Das Märchen der 672. Nacht

Das Märchen der 672. Nacht
Hugo von Hofmannsthal
* 1874 † 1929

Das Märchen der 672. Nacht ist eine Erzählung von Hugo von Hofmannsthal, die im November 1895 in der Wiener Wochenschrift Die Zeit erschien.[1]

Der Autor hat in einer Notiz und in einem Brief - siehe unter Punkt Selbstzeugnisse - seinen Text selbst interpretiert: Untätigkeit lähmt.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Ein begüterter Kaufmannssohn, der seine Eltern verloren hatte, findet als Fünfundzwanzigjähriger keinen Gefallen mehr an Geselligkeit und zieht sich ganz aus dem gesellschaftlichen Leben zurück. Zwar ist der junge Herr gesund, doch der Gedanke an seinen Tod befällt ihn immer einmal. Sein Ableben kann er sich nur als eine prunkvolle Zeremonie denken. Daneben sinnt der Kaufmannssohn mitunter über seine Diener nach. Er kommt zu der Erkenntnis, dass es das von ihm so erwünschte einsame Leben nicht gibt, da die Bediensteten ihn umkreisen „wie Hunde“. Die alte Haushälterin hat mit Erlaubnis des Herrn eine kaum fünfzehn Jahre alte Verwandte ins Haus genommen. Der Kaufmannssohn hat das Gefühl, das verschlossene junge Mädchen sei ungern in seinem Hause; mehr noch - es hasse ihn. Das wird von der Haushälterin bestritten. Bei Tisch wird der Herr von einer Schönen bedient, die wenige Jahre älter ist als die Kleine. Mit Verlangen erfüllen den Kaufmannssohn die beiden blutjungen Damen nicht. Unangenehm - Haus und Garten sind zu eng, als dass er den ständig fordernden Blicken der zwei jungen Mädchen entfliehen könnte. Beklommen bemerkt der Kaufmannssohn eine furchtbare Angst in sich aufsteigen; die Angst „vor der Unentrinnbarkeit des Lebens“.

Einmal verlässt er das Haus. Dieser eine Gang in die Stadt endet tödlich. Sein treuester Diener wurde eines abscheulichen Verbrechens bezichtigt. Der Kaufmannssohn will den Verleumder zur Rede stellen, trifft ihn aber nicht an. In eine verrufene Gegend geraten, betritt er einen „sehr ärmlichen“ Juwelierladen. Als er darin seiner alten Haushälterin zu Gefallen einen halb blinden silbernen Spiegel kauft, wird er von einem anderen Spiegel magisch angezogen. In letzterem meint er jene junge Verwandte der alten Haushälterin zu sehen. Weiter geht es, tiefer ins Innere des Ladens und von dort über ein benachbartes Grundstück bis an ein Treibhaus. Zwischen dem Blattwerk erblickt der Kaufmannssohn das Gesicht eines kleinen Mädchens, das dem fünfzehnjährigen gleicht. Als ihn das Kind böse anschaut, empfindet er Grauen im Nacken. Wie unter Zwang betritt er das Glashaus. Das Kind schlägt das Geldgeschenk des Kaufmannssohnes aus und sperrt ihn im Glashaus ein. Er findet einen Fluchtweg und gelangt auf einen Kasernenhof. Dort kommt er elendiglich um: „Er bückte sich, das Pferd schlug ihm den Huf mit aller Kraft nach seitwärts in die Lenden, und er fiel auf den Rücken.“[2] Sein Sterben ist überhaupt nicht prunkvoll. Angst überfällt ihn. Er kann sie überwinden, verflucht seine Diener, die ihn in den Tod getrieben haben und stirbt mit einem „bösen Ausdruck“ im Gesicht.

