Jacob Neusner

Jacob Neusner

Jacob Neusner (* 28. Juli 1932 in Hartford, Connecticut) ist ein einflussreicher Gelehrter des Judentums. Er hat über 900 Bücher über die Tora, die Mischna, die Tosefta, den Talmud, den Midrasch und andere jüdische Schriften geschrieben oder herausgegeben.

Inhaltsverzeichnis

Biografie

Neusner wurde an der Harvard-Universität, am konservativen Jüdisch-theologischen Seminar von Amerika – dort erhielt er seine rabbinische Ordination –, an der Universität Oxford und an der Columbia-Universität ausgebildet. Später lehrte er an der Columbia-Universität, an der University of Wisconsin-Milwaukee, der Brandeis University, dem Dartmouth College, der Brown University, der University of South Florida und am Bard College.

Neusner ist Mitglied des Institute for Advanced Study in Princeton und Mitglied auf Lebenszeit am Clare College der Universität Cambridge. Er ist der einzige Gelehrte, der sowohl der Nationalstiftung der USA für Geisteswissenschaften und derjenigen für die Künste angehört. Darüber hinaus hat er zahlreiche akademische Auszeichnungen, Ehrungen und andere Achtungsbezeugungen erhalten. Neusner, gläubiger Jude und Rabbi, ist in Freundschaft mit katholischen und evangelischen Christen aufgewachsen, lehrt mit christlichen Theologen zusammen an der Universität und steht dem Glauben seiner christlichen Kollegen mit tiefem Respekt gegenüber, bleibt aber doch zutiefst von der Gültigkeit der jüdischen Auslegung der Heiligen Schriften überzeugt.[1]

Seit 1994 lehrt Neusner an der Barde-Universität.

Wissenschaftliche Lehre

Neusners wissenschaftlicher Tätigkeitsbereich ist sehr weit gespannt. Grob umrissen stehen das rabbinische Judentum sowie die Zeitalter der Mischna und des Talmud im Zentrum seiner Forschungstätigkeit. Er war einer der Pioniere in der Anwendung der „Form-Kritik“ zur Erschließung rabbinischer Texte. Viele seiner Arbeiten verfolgen das Ziel, die vorherrschende Methode, in der das rabbinische Judentum als eine einheitliche religiöse Bewegung aufgefasst wird in der die rabbinischen Texte entstanden, zu dekonstruieren. Im Gegensatz zur vorherrschenden Auffassung sieht Neusner jedes rabbinische Dokument als individuellen Beitrag zur Evidenz des Judentums an, durch welchen lediglich ein Licht auf das lokale und spezifische Judentum des Autors geworfen wird. Sein Buch „Judaism: The Evidence of the Mishnah (Chicago, 1981; übersetzt ins Hebräische und Italienische) ist die klassische Erklärung seiner Arbeit.

Die Methode, Dokumente individuell zu verstehen, ohne sie mit anderen rabbinischen Dokumenten desselben Zeitalters oder Genres in einen Zusammenhang zu stellen, führte zu einer Reihe sehr wichtiger Studien über die Bildung von Verständniskategorien im Judentum und ihre gegenseitigen Beziehungen – wie sie exemplarisch in den vielfältigen rabbinischen Texten erscheinen. Neusners Arbeiten zeigen zum Beispiel, wie stark das Judentum in das System des Pentateuch integriert ist, wie Kategorien wie „Verdienst“ und „Reinheit“ im Judentum wirken und wie das klassische Judentum die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 verarbeitete und transzendierte.

Neusner hat nahezu den kompletten rabbinischen Kanon ins Englische übersetzt. Hierdurch wurden viele rabbinische Dokumente Wissenschaftlern anderer Fachgebiete, die das Hebräische und Aramäische nicht beherrschen, zugänglich. Seine Übersetzungstechnik benutzt das „Harvard-outline“ – Format. Dieses Format soll die Argumentationsketten rabbinischer Texte auch Jenen verständlich machen, die mit dem talmudischen Denken nicht vertraut sind.

Theologische Arbeiten

Neben seinen historischen Arbeiten und den Textbearbeitungen hat Neusner auch Ausflüge in das Gebiet der Theologie unternommen. Auf diesem Gebiet ist er Autor der Bücher „Israel: Judaism and its Social Metaphors“ und „The Incarnation of God: The Character of Divinity in Formative Judaism“.

