Empört Euch!

Empört Euch!

Empört Euch! (französisch: Indignez-vous !) ist ein Essay des ehemaligen französischen Widerstandskämpfers Stéphane Hessel (* 1917). Es wurde im Oktober 2010 veröffentlicht; bis Februar 2011 wurden mehr als eine Million Exemplare verkauft. Auch in Deutschland gelangte das Buch schnell in die Bestsellerlisten.[1] Der bei der Veröffentlichung 93-jährige Hessel verzichtete auf sein Autorenhonorar.[2]

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Das in der deutschen Ausgabe vierzehnseitige Pamphlet – weitere acht Seiten enthalten Anmerkungen und ein Nachwort der französischen Verlegerin Sylvie Crossman – positioniert sich gegen den Finanzkapitalismus und für den Pazifismus und ist in einem zornigen Stil geschrieben.[2]

Hessels Ausgangspunkt sind die Ideale und Ziele der französischen Widerstandskämpfer, an die er sich erinnert und die er mit den heutigen Verhältnissen und Auffassungen in Frankreich vergleicht. Dieses „Vermächtnis“ möchte er an die jüngeren Generationen weitergeben.[3] Er stellt fest, dass der Gründungskonsens der französischen Republik nach dem Zweiten Weltkrieg als Sozialstaat und die Verpflichtung für die Menschenrechte, wie sie in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte eingeflossen waren, an der Hessel einst mitgewirkt hatte, heute gefährdet seien, und er ruft dazu auf, diesen Werten wieder zur Geltung zu verhelfen.[4]

Als Beispiele für eine verfehlte Politik nennt Hessel viele Bereiche: Die Diskriminierung von Ausländern, den Sozialabbau, insbesondere bei der Alterssicherung, den Konzentrationsprozess bei der Presse und ihre gefährdete Unabhängigkeit, den Zugang zur Bildung[5] sowie die Entwicklungspolitik im Nachgang zur Wirtschaftskrise und die Umweltpolitik zum Erdklima.[6] Im Kapitel „Meine Empörung in der Palästina-Frage“ kritisiert Hessel die israelische Politik in den besetzten Gebieten, die er als das bezeichnet, was ihn derzeit am meisten empöre.[7] Dies alles seien aber nur Beispiele. Wer genau genug hinsehe, werde genügend weitere Anlässe zur Empörung finden.[8]

Das Buch fordert den Leser zu einer engagierten Lebenshaltung auf, zu gewaltloser Revolte und Zivilem Ungehorsam, wozu jedermann einen Grund habe.[2] „Das Grundmotiv der Résistance war die Empörung.“[9] Wenn auch die Komplexität der gesellschaftlichen Strukturen und Beziehungen einfachen Erklärungsmustern entgegenstehe, so sei doch „das Schlimmste, was man sich und der Welt antun“ könne, die Gleichgültigkeit gegenüber den politischen Verhältnissen.[10]

Der Finanzkapitalismus, der durch Lobbyisten den Staat beherrsche, bedrohe die Werte der Zivilisation, und die Unterschiede zwischen Reich und Arm seien noch nie so groß gewesen in der Welt. Es sei falsch, wenn behauptet werde, die Kosten für die soziale Sicherung wären zu hoch. Das könne nicht richtig sein angesichts der Tatsache, dass der Wohlstand heute „so viel größer ist als zur Zeit der Befreiung, als Europa in Trümmern lag.“[11]

Hessel bezieht sich bei alledem auf den Existentialismus Jean-Paul Sartres, den er selbst 1939 in Paris kennengelernt hatte, sowie auf die Philosophie Hegels, die die Geschichte optimistisch als eine Abfolge von Fortschritten zum Besseren hin auffasse.[12]

Sein Manifest endet mit dem Appell: „Neues schaffen heißt, Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt, Neues schaffen“.[13]

Die deutsche Ausgabe wurde auf Wunsch des Autors von Michael Kogon, dem Sohn Eugen Kogons, ins Deutsche übersetzt. Letzterer hatte Hessel bei der Haft im KZ Buchenwald eine neue Identität verschafft und ihm damit das Leben gerettet.

