- Briefroman
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Ein Briefroman ist eine Sammlung fiktiver Briefe, die sich in ihrer Präsentation – unter Umständen zusammengehalten von einer Herausgeberstimme – zur Romanhandlung verdichten. Möglich sind Briefwechsel zwischen verschiedenen Personen wie die briefliche Hinterlassenschaft eines einzelnen Helden. Wegen seiner Unmittelbarkeitsfiktion ist der Tagebuchroman dem Briefroman vergleichbar.[1]
Inhaltsverzeichnis
Geschichte
Der Anfang des Genres lässt sich nur schwer bestimmen. Ausgaben von Briefen Gelehrter kamen mit dem Humanismus auf, fingierte Briefwechsel ergänzten das Repertoire in satirisch und politisch ausgerichteten Sammlungen. Der Briefwechsel zwischen Abelard und Heloise eingebunden in Jean de Meungs Roman de la Rose (1280) gibt der amourösen Variante eine noch viel längere Geschichte. Berühmt waren im 17. Jahrhundert auf diesem Feld die Lettres Portugaises mit Imitationen und Erweiterungen und Antworten. Grenzgänge zwischen dem Fiktionalen und der Realität kosteten die Briefsammlungen der Madame d'Aulnoy aus.
Als den ersten großangelegten mit aller Romankunst spielenden Briefroman wird man Aphra Behns Love-Letters between a Noble-Man and his Sister (1684/85/87) ansehen können – den Roman einer verzweifelten Liebe zwischen der Heldin und dem Mann ihrer Schwester. Die anfängliche Mischung aus Briefen voller Hoffnungslosigkeit, Sehnsucht und Verzweiflung macht Intrigenhandlungen Platz; Briefe werden lanciert und vorenthalten, planvoll abgefasst, um zu manipulieren; eine erhebliche Spannungsbreite der Emotionen wird ausgekostet, bevor die Helden ruiniert enden.
Eigenschaften
Mit Aphra Behns Roman standen die Vorzüge der Gattung fest:
- Realität wird mit ihr effektvoll behauptet – die Herausgeberin präsentiert Briefe, die tatsächlich zwischen den Beteiligten hin und her gegangen sein sollen,
- der Stil findet im Briefroman neue Freiheiten: hier erzählt nicht ein Romanautor, von dem man Erzählkunst verlangen kann, hier schreiben Menschen, die nicht ahnten, dass ihre Briefe eines Tages öffentlich gelesen würden – verzweifelt, intrigant, verliebt, zum Teil im Bruch mit allen Konventionen schriftstellerischer Kunst,
- Perspektive und Wissen werden im Briefroman komplex handhabbar: hier schreibt nicht ein Autor, der das Geschehen bereits kennt, hier schreiben Akteure, die nicht wissen, was die anderen Akteure tun, isoliert voneinander subjektiv, vermeintlich intim und ohne allen Überblick über das Geschehen – eine Herausgeberstimme kann den Überblick jederzeit hinzuliefern.
Der Briefroman im 18. Jahrhundert
Die auf eine Reform der Moral drängenden Romane Samuel Richardsons reaktivierten Mitte des 18. Jahrhunderts das Genre. Der Roman der schutzlos durch ihren Arbeitgeber Angriffen auf ihre Tugend ausgelieferten Pamela fand in der Briefsammlung sein geeignetes Medium: Der Leser verfolgte den Gang der Dinge gemeinsam mit den Adressaten der Briefe, die ohne eingreifen zu können von Brief zu Brief befürchten mussten, dass die Heldin dem verwerflichen Mann mittlerweile unterlag.
Die Romane der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts öffneten sich dem Genre in dem Maße, in dem es die intime Selbstdarstellung erlaubte, den Einblick in das im Vertraulichen schreibende psychologische Tiefe gewinnende Ich. Die Handlung ließ sich mit dem Briefroman nach innen verlagern. Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) nutzte konsequent das Genre. Erster deutschsprachiger Briefroman war Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim, der 1771 erschien.
Die bekanntesten französischen Briefromane des 18. Jahrhunderts sind Montesquieus Lettres persanes (1721, dt. Persische Briefe), Jean-Jacques Rousseaus Julie oder Die neue Heloise (1761) und Choderlos de Laclos' Les liaisons dangereuses (1782, dt. Gefährliche Liebschaften). Im 19. Jahrhundert übernahmen subjektive und intime fingierte Autobiographien Terrain des letztlich vor allem von der Interaktion der Akteure lebenden Briefromans.
Zeitgenössische Sonderform
Eine Sonderform des Briefromans ist der E-Mailroman. Wie im Briefroman erfährt der Leser aus dem Briefwechsel (E-Mail) der handelnden Personen die zu erzählende Geschichte. Durch die Geschwindigkeit und die geringen Formzwänge der elektronischen Post vermag der Autor temporeicher und direkter zu vermitteln. Ein Beispiel im deutschen Sprachraum ist Sehnsucht Internet von Gabriele Farke. 2006 erschien Daniel Glattauers Roman Gut gegen Nordwind, der die strikte Briefromanform auf die E-Mailform überträgt. Er kommt, wie seine Fortsetzung Alle sieben Wellen (2009), ohne Erläuterungen aus: Mail folgt auf Mail.
Beispiele
- John Cleland: Fanny Hill (1749).
- Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771).
- Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther (1774).
- Choderlos de Laclos: Gefährliche Liebschaften (1782).
- Ludwig Tieck: William Lovell (1795/96).
- Achim von Arnim: Hollin’s Liebeleben (1802).
- Bram Stoker: Dracula (1897).
- Hugo von Hofmannsthal: Die Briefe des Zurückgekehrten (1907).
- Jean Webster: Daddy Langbein (1912).
- Heinrich Böll: Das Vermächtnis (1982).
- Alice Walker: Die Farbe Lila (1982).
- Paul Auster: Im Land der letzten Dinge (1987/1989).
- Feridun Zaimoglu: Liebesmale, scharlachrot (2000).
- Daniel Glattauer: Gut gegen Nordwind (2006).
Literatur
- Arata Takeda: Die Erfindung des Anderen. Zur Genese des fiktionalen Herausgebers im Briefroman des 18. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008 (= Epistemata Literaturwissenschaft Bd. 656). ISBN 978-3-8260-3973-7
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Tagebuchliteratur in: Microsoft Encarta
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