Dreifaltige Göttin

Dreifaltige Göttin
Die dreigestaltige Hekate
Drei Matronen

Dreifaltige Göttin bezeichnet ein religiöses Konzept des Neopaganismus.

Als ein neuzeitliches Konzept geht die Dreifaltige Göttin wesentlich auf den englischen Dichter Robert Graves zurück, der sie zum Gegenstand seines 1948 erschienenen mythologisch-poetologischen Essays The White Goddess machte. Auf ihn geht auch die Bezeichnung dieser universalen Muttergottheit als Weiße Göttin zurück.

Inhaltsverzeichnis

Graves und die Weiße Göttin

Graves postuliert die Existenz eines (mindestens) gesamteuropäischen Kultes einer Dreifaltigen Göttin und formuliert einen diesem Kult zugrundeliegenden zentralen Mythos. Darin begegnet der Heros der Göttin in dreifacher Ausprägung, einmal als Jungfrau, dann als Mutter und schließlich als ein altes Weib, das den Tod verkörpert und dem Heros den Tod gibt, denn dieser fügt sich in seiner Rolle als Jahresgott oder Jahreskönig in den Zyklus von Werden und Vergehen im Jahreskreis.

Keines dieser Konzepte ist eine Erfindung von Graves, vielmehr findet sich der Jahreskönig an zentraler Stelle der von James Frazer in seinem Goldenen Zweig auf das breiteste ausgeführten Theorien, desgleichen bei anderen Gelehrten aus der Gruppe der sogenannten Cambridge Ritualists. Zu diesen gehörte auch Jane Ellen Harrison, in deren Schriften beispielsweise auf die Trias der Horen verwiesen wird, die jeweils den zunehmenden, vollen und schwindenden Mond repräsentieren.[1] Harrison behauptet weiterhin, dass es Triaden, also Dreiergruppen von Gottheiten, wie bei den Horen, den Moiren oder den römisch-keltischen Matronen, nur bei weiblichen Gottheiten gebe. Das gleiche gilt für dreigestaltige Gottheiten wie die griechische Hekate.[2] Graves hat das übernommen und von da fand die dreigestaltige (Mond-)Göttin ihren Weg zu den Anhängern des neopaganen Wicca.

Graves Leistung liegt nicht darin, dass er ein Entdecker verschollener religiöser Konzepte gewesen wäre, sondern darin, dass er aus verschiedenen Elementen, die in der Zeit zwischen 1890 und 1920 bereitgestellt worden waren, eine schlüssige Synthese bildete. Diese Synthese war anwendbar und transformierbar. Wie das ging, führte Graves selbst in seiner 1955 erschienen Arbeit The Greek Myths vor, in der er die Mythen der griechischen Mythologie nacherzählte, im Apparat dann aber außer Angabe der Quellen dem Mythos eine Interpretation im Bezugssystem der Weißen Göttin gab.

Die Weiße Göttin blieb zunächst wenig beachtet, bis mit der Entstehung des Neopaganismus und speziell des von Gerald Gardner, einem Freund von Graves, begründeten Wicca die Konzepte von Graves übernommen wurden. In der gelehrten Welt wurden die Schlussfolgerungen von Graves aber weiterhin abgelehnt, insbesondere seine eigenwillige Deutung der griechischen Mythen stieß auf vernichtende Kritik.[3]

Marija Gimbutas und die Göttin von Alteuropa

Göttin oder Figurine?

Auch wenn die Leser von Graves sich durch Gelehrtenkritik nicht leicht abschrecken ließen und erklärtermaßen eine wissenschaftliche Beweisführung nicht das primäre Ziel von Graves' Essay war, so war die fehlende wissenschaftliche Basis für den Kult der Dreifaltigen Göttin doch ein schmerzliches Manko.

Dies versuchte Marija Gimbutas, eine in den USA lehrende Prähistorikerin, zu beheben. Sie veröffentlichte ab 1974 eine Reihe von Werken, in dem sie eine zwischen 6500 und 3500 v. Chr. im Südosten Europas bestehende Kultur postulierte. Es sei eine matriarchalische, friedliche Kultur gewesen, die ohne Kriege, Waffen und Rivalität in einer von ihr „Alteuropa“ genannten Region, die sich vom Donauraum bis in die Ukraine und von Süditalien über die Ägäis bis zum Schwarzen Meer erstreckt, über Jahrtausende Bestand gehabt habe, geleitet von weisen Frauen und geeint in der Verehrung der universalen Muttergottheit. Gimbutas konzentrierte sich bei ihren Untersuchungen auf neolithische Frauenfiguren, die sie als Göttinnen interpretierte, d. h. eigentlich als eine einzige Göttin in ihren drei Aspekten von Leben, Tod und Wiedergeburt. Dabei entsprächen

