Tierphilosophie bei Derrida

Tierphilosophie bei Derrida

Jacques Derrida hat sich in seinem Spätwerk intensiv mit der „Frage nach dem Tier[1] beschäftigt. Er fragt, einer Analyse von Emmanuel Levinas und Jacques Lacan teilweise folgend,[2] nach Elementen in der Philosophie von Heidegger, die diesen dazu verleitet haben, eine nationalsozialistische Position einzunehmen.[3]

Er hinterfragt dabei den Begriff der Verantwortung bei Heidegger und letztlich den Begriff der Person als diejenige Entität, die Verantwortung hat. Derrida pflichtet der Proposition von Levinas bei, wonach diese „,Person’ (…) eine Singularität [sei], die sich abgrenzt und abtrennt, um sich selbst wieder zusammenzusetzen und dem Anderen zu antworten, dessen Ruf irgendwie der eigenen Identifikation mit dem Anderen vorhergeht.“[4] Einerseits folgt Derrida Heidegger in dessen Kritik des Personenbegriffs vom ausschließlich menschlichen Selbst als stabiles, ahistorisches und autonomes Subjekt im Kartesianischen Sinne. Er formuliert die Frage aber weiter als ein Problem der Grenzziehung zwischen Subjekten und nicht-Subjekten.[5]

Heidegger verwendete mehrere Ausschlusskriterien für nichtmenschliche Tiere von seinem Personenbegrif:[A 1] Zwar nehmen nichtmenschliche Tiere Dinge wahr; Sind also nicht wie etwa Steine Weltlos. Ihnen fehle aber, anders als Menschen, die Fähigkeit, Dinge als solche zu erkennen, das heißt in einen Funktionalzusammenhang mit der Welt zu sehen. Sie hätten kein „einheitbildendes Vernehmen von Etwas als Etwas“ und seien daher Weltarm.[6]

Analog zur Derridas Kritik an der abendländischen Metaphysik sieht er auch in Heideggers Konstruktion von Menschen als Weltbildend vs. Tiere als Weltarm einebinäre hierarchische Gegenüberstellung, wie sie laut Derrida sehr häufig in westlicher Philosophie zu finden sind und auch darüber hinaus Denkmuster beherrschen. So sei es beispielsweise durch nichts Anderes als Dogmatismus zu erklären, dass Heidegger bei nichtmenschlichen Menschenaffen explizit von einem „Organ zum Greifen, aber keine[r] Hand“[7] spricht.[8] Weitere die Metaphysik beherrschende Gegenüberstellungen sind nach Derrida etwa Gott vs. Schöpfung, Geist vs. Körper, Natur vs. Kultur usw.[9]

Derrida sieht diese binären hierarchischen Gegenüberstellungen in einer logozentrischen Denktradition, die in den Kontext einer „Carno-Phallogozentris[chen]“, d.h. von eine von dem Primat fleisch essender menschlicher Männer ausgehenden Position gestellt hat. [10] Derrida schreibt deshalb von einem „Interesse, (…) die Frage nach dem Ursprung von Verantwortlichkeit“ zu radikalisieren.[11]

„Wenn wir davon sprechen wollen: von der Ungerechtigkeit, der Gewalt oder der Respektlosigkeit denen gegenüber, die wir noch immer in unserer Verwirrung Tiere nennen […] Dann müssen wir die metaphysische anthropozentrische Axiomatik, die im Westen das Denken von Gerechtem und Ungerechtem dominiert, in ihrer Totalität neu diskutieren.[12]

Ein sprachlicher Mechanismus das Tier archetypisch für das Andere zu konstruieren ist nach Derrida bereits der Begriff „Tier“ an und für sich oder vielmehr die Tatsache, dass eine „Mannigfaltigkeit von Wesen“ unter einem einzigen homogenisierenden Begriff subsummiert wird.

„All die dekonstruktorischen Gesten, die ich philosophischen Texten gegenüber, insbesondere denen von Heidegger, erprobt habe, bestehen darin, die voreingenommene Missachtung dessen, was man das TIER im allgemeinen nennt, und die Art und Weise, wie diese Texte die Grenze zwischen MENSCH und TIER interpretieren, in Frage zu stellen. In den letzten Texten, die ich zu dieser Sache veröffentlicht habe, ziehe ich die Bezeichnung ‚TIER’ im Singular, als ob es den MENSCHEN und das TIER gäbe, schlechthin in Zweifel, als ob der homogene Begriff Das TIER sich auf universelle Weise auf alle Formen des nicht-menschlichen Lebens erstrecken könnte.[13]

Um die Rolle von Sprechakten im Prozess der Konstruktion von Anthropozentrismus wie bei Heidegger zu unterstreichen, schlägt Derrida die Wortschöpfung Animot[A 2] vor.[14]