Im März 2011 veröffentlichte der Autor mit „Engagez-vous!“ (deutsche Übersetzung: „Engagiert Euch!“; Juli 2011) eine Fortsetzung seines literarischen Aufrufs.[14][15]

Rezeption und Kritik

Das Werk wurde in Frankreich nicht nur gelobt – so erhob z. B. der Literaturkritiker Pierre Assouline Einspruch.[16][17] Es wurde schon an prominenter Stelle in deutschen Medien vorgestellt – beispielsweise auf der Seite 1 der Tageszeitung Die Rheinpfalz –, noch bevor das Buch in deutscher Übersetzung vorlag.[18]

Stéphane Rozès gibt in der Libération zu bedenken, dass die Empörung eine folgenlose Form der Auflehnung sei und nur von kurzer Dauer.[19]

Sylvie Stephan weist darauf hin, dass in Frankreich zum Zeitpunkt des Erscheinens Pessimismus bzw. Zukunftsängste stärker als sonstwo auf der Welt sind. Hessel spreche deshalb und wegen der in Frankreich ausgeprägten Protestkultur vielen Franzosen aus der Seele.[20]

Auch Gero von Randow meint in der Zeit, Hessels Buch treffe den Nerv der aktuellen französischen Debatte. Allerdings sei es „recht grob geschnitzt, stellenweise falsch“. Außerdem sei Hessels Haltung gegenüber Israel nicht unproblematisch. Er messe die Taten von Juden und Nichtjuden anscheinend mit unterschiedlichem Maß und habe im Sommer 2010 zum Boykott israelischer Waren aufgerufen.[21]

Christian Geyer nennt den Text in der FAZ eine „völlig begründungs- und erklärungsfreie Schrift – ein Ausruf ad hoc, kaum mehr“ gegen den Defätismus und die Ohnmachtsgefühle, die die globale Vernetzung hervorgebracht habe. Der Leser erhalte damit „ein Lebenselixier …, eine Erinnerung an das Beste in uns“.[22] Hubert Spiegel bezeichnete den kurze Zeit später erschienenen polemischen Essay Hans Magnus Enzensbergers „Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas“ über die Probleme der Europäischen Union als „das deutsche Gegenstück zu Stéphane Hessels französischer Kampfschrift ‚Empört euch!‘“.[23]

In der Frankfurter Rundschau weist Arno Widmann darauf hin, dass der Erfolg von Hessels Buch in Frankreich, das sich „für Immigranten, gegen soziale Ausgrenzung“ verwende, im starken Kontrast zu dem deutschen Bestseller Deutschland schafft sich ab von Thilo Sarrazin stehe.[24] Auch Jakob Augstein hatte die beiden Bücher in einem Kommentar in der Wochenzeitung der Freitag[25] sowie in einem Beitrag für Spiegel Online miteinander verglichen: Das eine sei ein „Buch der Hoffnung“, das andere ein „Buch der Niedertracht“ gewesen.[26]

Georg Schramm empfahl das „kleine für 3,99 Euro erhältliche“ Pamphlet anlässlich der 67. Montagsdemo gegen Stuttgart 21 als „sehr lesenswert“. In einer engagierten bejubelten Rede schloss sich der Kabarettist vom Rednerpult aus zitierend der „scharfen Polemik“ Hessels an und endete mit: „Neues schaffen heißt Widerstand leisten! Widerstand leisten heißt Neues schaffen!“ Er bezeichnete die Worte als Hommage an das Handeln der Demonstranten, die er zuvor als Teil einer internationalen bürgerlichen Bewegung charakterisierte.[27]

Die Protestbewegung in Spanien vom Mai 2011 auf dem Platz Puerta del Sol und anderen Plätzen in Spanien, sowie die griechischen, französischen und portugiesischen Ausläufer der Bewegung berufen sich auf das Werk von Stéphane Hessel.[28]

Aufführungen (Auswahl)

Am 16. September 2011 fand am Senftenberger Theater Neue Bühne Senftenberg die deutsche Erstaufführung während des GlückAufFests statt. Es war eingebettet in das Inszenierung des Jedermann. Regie führte Sewan Latchinian, vorgetragen wurde es von Heinz Klevenow.[29]

