagsanst, 1981. ISBN 3-201-01169-X

Belege und Referenzen

  1. a b Der Wiener Dioskurides – Glanzlichter der Buchkunst, Band 8/1 Kommentar von Otto Mazal S. 3
  2. Hans Biedermann: Medicina Magica – Metaphysische Heilmethoden in spätantiken und mittelalterlichen Handschriften. Graz – Akademische Druck- und Verlagsanstalt, 2. Aufl. 1978 S. 35
  3. a b Medicina Magica S. 36
  4. Medicina Magica S. 38
  5. Werner E. Gerabek: Enzyklopädie Medizingeschichte. Berlin – de Gruyter. 2005. S. 311
  6. Glanzlichter der Buchkunst, Band 1 Kommentar S. 16
  7. Glanzlichter der Buchkunst, Band 2 Kommentar S. 67
  8. Deutsche Übersetzung zitiert nach Otto Mazal, Glanzlichter der Buchkunst, Band 1. Kommentar S. 22 u. 28
  9. Glanzlichter der Buchkunst, Band 1 Kommentar S. 22
  10. Medicina Magica S. 96
  11. Glanzlichter der Buchkunst, Band 1. Kommentar S. 6ff.
  12. Glanzlichter der Buchkunst, Band 2. Kommentar von Otto Mazal S. 75
  13. Wien, österreichische Nationalbibliothek, Cod. med. gr. 1.
  14. Friedrich Kluge / Elmar Seebold – Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin: De Gruyter 2002 24. Aufl. S. 358
  15. a b Glanzlichter der Buchkunst 8/1 Kommentar S. 10
  16. Bibliothèque nationale, Paris Ms. gr. 2286
  17. Bischöfliches Seminar zu Padua, Codex graecus 194
  18. Glanzlichter der Buchkunst, Band 8/1 Kommentar S. 6
  19. Glanzlichter der Buchkunst, Band 8/1 Kommentar S. 8
  20. Glanzlichter der Buchkunst, Band 8/1 Kommentar S. 11
  21. Dioskurides : Codex Vindobonensis med. Gr. 1 der Österreichischen Nationalbibliothek ; vollständige Faksimile-Ausgabe des Wiener Dioskurides in 5 Teillfg. - Graz : Akad. Druck- u. Verl.-Anst., 1965-1970. (Codices selecti ; 12)

Weblinks

 Commons: Vienna Dioscurides – Album mit Bildern und/oder Videos und Audiodateien

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