„Ecce Animot. Weder Species noch Gender noch Individuum ist es eine irreduzible lebendige Vielfalt von Sterblichem (…) Es öffnet uns für die referentielle Erfahrung der Sache als solche; als das, was es in ihrem Sein ist[15]

In den ökofeministischen Human-Animal Studies hat Carol Adams darauf aufbauend die These der abwesenden Referenten entwickelt. Nichtmenschliche Tiere werden dieser Idee folgend nicht nur als Mannigfaltigkeit im Wort „Tier“ homogenisiert, sondern auch durch Sprache abwesend gemacht: So sind etwa in den Begriffen „Fleisch“, „Leder“, „Wolle“ etc. die Bezüge zu den tierlichen Körpern nicht mehr erkennbar. Laut Adams greifen vergleichbare Mechanismen auch in gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen, die Frauen betreffen.[14][16]

Gary Steiner kritisiert an Derrida, dass er offensichtliche Konsequenzen aus einem erweiterten Personenbegriff, wie den Veganismus, nicht bereit sei anzunehmen oder zu fördern. Steiner greift die Position Derridas, dass weil „Sprache [immer] eine ambivalente Beziehung zur Wirklichkeit“[17] habe und kategorische Prinzipien stets „ein Instrument zur Beherrschung des Anderen“[18] seien, scharf an. So bezeichnet sich Derrida einerseits als ein „Vegetarier in der Seele“[19], lehnt aber das Propagieren vegetarischer Kultur ab, weil eine Tierrechtspraxis oder ökologische Kultur „die Herrschaft des Subjekts notwendigerweise reproduzieren“.[20]

Diese Unmöglichkeit, feste Prinzipien zu formulieren, zwinge Derrida und seine Nachfolger wie Cary Wolfe und Leonard Lawlor eine Position der Tierrechte oder eines Gebots der Gewaltfreiheit gegenüber Tieren zurückzuweisen. Wolfe und Lawlor bspw. beschreiben ihre Position als eine „Theorie des minimalen Fleischkonsums“[21] und sind „normalerweise Vegetarier“[22] und nehmen etwa Positionen ein, die „keine spezifischen und konkreten Reformen befürworten“, weil „solche Reformen [immer] auf lokaler Ebene durchgesetzt werden (…) und regionale Unterschiede berücksichtigt werden müssen.“[23] Diese Position verliere dadurch jeglichen politischen und emanzipatorischen Charakter, denn „wenn es für uns nicht ganz leicht und günstig ist“, moralische Ansprüche von Tieren zu respektieren, können diese auch ignoriert werden und sind damit von vornherein überflüssig.[17] Zu Carol Adams hatte Gary Francione zuvor eine vergleichbare Kritik formuliert.[24]

Rolle von Derridas Katze

Als relevant für die tierphilosophische Entwicklung von Derrida werden vielfach die Begegnungen mit seiner Katze eingeschätzt, die er in L‘animal que donc je suis beschreibt.[25][26][27][28] Baker 2000 berichtet etwas spöttisch, dass diese Begegnung wohl wesentlich mehr Einfluss auf Derridas Position hatte, als etwa der ernsthafte Versuch seines Schülers und späteren Philosophen David Wood, Derrida in den 1970ern vom Vegetarismus zu überzeugen.[29]

„Das Tier schaut uns an und wir stehen nackt vor ihm. Und vielleicht fängt das Denken an genau dieser Stelle an[30]

Derrida meint in diesem Essay, ein Schamgefühl durch den Blick seiner Katze zu fühlen, weil er nackt im Badezimmer stand. Zwar bezieht er sich auch auf biblische Passagen zur Scham in Genesis, betont aber vielfach, dass es die konkrete Katze war, die etwas in ihm bewegt hat. Die Katzenaugen, schreibt er, seien für ihn in dieser Situation ein Spiegel für das autobiografische Ich gewesen.[31] Er schreibt von einer „tiefgehende[n] Rührung, die falls ernst genommen, die Basis des Philosophischen Problems des Tieres verändern könnte”.[32]