Ausgaben

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Am Ende ist die Hoffnung stärker. In: die tageszeitung. 11. Februar 2011, abgerufen am 21. Februar 2011 (deutsch).
  2. a b c Jürg Altwegg: Bestseller Empörung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 6. Januar 2011, abgerufen am 7. Januar 2011 (deutsch).
  3. Stéphane Hessel: Empört Euch!. Ullstein, Berlin 2010 (Originaltitel: Indignez-vous !, übersetzt von Michael Kogon), ISBN 978-3-550-08883-4, S. 7.
  4. Stéphane Hessel: Empört Euch!. Ullstein, Berlin 2010 (Originaltitel: Indignez-vous !, übersetzt von Michael Kogon), ISBN 978-3-550-08883-4, S. 7ff., 9.: „Dieses gesamte Fundament der Errungenschaften der Résistance ist heute in Frage gestellt.“
  5. Stéphane Hessel: Empört Euch!. Ullstein, Berlin 2010 (Originaltitel: Indignez-vous !, übersetzt von Michael Kogon), ISBN 978-3-550-08883-4, S. 7ff..
  6. Stéphane Hessel: Empört Euch!. Ullstein, Berlin 2010 (Originaltitel: Indignez-vous !, übersetzt von Michael Kogon), ISBN 978-3-550-08883-4, S. 20.
  7. Stéphane Hessel: Empört Euch!. Ullstein, Berlin 2010 (Originaltitel: Indignez-vous !, übersetzt von Michael Kogon), ISBN 978-3-550-08883-4, S. 16ff..
  8. Stéphane Hessel: Empört Euch!. Ullstein, Berlin 2010 (Originaltitel: Indignez-vous !, übersetzt von Michael Kogon), ISBN 978-3-550-08883-4, S. 15.
  9. Stéphane Hessel: Empört Euch!. Ullstein, Berlin 2010 (Originaltitel: Indignez-vous !, übersetzt von Michael Kogon), ISBN 978-3-550-08883-4, S. 9.
  10. Stéphane Hessel: Empört Euch!. Ullstein, Berlin 2010 (Originaltitel: Indignez-vous !, übersetzt von Michael Kogon), ISBN 978-3-550-08883-4, S. 13ff., 13.
  11. Stéphane Hessel: Empört Euch!. Ullstein, Berlin 2010 (Originaltitel: Indignez-vous !, übersetzt von Michael Kogon), ISBN 978-3-550-08883-4, S. 9.
  12. Stéphane Hessel: Empört Euch!. Ullstein, Berlin 2010 (Originaltitel: Indignez-vous !, übersetzt von Michael Kogon), ISBN 978-3-550-08883-4, S. 11f..
  13. Stéphane Hessel: Empört Euch!. Ullstein, Berlin 2010 (Originaltitel: Indignez-vous !, übersetzt von Michael Kogon), ISBN 978-3-550-08883-4, S. 21.
  14. Berliner Zeitung am 17. März 2011: Engagiert Euch! Abgerufen am 20. Oktober 2011.
  15. Ullstein-Verlag zur deutschen Übersetzung: „Erschienen: 15.07.11“. Abgerufen am 20. Oktober 2011.
  16. Pierre Assouline, « A-t-on le droit de ne pas s’indigner avec Stéphane Hessel ? », In: La république des livres (Le Monde). 4 janvier 2011
  17. Zu den kritischen Stimmen in Frankreich vgl. die Übersicht bei Chloé Leprince: Hessel : après l'emballement, place aux sceptiques. In: Rue89. 8. Januar 2011. Abgerufen am 22. Februar 2011.
  18. paysagesblog: Ein paar Worte zur Resonanz des Buches „Indignez vous !“ von Stéphane Hessel in der Rheinpfalz vom 4. Januar 2011. Abruf 7. Januar 2011 22:35.
  19. Rudolf Balmer: Indignez-vous !. In: die tageszeitung. 4. Januar 2011, abgerufen am 7. Januar 2011 (deutsch).
  20. Sylvie Stephan: Frankreichs rebellischer Bestseller. In: rp-online.de. 8. Januar 2011. Abgerufen am 22. Februar 2011.
  21. Gero von Randow: Empört euch!. In: Die Zeit. 14. Januar 2011. Abgerufen am 22. Februar 2011.
  22. Christian Geyer: Warum ist Empörung wertvoll? Weil sie dazu zwingt, ein Leben aus Ideen zu führen. In: FAZ. 11. Februar 2011. Abgerufen am 22. Februar 2011.
  23. Hubert Spiegel: Enzensbergers Brüssel-Polemik. Die Bürokratie frisst ihre Bürger. In: FAZ.NET. 18. März 2011. Abgerufen am 18. März 2011.
  24. Arno Widmann: Die Rückkehr der Résistance. In: fr-online.de. 10. Januar 2011. Abgerufen am 22. Februar 2011.
  25. Jakob Augstein: Merde!. In: Freitag, Nr. 2/2011, S. 1, 13. Januar 2011, online am 16. Januar 2011. Abgerufen am 6. März 2011.
  26. Jakob Augstein: Im Land der Niedertracht. In: Spiegel online. 13. Januar 2011. Abgerufen am 25. Februar 2011.
  27. Georg Schramm bei der 67. Montagsdemonstration gegen Stuttgart 21, youtube.de, 14. März 2011 Abgerufen am 24. März 2011
  28. Indignados en la calle. In: El Pais. 17. Mai 2011 (spanisch). Abgerufen am 21. Mai 2011: „El pasado domingo, las principales ciudades españolas fueron escenario de manifestaciones convocadas en la estela del panfleto publicado por el francés Stéphane Hessel, ¡Indignaos!“ (auf Deutsch: „Am vergangenen Sonntag waren die wichtigsten spanischen Städte Schauplatz von Demonstrationen, die sich auf das Pamphlet des Franzosen Stéphane Hessel ‚Empört Euch!‘ beriefen.“)
  29. Empört Euch! - Senftenberger Bühne mit deutscher Erstaufführung. vom 6. September 2011 - Kulturportal der Märkischen Allgemeinen Zeitung

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