  • dem Leben Wassersymbole (Wasservögel, Schlangen, Fische, Frösche, Zickzack-Bänder, Gruppen von parallelen Linien, Mäander, Netze und laufende Spiralen),
  • dem Tod die von Eulen und Geiern begleitete „weiße Frau“, und
  • der Wiedergeburt Symbole von Erneuerung und Transzendenz (Ei, Uterus, Phallus, Wirbel, Halbmond, Rinderhörner).[4]

Diese Zivilisationsidylle wäre dann um 3500 v. Chr. von den „Kurgan-Leuten“ zerstört worden, Hirtenvölkern aus den Steppen Asiens, die alles niedermetzelten und auf den rauchenden Trümmern das Patriarchat etablierten.

Obwohl die Schriften von Gimbutas vor allem von Teilen des Feminismus zunächst bereitwillig rezipiert wurden, kam auch heftige Kritik, ebenfalls aus den Reihen des Feminismus: „Der Mythos von Evas Apfel, Pandoras Büchse und Freuds Penisneid wurde ersetzt durch den Mythos von ehemaliger matriarchaler Größe und der Vernichtung der Muttergottheit.“[5] Und auch aus den Reihen der Archäologie wurde sie heftig kritisiert, hauptsächlich wegen der Subjektivität ihrer Interpretationen und der fehlenden Verifizierbarkeit ihrer Thesen.

Wicca und Populärkultur

Symbol der Göttin im Wicca (zunehmender, voller und abnehmender Mond)

All die wissenschaftliche Kritik tat der Integration der Göttin in den modernen Neopaganismus keinerlei Abbruch. Im Wicca wird sie als Dreiheit, bestehend aus Maiden („Jungfrau“), Mother („Mutter“) und Crone („altes Weib“) von der Hohenpriesterin des Coven („Hexenzirkels“) verkörpert.

Dabei entspricht der Jungfrau die Farbe Weiß, der Mutter die Farbe Rot (auch als Assoziation zum Menstruationsblut), und dem alten Weib die Farbe Schwarz (entsprechend dem Tod).

Im Wicca-Kult ist der männliche Gegenpart der Göttin der Gehörnte Gott, dem in dem von Graves entworfenen Urmythos der Heros entspricht, der schließlich durch die Göttin den Tod findet, sich erneuert und im Jahreskreis wieder aufersteht.

Literatur

  • Marija Gimbutas: The Goddesses and Gods of Old Europe. 1974. Deutsche Ausgabe: Göttinnen und Götter im Alten Europa : Mythen und Kultbilder 6500 bis 3500 v. Chr. Arun, Uhlstädt-Kirchhasel 2010, ISBN 978-3-86663-043-7
  • Marija Gimbutas: The Language of the Goddess. 1989. Deutsche Ausgabe: Die Sprache der Göttin. Das verschüttete Symbolsystem der westlichen Zivilisation. Zweitausendeins, Frankfurt/M 1995, ISBN 3-86150-120-1
  • Marija Gimbutas: The Civilization of the Goddess. 1991. Deutsche Ausgabe: Die Zivilisation der Göttin. Die Welt des Alten Europa. Zweitausendeins, Frankfurt/M 1996, ISBN 3-86150-121-X
  • Robert Graves: The White Goddess. Faber & Faber, London 1948. Deutsche Ausgabe: Die weiße Göttin. Rororo 55416, Rowohlt, Reinbek 1999, ISBN 3-499-55416-X
  • Robert Graves: The Greek Myths. 1955. Deutsche Ausgabe: Griechische Mythologie : Quellen und Deutung. Rororo 55404, Rowohlt, Reinbek 2007, ISBN 978-3-499-55404-9
  • Brigitte Röder, Juliane Hummel, Brigitta Kunz: Göttinnendämmerung : das Matriarchat aus archäologischer Sicht. Königsfurt, Klein Königsförde/Krummwisch 2001, ISBN 3-933939-27-5

Einzelnachweise

  1. Jane Ellen Harrison: Themis: A Study of the Social Origins of Greek Religion. Cambridge 1912, S. 189, Digitalisat
  2. Jan Ellen Harrison: Prolegomena to the study of the Greek religion. 1903, S. 284, Digitalisat
  3. Robin Hard in: The Routledge Handbook of Greek mythology. London 2004, S. 690: „As for the explanatory notes, they are either the greatest single contribution that has ever been made to the interpretation of Greek myth or else a farrago of cranky nonsense; I fear that it would be impossible to find any classical scholar who would agree with the former diagnosis.“
  4. Röder et al.: Göttinnendämmerung 2001, S. 272
  5. Susan Binford 1982. Zitiert in: Röder et al.: Göttinnendämmerung 2001, S. 291

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