Boris Michailowitsch Hessen

Boris Michailowitsch Hessen

Boris Michailowitsch Hessen (russisch Борис Михайлович Гессен), auch Gessen (* 16. August 1893 in Jelisawetgrad; † 20. Dezember 1936 in Moskau)[1] war ein russischer Physiker, Philosoph und Wissenschaftshistoriker. Er wurde bekannt durch seinen Vortrag über Newtons Principia (London 1931), der einflussreich in der Wissenschafts-Geschichtsschreibung wurde.

Inhaltsverzeichnis

Biographie

Boris Hessen wurde in eine jüdische Familie geboren. Sein Vater war Bankangestellter (später verstaatlichte Hessen persönlich in der Revolution die Bank seines Vaters). Er ging in Jelisawetgrad aufs Gymnasium. Zusammen mit seinem Schulfreund Igor Tamm studierte er Physik und Naturwissenschaften an der Universität Edinburgh (1913—1914). Anschließend studierte er Physik an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg (1914—1917) und Ökonomie an der Polytechnischen Hochschule.

Im Russischen Bürgerkrieg schloss er sich der Roten Armee an und wurde Kommunist und Mitglied des Revolutionären Militärrats (1919—1921). 1921 bis 1924 war er an der kommunistischen Swerdlowsk-Universität. Er setzte auch seine Physikstudien fort und schloss schließlich 1928 in Moskau am „Institut für rote Professoren“ seine Studien ab. Nachdem er noch zwei Jahre an diesem Institut gearbeitet hatte, wurde er 1931 Professor und Leiter des Fachbereichs Physik an der Lomonossow-Universität in Moskau. 1933 wurde er in die Russische Akademie der Wissenschaften gewählt. Unter seiner Leitung erlebte die Physik an der Lomonossow eine Blüte mit der Schule von Leonid Mandelstam, der auch Tamm angehörte, und die Hessen gegen Angriffe von Partei-Physikern abschirmte.[2] Allerdings drückte er sich in seinem Sowjet-Enzyklopädie Artikel über den Äther so unglücklich aus, das er zum Gegenstand des Spotts der Leningrader theoretischen Physiker um George Gamow, Lew Landau, Dmitri Iwanenko wurde (sie schickten ihm ein satirisches Bildtelegramm), was für diese vorübergehend berufliche Nachteile zur Folge hatte.[3]

1931 hielt Hessen beim Zweiten Internationalen Kongress für Wissenschaftsgeschichte in London seinen berühmten Vortrag The Socio-Economic Roots of Newton's Principia. Er leitete jahrzehntelange Auseinandersetzungen um eine eher externalistische oder internalistische Wissenschaftsgeschichtsschreibung ein. Robert K. Merton versuchte in "Science, Technology and Society in Seventeenth Century England" (1938) eine alternative nichtmarxistische Interpretation der wissenschaftlichen Revolution anzubieten.

In Großbritannien stießen die Beiträge von Hessen und anderen sowjetischen Wissenschaftlern auf dem Kongress auf ein begeistertes Echo bei sozialistischen Wissenschaftlern[4].

Von 1934 bis 1936 war Hessen stellvertretender Direktor des Lebedew-Institut in Moskau, das von Sergei Iwanowitsch Wawilow geleitet wurde. Am 21. August 1936 wurde Hessen vom NKWD verhaftet. In einem geheimen Verfahren vor einem Militärgericht wurde er zusammen mit seinem Lehrer am Gymnasium Arkadi Ossipowitsch Apirin wegen Trotzkismus angeklagt. Sie wurden am 20. Dezember 1936 für schuldig befunden und am gleichen Tag durch Erschießen hingerichtet. In den Ermittlungsakten des Falls Hessen findet sich als Beweis für die Vorwürfe nur die Aussage von Nikolai Afanasjewitsch Karjew, dem ebenfalls 1936 hingerichteten stellvertretenden Vorsitzenden der Planungskommission der Akademie der Wissenschaften, der ihn als zentrales Mitglied der „trotzkistischen“ Organisation von Grigori Sinowjew bezeichnete.[5]

Am 21. April 1956 wurden beide posthum rehabilitiert.

Publikationen

  • Boris Hessen, The Social and Economic Roots of Newton's Principia in: Nicolai I. Bukharin, Science at the Crossroads, London 1931 (Reprint New York 1971), pp. 151-212. Neue Übersetzung in: Gideon Freudenthal, Peter Mc Laughlin (siehe unten), S. 41-101.
  • Boris Hessen: Les racines sociales et économiques des "Principia" de Newton : une rencontre entre Newton et Marx à Londres en 1931 / . Trad. et commentaires de Serge Guérout ; postface de Christopher Chilvers .- Paris: Vuibert, 2006
  • Gideon Freudenthal, Peter Mc Laughlin: The Social and Economic Roots of the Scientific Revolution., Texte von Boris Hessen und Henryk Grossmann. Springer, Heidelberg, New York, 2009 (Boston Studies in the Philosophy of Science, Vol. 278), ISBN 978-1-4020-9603-7
  • Pablo Huerga Melcón, La ciencia en la encrucijada. Análisis crítico de la célebre ponencia de Boris Mihailovich Hessen, "Las raíces socioeconómicas de la mecánica de Newton", desde las coordenadas del materialismo filosófico", Biblioteca Filosofía en español, Fundación Gustavo Bueno,Pentalfa ediciones, Oviedo 1999. (Con prólogo de Serguei Kara-Murza)

Literatur

  • Gideon Freudenthal, "The Hessen-Grossman Thesis: An Attempt at Rehabilitation" in: Perspectives on Science, Summer 2005, Vol. 13, No. 2, Pages 166-193
  • Loren R. Graham, "The Socio-Political Roots of Boris Hessen: Soviet Marxism and the History of Science" in: Social Studies of Science, Vol. 15, No. 4 (Nov., 1985), pp. 705-722
  • Dieter Wittich; Horst Poldrack, Der Londoner Kongress zur Wissenschaftsgeschichte 1931 und das Problem der Determination von Erkenntnisentwicklung, Berlin : Akademie-Verlag, 1990
  • Gennady Gorelik: Meine Antisowjetische Tätigkeit...Russische Physiker unter Stalin, Vieweg 1995

Fußnoten

  1. Das Todesdatum wird meistens falsch angegeben, so auch auf der Website der Russischen Akademie der Wissenschaften [1]. Das genaue Datum wurde kürzlich von der russischen Vereinigung Memorial ermittelt.
  2. Gorelik Meine antisowjetische Tätigkeit, S.47
  3. Dargestellt in Gamow My World Line. Siehe auch Gorelik, loc.cit., S.32ff. Nach Gorelik, S.48, erkannte er aber die Spezielle Relativitätstheorie an.
  4. vgl. Gary Werskey - The Marxist Critique of Capitalist Science: A History in Three Movements?
  5. Gorelik, a.a.O., S.132

Siehe auch

Weblinks


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