Beiträge zur akademischen Welt

Zusätzlich zu seinen wissenschaftlichen Tätigkeiten ist Neusner in der Erarbeitung jüdischer und religiöser Studien an den amerikanischen Universitäten engagiert. Er hat mehrere Konferenzen und Projekte zur Verständigung der Religionen gefördert. Es wurden bei diesen Gelegenheiten und in verschiedenen Büchern unter anderem Themen wie „Unterschiede der Religionen“, „Religion und Gesellschaft“, „Religion und materielle Kultur“, „Religion und Wirtschaft“, „Religion und Nächstenliebe“ und „Religion und Toleranz“ behandelt. Diese in Kooperationen durchgeführten Initiativen gründen auf Neusners intellektuellem Begriff von Religion als einem System und hätten sonst nicht stattfinden können. Im Rahmen seiner Studien zum Judentum und zur jüdischen Religion entwickelte er Methoden und Theorien, die auf das Studium der Religionen allgemein anwendbar sind.

Neusner hat mehrere Bücher geschrieben, die die Beziehungen des Judentums zu anderen Religionen erforschen. Sein Buch „A Rabbi Talks with Jesus“ (Philadelphia, 1993; übersetzt ins Deutsche, Italienische und Schwedische) ist der Versuch, ein religiös fundiertes Netzwerk für den jüdisch-christlichen Austausch zu etablieren. Es wurde von Joseph Ratzinger (heute Papst Benedikt XVI.) in seinem Buch „Jesus von Nazareth. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung“ in Bezug genommen und positiv gewürdigt. 2008 nimmt er den Papst in der Auseinandersetzung um die Änderung der alten Karfreitagsfürbitte in Schutz. Auch Israel bete in seinem Gottesdienst täglich dafür, dass Gott die Völker erleuchte und in seinem Reich zusammenführe. Das katholische Karfreitagsgebet bringe dieselbe großherzige Haltung zum Ausdruck, die für das Gebet des Judentums charakteristisch sei.[2]

Neusner hat auch mit anderen Wissenschaftlern zusammen Vergleiche zwischen Judentum und Christentum erarbeitet und veröffentlicht, wie etwa in den Büchern „The Bible and Us: A Priest and A Rabbi Read Scripture Together“ (New York, 1990; übersetzt ins Spanische und Portugiesische). Er hat mit Gelehrten des Islam zusammengearbeitet und in dem Buch „World Religions in America: An Introduction“ (dritte Auflage, Nashville, 2004) einen Eindruck davon vermittelt, wie sich die verschiedenen Religionen im typischen amerikanischen Kontext entwickelt haben.

Auch zahlreiche Lehrbücher und für das breite Publikum geschriebene Bücher aus der Feder Neusners sind zu erwähnen. Die bekanntesten Beispiele sind „The Way of Torah: An Introduction to Judaism“ (Belmont, 2003) und „Judaism: An Introduction“ (London und New York, 2002; übersetzt ins Portugiesische und Japanische).

Während seiner gesamten Karriere hat Neusner Buchreihen und Veröffentlichungsprogramme mit verschiedenen wissenschaftlichen Verlagen gegründet. Durch diese Serien, Einführungen und Konferenzen die er editierte und sponserte hat Neusner die Karrieren Dutzender junger Wissenschaftler rund um die Erde gefördert. Nur wenige andere Theologen haben einen vergleichbaren Einfluss auf Studenten auf so unterschiedlichen Gebieten hinsichtlich der Methoden und der Interessen gehabt.

Kritische Auseinandersetzung mit Neusner

Trotz seines großen Einflusses ist Neusner von vielen seiner Fachkollegen kritisiert worden. Selbst von seinen ehemaligen Lehrern Saul Lieberman, Solomon Zeitlin und Morton Smith wurde er wegen seiner Methode kritisiert. Sie werfen ihm vor, viele seiner Argumente seien zirkulär oder versuchten, sogenannte „negative Annahmen“ mit nicht stichhaltigen Beweisen zu belegen (z. B. Cohen, Evans, Maccoby, Poirier, Sanders)). Außerdem stehen viele Wissenschaftler Neusners Lesart und Interpretationen der rabbinischen Texte kritisch gegenüber. Der Zugang zu ihnen sei gezwungen und sehr ungenau (z. B. Cohen, Evans, Maccoby, Poirier und im Detail Zuesse). Sie glauben, dass Neusners Haltung eine feindliche Tendenz gegen die traditionelle jüdische Praxis verrät und dass diese Tendenz seine Forschungen über das pharisäische und rabbinische Judentum beeinflusst hat.

