Jüdischer Selbsthass

Jüdischer Selbsthass

Der Begriff jüdischer Selbsthass soll ein angebliches Verhalten einzelner jüdischer Persönlichkeiten beschreiben, die sich nach der „Selbsthass-Theorie“ in überkritischer oder psychisch autodestruktiver Art gegen das Judentum und die eigene Zugehörigkeit zum Judentum wenden.

Inhaltsverzeichnis

Charakteristik

Einerseits wird von Verfechtern der Theorie üblicherweise geltend gemacht, der unterstellte „jüdische Selbsthass“ sei ein Versuch, aus einer geschmähten und als minderwertig empfundenen Existenz auszubrechen; die eigene Identität werde - nicht zuletzt aufgrund von Anfeindungen - negiert oder negativ besetzt. „Jüdischer Selbsthass“ sei insofern Folge des Antisemitismus. Andererseits werden zeitgeschichtliche Dokumente eines angeblichen jüdischen Selbsthasses häufig dazu genutzt, als Ursache bzw. Verstärker antisemitischer Auffassungen zu dienen. Schließlich werden von Juden selbst vorgebrachte Äußerungen ihres „jüdischen Selbsthasses“ als sowohl antisemitisch bedingt wie antisemitisch wirkend gewertet.

Begriffsgeschichte

Die Wendungen „jüdischer Selbsthass“ und „jüdischer Antisemitismus“ wurden innerhalb der deutsch-jüdischen Publizistik um die Wende zum 20. Jahrhundert geprägt.[1] Einflussreich wurden insbesondere die Betrachtungen von Theodor Lessing, der 1930 im Jüdischen Verlag ein Buch mit dem Titel Der jüdische Selbsthaß veröffentlichte.

Schon die ursprüngliche Begriffsbildung und einschlägige Publikationen wie vor allem die vielrezipierte Schrift Lessings stießen vielfach auf Kritik. Die jüngere Forschung bewertet den Begriff durchweg als problematisch - beispielsweise in dieser Form:

„Als Erklärungsmuster für das Verhalten jüdischer Intellektueller führt allerdings der Begriff 'jüdischer Selbsthaß' wohl mehr Probleme ein, als er zu lösen vorgibt. Der Begriff tendiert vor allem dazu, eine normative Definition von jüdischer Identität zu fordern, die spätestens seit der Aufklärung nicht mehr zu Verfügung steht.[2]

Zuschreibungen

In seinem Buch zum Thema behandelte Theodor Lessing die von ihm für exemplarisch erklärten Paul Rée, Otto Weininger, Arthur Trebitsch, Max Steiner, Walter Calé und Maximilian Harden.

Arno Lustiger kommt in einem FAZ-Artikel[3] u. a. zu sprechen auf die jüdischen Konvertiten Pablo Christiani, Nikolaus Donin und Johannes Pfefferkorn, die sich für Judenverfolgungen der Kirche einsetzten; auf Karl Kraus, auf Hugo von Hofmannsthal, Egon Friedell, Noam Chomsky, Moshe Menuhin, Alfred Grosser und Abraham Melzer. Er geht davon aus, dass Antizionismus auf Antisemitismus hinauslaufe.

Wolf Biermann attestierte Hans-Joachim Schoeps jüdischen Selbsthass.[4]

Literatur

  • W. M. L. Finlay: Pathologizing dissent: Identity politics, Zionism and the self-hating Jew, in: British Journal of Social Psychology 44/2 (2005), S. 201–222.
  • Sander L. Gilman: Jüdischer Selbsthaß. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden, Frankfurt am Main 1993 (Übers. der englischen Erstausgabe: Jewish Self-Hatred: Anti-Semitism and the Hidden Language of the Jews, Baltimore 1986).
  • Sander L. Gilman: Jewish Writers and German Letters. Anti-Semitism and the Hidden Language of the Jews, in: The Jewish Quarterly Review 77/2-3 (1986-87), S. 119-148.
  • Susan Anita Glenn: The Vogue of Jewish Self-Hatred in Post-World War II America, in: Jewish Social Studies 12/3 (2006) (New Series), S. 95-136.
  • Walter Grab: „Jüdischer Selbsthaß“ und jüdische Selbstachtung in der deutschen Literatur und Publizistik 1890 bis 1933, in: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, hrsg. von Horst Denkler und Hans Otto Horch, Tübingen 1989, S. 313-336.
  • Marie Haller-Nevermann: Jüdische Herkunft und ihre Negation - Jude und Judentum im Werk Anna Seghers’. In: Argonautenschiff 6 (1997) S. 307-323.
  • Hans Dieter Hellige: Generationskonflikt, Selbsthaß und die Entstehung antikapitalistischer Positionen im Judentum. Der Einfluß des Antisemitismus auf das Sozialverhalten jüdischer Kaufmanns- und Unternehmersöhne im Deutschen Kaiserreich und in der K.u.K.-Monarchie, in: Geschichte und Gesellschaft 5/4 (1979), S. 476-518.
  • Allan Janik: Viennese Culture and the Jewish Self-Hatred Hypothesis. A Critique, in: Ivar Oxaal, Michael Pollak, Gerhard Botz (Hgg.): Jews, Antisemitism and Culture in Vienna, Routledge / Kegan Paul, London-New York 1987, S. 75.88.
  • Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthaß, Jüdischer Verlag, Berlin 1930. (Digitalisat bei archive.org) Neuausgabe mit einem Vorwort von Boris Groys. Matthes & Seitz Verlag, München 2004, ISBN 3-88221-347-7.
  • Kurt Lewin: Self-Hatred Among Jews, in: Contemporary Jewish Record, Juni 1941, Nachdruck in: Ders.: Resolving Social Conflicts. Selected Papers on Group Dynamics, hg. von G. W. Lewin / G. W. Allport, Harper & Brothers, New York 1948, 186-200.
  • Peter Loewenberg: Antisemitismus und jüdischer Selbsthass. Eine sich wechselseitig verstärkende sozialpsychologische Doppelbeziehung, in: Geschichte und Gesellschaft 5/4 (1975), S. 455-475
  • Jacob Neusner: Zionism and "The Jewish Problem", in: Midstream 15/9 (1969), 34-53.
  • Jacob Neusner: SELF-HATRED, JEWISH, in: Encyclopaedia Judaica 2. A., Bd. 18, S. 264f.
  • Carsten Schapkow: Judenbilder und jüdischer Selbsthaß. Versuch einer Standortbestimmung Ernst Tollers. In: Stefan Neuhaus u.a. (Hgg.): Ernst Toller und die Weimarer Republik. Ein Autor im Spannungsfeld von Literatur und Politik, Würzburg 1999, S. 71-87.

Einzelnachweise

  1. Matthias Hambrock: Die Etablierung der Aussenseiter: der Verband nationaldeutscher Juden 1921-1935, Böhlau Verlag, Köln - Weimar - Wien 2003, S. 521; Gilman 1993, 210ff.
  2. Jeffrey Grossman: 'Die Beherrschung der Sprache': Funktionen des Jiddischen in der deutschen Kultur von Heine bis Frenzel, in: Jürgen Formann / Helmut J. Schneider (Hgg.): 1848 und das Versprechen der Moderne, Königshausen & Neumann, Würzburg 2003, S. 165-179, hier S. 165.
  3. Arno Lustiger: Kurzer Lehrgang über den Selbsthass, FAZ vom 18. September 2008.
  4. W. Biermann: Jüdischer Selbsthaß und Haß auf Juden. Tacheles zum Theodor-Lessing-Preis am 6. März 2008 in Hannover.

Weblinks


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