Selbstzeugnisse

  • „Das Ungeheure des Lebens ist nur durch Zutätigkeit erträglich zu machen, immer nur betrachtet, lähmt es.“[3]
  • „Wenn man immer so leben könnte, wie man will, würde man alle Kraft verlieren.“[4]

Rezeption

  • Schnitzler im November 1895 in einem Brief an den Autor: Der Text sei kein Märchen. Gegen ihr Ende hin beschreibe die Erzählung mehr einen Alptraum.[5][6]
  • von Schaukal äußert 1929, der Autor habe das Magische seinem Text „gewaltsam eingeflößt“[7].
  • Der junge Autor habe in der Geschichte auch seinen freiwilligen Militärdienst 1894/1895 in Göding verarbeitet.[8][9]
  • Das Scheitern des Kaufmannssohnes wird durch seine Bediensteten initiiert und zwar nach Sprengel[10] so: Er mache sich von Abhängigen abhängig. Alewyn[11] geht mit seinem Bild vom Gefängnis „ohne Mauern und Ketten“ noch weiter. Die Diener hielten ihren Herrn in einer Gefangenschaft, aus der es kein Entkommen gäbe.

Literatur

  • Richard Alewyn: Über Hugo von Hofmannsthal. 170 Seiten. Kleine Vandenhoeck-Reihe 57. Sonderband. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1958
  • Werner Volke: Hugo von Hofmannsthal. rowohlts monographien begründet von Kurt Kusenberg. 192 Seiten. Rowohlt Reinbek bei Hamburg im Juli 1967 (Aufl. 1997), ISBN 3-499-50127-9
  • Gotthart Wunberg (Hrsg.): Hofmannsthal im Urteil seiner Kritiker. Athenäum, Frankfurt am Main 1972 (ohne ISBN, 612 Seiten)
  • Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870 - 1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. 825 Seiten. C. H. Beck, München 1998, ISBN 3-406-44104-1
  • Burkhard Meyer-Sickendiek: Die tiefsinnige Kontemplation fremden Lebens: Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht, in: Ders.: Tiefe – über die Faszination des Grübelns. Fink, Paderborn, München 2010, S. 248ff. ISBN 978-3-7705-4952-8

Erstausgabe

  • Hugo von Hofmannsthal: Das Märchen der 672. Nacht und andere Erzählungen. 123 Seiten. 6. - 10. Tausend (im Jahr der Erstausgabe). , Wiener Verlag, Wien und Leipzig 1905. Mit Illustrationen von Walter Hampel. Inhalt: „Das Märchen der 672. Nacht“. „Reitergeschichte“. „Erlebnis des Marschalls von Bassompierre“. „Ein Brief“.

Ausgaben

  • Hugo von Hofmannsthal: Das Märchen der 672. Nacht. Das erzählerische Werk. Mit einem Nachwort von Ellen Ritter. 416 Seiten. S. Fischer Verlag am 29. September 1999, ISBN 978-3-10-031561-8
  • Hugo von Hofmannsthal: Das Märchen der 672. Nacht. Argon Verlag im Februar 2005 (5. Aufl.), ISBN 978-3-87024-632-7

Audio-Buch

Zitierte Textausgabe

  • Hugo von Hofmannsthal: Das Märchen der 672. Nacht (1895). S. 45-66 in: Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hrsg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, S. Fischer, Frankfurt a. M. 1949 (Aufl. anno 1986), Band Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. 694 Seiten, ISBN 3-10-031547-2

Weblinks

Einzelnachweise

Quelle meint die zitierte Textausgabe

  1. In Buchform erschien der kurze Text 1905 unter dem Titel „Das Märchen der 672. Nacht und andere Erzählungen“ im Wiener Verlag (Quelle, S. 666, zweiter Eintrag).
  2. Quelle, S. 61, 6. Z.v.u.
  3. Zitiert bei Alewyn, S. 150, 16. Z.v.o.
  4. Zitiert bei Alewyn, S. 150, 21. Z.v.o.
  5. Sprengel, S. 293, 6. Z.v.o.
  6. Alewyn, S. 146, 15. Z.v.u.
  7. Richard von Schaukal in Wunberg (Hrsg.), S. 354, 1. Z.v.o.
  8. Volke, S. 59, 20. Z.v.o. und S. 167, Eintrag 1894
  9. Alewyn, S. 150, 3. Z.v.u.
  10. Sprengel, S. 292, 23. Z.v.o. und S. 292, 30. Z.v.o.
  11. Alewyn, S. 146, 10. Z.v.o.

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