Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden

Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden

Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden ist ein Aufsatz des Schriftstellers Heinrich von Kleist, der wahrscheinlich in dessen Königsberger Zeit (1805–06) entstand. Die Schrift war wohl entweder für die Zeitschrift Phöbus oder für das Morgenblatt für gebildete Stände bestimmt, wurde aber erst postum in der Zeitschrift von Paul Lindau (Hg) Nord und Süd, Bd.4 1878, S.3-7 veröffentlicht. Das Autograph ist verschollen, eine Kopie mit Korrekturen Kleists, die bis 1938 noch vorlag, unterdessen auch.[1]

Inhalt

In diesem Brief an Rühle von Lilienstern rät Heinrich vom Kleist ihm, Probleme, die er nicht durch Meditation lösen kann, dadurch zu lösen, indem er mit anderen darüber spräche. Dabei ist nicht wichtig, dass das Gegenüber in der Materie steckt, sondern das eigene Reden über den Sachverhalt ist der ausschlaggebende Punkt. Mit dieser Methode könne man sich selbst am besten belehren: „Die Idee kommt beim Sprechen“. Kleist selbst habe diese Idee gehabt, als er beim Brüten etwa über eine algebraische Aufgabe nicht weiter kam, aber im Gespräch mit seiner Schwester darüber eine Lösung fand. Die Schwester selber habe keine Ahnung von der Materie, aber die bereits vorhandene „dunkle Vorstellung“ in Kleists Kopf wird durch das Gespräch präzisiert, da man sich durch das Reden zwingt, dem Anfang auch ein Ende hinzuzufügen (also die Gedanken zu strukturieren). Zwar kann man einen Sachverhalt nun auch alleine sich selbst vortragen, doch ist der zweite Gesprächsaktant insofern wichtig, als dass er die absolute Notwendigkeit herstellt, strukturiert zu reden, da er ja nicht in der Materie steckt. Zudem könne es befördernd wirken, wenn der Gesprächspartner zu erkennen gibt, dass er einen „halb ausgedrückten Gedanken schon […] begriffen“ habe - Kleist geht es also nicht um die Mäeutik im Sinne des Sokrates’. Nach Kleists Überzeugung haben auch andere große Redner diese Technik angewandt und wussten beim Beginn des Redens noch nicht, wie die Rede enden würde – als Beispiel führt er Mirabeau in der Französischen Revolution vor dem Ballhausschwur an:

„Mir fällt jener „Donnerkeil“ des Mirabeau ein, mit welchem er den Ceremonienmeister abfertigte, der nach Aufhebung der letzten monarchischen Sitzung des Königs am 23. Juni, in welcher dieser den Ständen auseinander zu gehen anbefohlen hatte, in den Sitzungssaal, in welchem die Stände noch verweilten, zurückkehrte, und sie befragte, ob sie den Befehl des Königs vernommen hätten? „Ja“, antwortete Mirabeau, „wir haben des Königs Befehl vernommen“ – ich bin gewiß, daß er bei diesem humanen Anfang noch nicht an die Bayonnete dachte, mit welchen er schloß: „ja, mein Herr“, wiederholte er, „wir haben ihn vernommen.“ Man sieht, daß er noch gar nicht recht weiß, was er will. „Doch was berechtigt Sie“ – fuhr er fort, und nun plötzlich geht ihm ein Quell ungeheurer Vorstellungen auf – „uns hier Befehle anzudeuten? Wir sind die Repräsentanten der Nation.“ – Das war es, was er brauchte: „Die Nation gibt Befehle und empfängt keine,“ – um sich gleich auf den Gipfel der Vermessenheit zu schwingen. „Und damit ich mich Ihnen ganz deutlich erkläre“ – und erst jetzo findet er, was den ganzen Widerstand, zu welchem seine Seele gerüstet dasteht, ausdrückt: „So sagen Sie Ihrem Könige, daß wir unsere Plätze anders nicht, als auf die Gewalt der Bayonnete verlassen werden.“ – Worauf er sich, selbstzufrieden, auf einen Stuhl niedersetzte.[2]

Jener anwesende Zeremonienmeister wirkt also gewissermaßen als elektrischer Gegenpol, wodurch Reibung entstehe. Erst wenn er sich also an seinem Gesprächspartner abgearbeitet – „entladen“ – hat, kann er wieder zum ruhigen Gemüt zurückfinden („merkwürdige Übereinstimmung zwischen den Erscheinungen der physischen und moralischen Welt“). Ein weiteres Beispiel sei die Fabel „les animaux malades de la peste“ (dt.: Die Pest unter den Tieren) von Jean de Lafontaine, wo der Fuchs, gezwungen eine Apologie zu halten, ebenfalls die beschriebene Technik anwendet – „ein solches Reden ist wahrhaft lautes Denken“. Etwas ganz anderes sei es jedoch, wenn der Gedanke schon fertig im Kopf existiere – dann könne er zwar verworren ausgedrückt werden, muss daher aber noch lange nicht verworren gedacht worden sein, weil die Erregung, etwas sagen zu müssen, den Gedanken vielleicht verloren gehen lässt. Daher müsse die Sprache „mit Leichtigkeit zur Hand“ sein, um Denken und Reden korrelieren zu lassen. Wer schneller sein Denken in Reden umsetzen kann, der führe „mehr Truppen ins Feld“ als sein Gegenüber. Um die besten Ergebnisse zu erzielen (d.h. die besten Gedanken zu Tage zu fördern) müsse man eine Person unvermittelt öffentlich mit Fragen konfrontieren, auf die er spontan zu antworten habe. Dadurch wird er gezwungen, sein Wissen zu konkretisieren – wobei nicht er per se „weiß“, sondern es ist „ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß“.

Anmerkungen

  1. Siehe Heinrich von Kleist – Werke und Briefe in vier Bänden, hg. von Siegfried Streller, Anmerkungen von Peter Goldammer, Bd. 3, S. 722-723, Insel Verlag, Frankfurt 1986.
  2. Nach dem Erstdruck 1878, Nord und Süd, Bd.4, S.4-5, siehe Wikisource

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