Literatur

Primär
  • ‘Eating Well’ or the Calculation of the Subject: An Interview with Jacques Derrida in Who Comes After the Subject? eds. Cadava, Connor, & Nancy, New York: Routledge, 1991, p 96–119.
  • J. Derrida, Of Spirit: Heidegger and the Question (University Of Chicago Press, 1991).
  • J. Derrida, ‘Force of Law: The Mystical Foundation of Authority’, 1992. Übersetzung durch M. Quaintance in Cordozo Law Review II (1989-1990)
  • J. Derrida et al., Mensch Und Tier. Eine Paradoxe Beziehung. (Hatje Cantz Verlag GmbH+C, 2002).
  • J. Derrida & E. Roudinesco, Woraus Wird Morgen Gemacht Sein?: Ein Dialog, 2nd edn (Klett-Cotta, 2006).
  • J. Derrida, Das Tier, Das Ich Also Bin, 1st edn (Passagen Verlag, 2010). (Original: L‘animal que donc je suis[A 3]) Zitationen beziehen sich auf die französischsprachige Ausgabe (Paris Galilée, 1999.)
  • M. Heidegger, Die Grundbegriffe Der Metaphysik: Welt - Endlichkeit - Einsamkeit, 1st edn (Klostermann, 2004).
Sekundär
  • G. Steiner, Anthropocentrism and Its Discontents: The Moral Status of Animals in the History of Western Philosophy, 1st edn (University of Pittsburgh Press, 2010).
  • G. Steiner, Tierrecht und die Grenzen des Postmodernismus: Der Fall Derrida ALTEXethik 27 (2010): 3–10
  • L. Lawlor, This Is Not Sufficient: An Essay on Animality and Human Nature in Derrida (Columbia University Press, 2007).
  • C. Wolfe, Zoontologies: The Question of the Animal (Univ Of Minnesota Press, 2003).
  • M. Wild, Derrida und das »Tierwort«: Jenseits der anthropologischen Differenz, in Tierphilosophie Zur Einführung, 2nd edn (Junius Verlag, 2010), pp. 192-212.
  • S. Baker, Postmodern Animal (Reaktion Books, 2000).

Einzelnachweise

  1. Derrida 1991 a S. 105
    Diese Floskel ist auch im Untertitel von Wolfe 2003 verewigt.
  2. Wild 2008 S. 195
  3. Steiner 2010 a S. 217 & S. 221
  4. Derrida 1991 a S. 100
  5. Steiner 2010 a S. 218
  6. Heidegger 2004 S. 456
  7. In Derrida: Geschlecht II: Heidegger’s Hand, S. 173; Zitiert aus Heidegger (1947) Letter on Humanism.
  8. Baker 2000 S. 94
  9. Wild 2008 S. 197 f.
  10. Derrida 1991 a S. 113
  11. Derrida 1991 b S. 130
  12. Derrida 1992 S. 953
  13. Derrida 2006 S. 111
  14. a b F. Erbacher, Ecce Animot. Sprachliche Konstruktionen Des „Tiers“ (Lüneburg: Leuphana Universität, 2010).
  15. Derrida 2008 S. 48
  16. C. Adams, The Sexual Politics of Meat: A Feminist-vegetarian Critical Theory, 20th Anniversary Edition, Revised (Continuum, 2010).
  17. a b Nach Steiner 2010 b S. 9
  18. Derrida 2008 S. 63
  19. Derrida 1999 S. 20
  20. Derrida 2008 S. 89 & S. 110
  21. Lawlor 2007 S. 105
  22. Lawlor 2007 S. 145
  23. Lawlor 2007 S. 2
  24. G. Francione, Ecofeminism and Animal Rights: A Review of Beyond Animal Rights: A Feminist Caring Ethic for the Treatment of Animals, Women’s Rights L. Rep., 18 (1996), 186-210.
    Auch abgedruckt in G. Francione, Animals as Persons: Essays on the Abolition of Animal Exploitation (Columbia Univ Pr, 2008).
  25. Baker 2000 S 183 ff.
  26. Wolfe 2003 S. 27 ff.
  27. M. Rossini & T, Tyler, Animal Encounters (Brill, 2009) S. 203
  28. L. Simmons and P. Armstrong, Shame, Levinas’s Dog, Derrida’s Cat (and Some Fish) in Knowing Animals (BRILL, 2007). S. 27-42
  29. Baker 2000 S. 184
  30. Derrida 1999 S. 260
  31. Derrida 1999 S. 300 f.
  32. Derrida 1999 S. 253 f.
Anmerkungen
  1. Solche Kriterien heißen in der Fachsprache anthropologische Differenz
  2. Dieser Begriff ist in der französischen Sprache homophon zu Animaux: Tiere. Beim Hören unterscheiden sich Singular und Plural des Wortes Animot nicht. Mot übersetzt sich mit Wort. Es gibt viele Lesarten dieses Kunstgriffs: Wild 2008 S. 205 meint, es stehe für Wörter, die in der philosophischen Literatur von Tieren in dem von Derrida kritisierten hierarchisch gegenüberstellenden Sinn sprechen, und schlägt die Übersetzung Tierwort oder Tierrede vor.
  3. Suis kann sowohl mit Ich bin als auch mit Ich folge übersetzt werden. F. P. Ingold argumentiert in Der Denker und das Biest, Recherche, (2010) für letzteren Begriff als „korrektere“ Übersetzung.

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