Die treffendste und gründlichste Kritik an Neusners Werk stammt von E. P. Sanders. Neusner hatte versucht zu zeigen, dass die Pharisäer des zweiten Tempel tatsächlich nur eine sektiererische Randgruppe darstellten, die sich als eine Art Tischgemeinschaft mit einem besonderen Reinheitsritual in Bezug auf Speisen gebildet hatte aber an weiteren jüdischen Werten und sozialen Problemen nicht interessiert gewesen sei. Er begab sich damit in Widerspruch zu dem zeitgenössischen – oder nahezu zeitgenössischen – Bericht des Flavius Josephus, in dem er das Tischgebet (hebr. Birkat Ha-Mason) beschreibt, das von den Pharisäern entwickelt worden sei und auch in der frühen rabbinischen Literatur beschrieben wird. Zeitlin und Maccoby zweifelten Neusners Darstellung an und in seiner ausführlichen Untersuchung dieser Frage kam Sanders zu dem Schluss, dass Neusners Interpretationen der pharisäischen Diskussionen und Beschlüsse ungenau und willkürlich seien und die daraus gezogenen Schlüsse somit fragwürdig seien (z. B. behauptet Neusner, dass sich 67% der von den pharisäischen „Häusern“ geführten Diskussionen um das Thema „Reinheit der Speisen“ drehten, Sanders dagegen ist der Meinung, dass dieses nur weniger als 1% der Diskussionen ausmacht).

Papst Benedikt XVI. setzt sich in seinem Buch Jesus von Nazareth. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung ausführlich mit Neusners Kritik an Jesus auseinander, wie er sie in seinem Buch Ein Rabbi spricht mit Jesus dargelegt hat.

Daniel Boyarin kritisiert Neusners' Umgang mit der Methode der Intertextualität. Dieser würde den Begriff der Intertextualität missverstehen, wenn er von dieser Methode sprechen würde, als ob es Texte wären, die einander entgegengesetzt wären [3]. Beispielhaft für dieses Missverständnis sei laut Boyarin, das Werk von James Kugel: „zwei Einleitungen in ein Midrash ("Two Introductions to Midrash")“[4], das in Jacob Neusners' Werk The Case of James Kugel's Joking Rabbis and Other Serious Issues [5] kritisiert wurde. Neussner sei nach Boyarin besessen davon, gegen seinen missverstandenen Begriff der Intertextualität als Merkmal des Midrasch zu argumentieren. In seinem Bestreben die Vertreter der Intertextualität auf jede mögliche Weise anzugreifen, habe er das Feuer gegen jene Gelehrten eröffnet, die er als Kugel und seine Freunde oder manchmal als Prooftexts Kreis bezeichnet [6].

Bibliographie (deutsch)

  • Ein Rabbi spricht mit Jesus: ein jüdisch-christlicher Dialog; Freiburg : Herder, 2007; ISBN 978-3-451-29583-6
  • Ein Rabbi spricht mit Jesus: ein jüdisch-christlicher Dialog; München : Claudius-Verl., 1997; ISBN 3-532-62208-4
  • Die Gestaltwerdung des Judentums: die jüdische Religion als Antwort auf die kritischen Herausforderungen der ersten sechs Jahrhunderte der christlichen Ära; Frankfurt am Main; Berlin; Bern; New York; Paris; Wien: Lang, 1994; ISBN 3-631-44571-7
  • Judentum in frühchristlicher Zeit; Stuttgart : Calwer Verl., 1988; ISBN 3-7668-0775-7
  • Das pharisäische und talmudische Judentum : neue Wege zu seinem Verständnis; Tübingen : Mohr, 1984; ISBN 3-16-144795-6

Bibliographie (englisch)

  • The Case of James Kugel's Joking Rabbis and Other Serious Issues. In: Wrong Ways and Right Ways in the Study of Formative Judaism (Atlanta 1988) SS. 59-73.

Weblinks

Quellen

  1. Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Herder, 2007, ISBN 3-4512-9861-9, S.134-135
  2. Kath.net: Weltbekannter Rabbi nimmt Papst gegen Kritik in Schutz 23. Februar 2008
  3.  :" While recent writers on rabbinic literature have already discussed it in terms of intertextuality, I believe that a misreading of this concept often shows up in their texts, for they speak of "intertextuality" as if it were a characteristic of some texts as opposed to others. " In: Boyarin, S. 12
  4. James Kugel, Two Introductions to Midrash, in Hartman und Budick, SS. 77-105
  5. Jacob Neusner, The Case of James Kugel's Joking Rabbis and Other Serious Issues, in his Wrong Ways and Right Ways in the Study of Formative Judaism (Atlanta 1988) SS. 59-73
  6.  :"Neusner has a kind of obsession with arguing against his misconceived notion of intertextuality as a characteristic of midrash. In his zeal to attack the intertextualists on every possible front, he has opened here another battlefield against those scholars that he refers to as Kugel and his friends or sometimes the Prooftexts circle." In: Boyarin, S. 13

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