Abstinenzregel

Abstinenzregel

Die Abstinenzregel ist ein Begriff aus der Psychoanalyse. Sie beschreibt den behandlungstechnischen Grundsatz der weitestgehenden Nichtbefriedigung der durch die Übertragungsliebe beim Analysanden hervorgerufenen (libidinösen) Wünsche gegen den Therapeuten, sowie dessen Enthaltungsverpflichtung im Rahmen der Gegenübertragung.

Neben den Prinzipien von Neutralität und Gleichschwebender Aufmerksamkeit ist die Abstinenzregel ein Grundpfeiler psychoanalytischer Behandlungstechnik. Sie dient der Durcharbeitung und Bewusstmachung konflikthafter (libidinöser oder aggressiver) Bestrebungen des Analysanden im Rahmen des therapeutischen Arbeitsbündnisses. Durch Wiederholen und Erinnern im (geschützten) Rahmen der psychoanalytischen Behandlung soll eine Aufhebung des unbewussten Wiederholungszwangs und eine psychische Reintegration und Restrukturierung durch Stärkung des bewussten Ich des Patienten erreicht werden.

Inhaltsverzeichnis

Näheres

Die Abstinenzregel wendet sich an den Analytiker und den Analysanden zugleich indem sie beide Seiten verpflichtet, (...) ihre Beziehungsphantasien und -wünsche nicht im Handeln zum Ausdruck zu bringen. Als grundlegende, „gemeinsame Orientierung“ stellt sie eine wesentliche Rahmenbedingung der Therapie dar und „schützt (so) die psychoanalytische Situation“.[1]

Laplanche und Pontalis definieren die psychoanalytische Abstinenz wie folgt:

Grundsatz, wonach die psychoanalytische Behandlung so geführt wird, daß der Patient die geringstmögliche Ersatzbefriedigung für seine Symptome findet. Für den Analytiker schließt er die Regel ein, dem Patienten die Befriedigung seiner Wünsche zu versagen und tatsächlich die Rolle zu übernehmen, die dieser bestrebt ist, ihm aufzudrängen.[2]

Das analytische Behandlungskonzept rechtfertigt die mit der Abstinenzregel einhergehende Frustration und Erzeugung eines künstlichen Leidensdrucks durch eine libido - ökonomische Strategie:

Wir müssen, so grausam es klingt, dafür sorgen, daß das Leiden des Kranken in irgend einem wirksamen Maße kein vorzeitiges Ende findet. Wenn es durch die Zersetzung und Entwertung der Symptome ermäßigt worden ist, müssen wir es irgendwo anders als eine empfindliche Entbehrung wieder aufrichten.[3]

S. Freud

Die durch Versagung aufgestaute libidinöse Energie soll therapeutisch nutzbar gemacht werden; Ziel ist die libidinöse Besetzung der analytischen Situation selbst. Mit Hilfe des durch die therapeutische Versagung aufrecht erhaltenen Leidensdrucks soll die Tendenz zum Agieren als Ausdruck der Befangenheit in unbewussten (leidenschaftlichen) Mustern durch Zustimmung zum methodischen Verzicht und Verbalisierung (als rein sprachliche Auseinandersetzung von Bewusstsein und Unbewusstem) ersetzt werden. Deutung und Einsicht als vertieftes und verbessertes Selbstverständnis ergänzen oder ersetzen schließlich den unmittelbaren Befriedigungsanspruch. Die Abstinenzregel erfordert und erzeugt so eine Verfassung des Bewusstseins, die in der nachfreudianischen Theoriebildung als „therapeutische Ich-Spaltung“ betitelt wird: Das Subjekt teilt sich im analytischen Prozess in eine (wieder)-erlebende und eine beobachtende Instanz.

Ein Verstoß gegen die Abstinenzregel gefährdet oder zerstört die Grundlage des therapeutischen Beziehungsbündnisses und kann zu Traumatisierungen bei den Betroffenen führen. Sexuelle Handlungen werden daher als Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses“ gewertet und seit 1998 nach dem Strafgesetzbuch mit bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug bestraft (§ 174 c StGB)[4][5][6].

Siehe auch

Weblinks

Nachweise

  1. Vgl. Jürgen Körner, Artikel: Abstinenz; in: Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe, Hg. W. Mertens, B. Waldvogel, Stuttgart (Kohlhammer) 2008, S. 1: s.a. Weblinks.
  2. Jean Laplanche/Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt am Main 1984, Erster Band S. 22 ff..
  3. Freud, S. Wege der psychoanalytischen Therapie, 1918. G.W., XII, 188. Zitiert nach Laplanche, Pontalis ebd. S. 23.
  4. § 174c StGB (abgerufen am 2. Juli 2011)
  5. Deutsches Ärzteblatt 2003 (abgerufen am 2. Juli 2011)
  6. Psychotherapeutenjournal 2005 (PDF-Datei, abgerufen am 2. Juli 2011)

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