Schamgefühl

Schamgefühl

Scham ist ein Gefühl der Verlegenheit oder der Bloßstellung, das durch Verletzung der Intimsphäre auftreten kann oder auf dem Bewusstsein beruhen kann, durch unehrenhafte, unanständige oder erfolglose Handlungen sozialen Erwartungen oder Normen nicht entsprochen zu haben.

Das Schamgefühl ist häufig von vegetativen Erscheinungen wie Erröten oder Herzklopfen (Palpitation) begleitet und kann durch typische Reaktionen wie das Senken des Blickes ausgedrückt werden. Die Intensität der Empfindung reicht von der flüchtigen Anwandlung bis zur tiefsten Beklommenheit. Scham tritt zum Beispiel bei empfundener Entblößung oder einem Achtungsverlust im sozialen Umfeld auf.

Scham kann auch durch Verfehlungen oder empfundene Unzulänglichkeit (Peinlichkeit) anderer ausgelöst werden, die einem gemeinschaftlich verbunden sind. Hierfür ist mitunter der Neologismus Fremdschämen gebräuchlich, der 2009 in den Duden aufgenommen und 2010 in Österreich zum Wort des Jahres gekürt wurde. In der englischen Sprache wird in der Wissenschaftsliteratur seit den 1980er Jahren zwischen vicarious embarrassment (stellvertretende Peinlichkeit) oder empathic embarrassment (empathische Peinlichkeit) unterschieden.[1][2]

Inhaltsverzeichnis

Etymologie

Das deutsche Wort Scham leitet sich gleichbedeutend von althochdeutsch scama bzw. altsächsisch skama ab und geht zurück auf germanisch *skamo (vgl. auch engl. shame).[3] Dieser Wortstamm hat die Bedeutung von „Beschämung, Schande“.[4] Die weitere Abstammung des germanischen Wortes ist nicht abschließend bekannt, eine indogermanische Wurzel nicht gesichert.

Soziologie

Soziologisch kennen alle Gesellschaften – zum Teil höchst unterschiedliche – Gegenstände der Scham, sind also „Schamgesellschaften“, während nur einige „Schuldgesellschaften“ sind. Auch innerhalb ihrer gibt es starke Unterschiede bei den Gegenständen der Scham, z. B. in unterschiedlichen Ständen.[5] Augenscheinliche Übereinstimmungen mit dem allgemeinen Umgang mit Schuld und Scham zeigen sich in dem universell verbreiteten Tabu-Verhalten der menschlichen Gesellschaften.

Ein typisches Beispiel für ein Schamgefühl ist die empfundene Nacktheit, also die Unterschreitung einer Mindestgrenze an körperlicher Bedeckung; dies kann von einer Schnur zur Bedeckung der Geschlechtsorgane bis zur völligen Bedeckung des Körpers im Falle einer Ganzkörperverschleierung reichen. Die gezielte Auslösung von Schamgefühlen anderer in erzieherischer oder feindseliger Absicht, die Demütigung, ist in allen Gemeinschaften eine scharfe negative soziale Sanktion.

Norbert Elias hat 1939 in Über den Prozess der Zivilisation das „Vorrücken der Schamschwelle“ als wesentliches Element der „Zivilisation“ seit dem Mittelalter erfolgreich zu einem soziologischen Schlüsselbegriff gemacht, indem er in der Scham ein wesentliches Kriterium für die Umwandlung von Fremd- in Selbstzwänge sah.[6]

Hans Peter Duerr hat in einem sich prononciert gegen Elias wendenden Werk Der Mythos vom Zivilisationsprozess vor allem im ersten Band Nacktheit und Scham nachzuweisen versucht, dass eine niedrige Schamschwelle gerade eine sehr hohe Zivilisierung voraussetze und nur in einem streng konventionalisierten Rahmen möglich werde. Er sieht gegenwärtig einen Bedeutungsverlust der Scham.[7]

Um Scham von Schuld abzugrenzen, nutzt Sighard Neckel den Begriff der Gewissensangst oder der moralischen Angst für Schuld und den Begriff der sozialen Angst für die Scham. Schuld bezieht sich auf ein inneres Gebot, welches übertreten wird oder auf das was wir als „das „Böse“ in uns anerkennen. Schuld bedarf keiner Entdeckung, sie stellt lediglich auf unser moralisches Empfinden ab. Voraussetzung ist eine Handlung oder auch Nicht-Handlung, die Verantwortung für diese und die Schädigung Dritter.[8]

Philosophie

Friedrich Schleiermacher setzt sich in seiner Schrift Versuch über die Schamhaftigkeit[9] mit der These auseinander, „daß es bei der Schamhaftigkeit darauf ankomme, gewisse Vorstellungen, diejenigen nämlich, welche sich auf die Mysterien der Liebe beziehen, entweder gar nicht zu haben oder wenigstens nicht mitzutheilen, und dadurch in Andern zu erregen“. Demgegenüber sei es aber naturgemäß und „auf eine gewisse Art erlaubt…, die Vorstellungen, welche die Schamhaftigkeit ächtet, zu haben, und daß also das Vermeiden nur in einem beschränkten Sinne zu verstehen ist.“ Wenn es etwas Erlaubtes hierin gebe, so komme es darauf an, „die Grenzlinie zwischen diesem und dem Verbotenen zu finden“. Schleiermacher sieht diese Grenzlinie im Begriff der „Liebe“ im Gegensatz zur „rohen Begierde“. Wenn Liebe im Spiel sei, gelte: „Der Zustand des Genusses und der herrschenden Sinnlichkeit hat auch sein Heiliges und fordert gleich Achtung, und es muß ebenfalls schamlos seyn, ihn gewaltsam zu unterbrechen.“

In der existentialistischen Philosophie des frühen Sartre (L'être et le néant, 1943, dt. Das Sein und das Nichts) offenbart sich in der Scham das grundlegende Faktum des „Für-andere-Seins“ als Selbstentfremdung bzw. Verdinglichung, die das „Für-sich“ in der konfliktuösen Begegnung mit dem anderen erleidet; Scham ist insbesondere Anerkennung der Tatsache, dass ich so bin, wie der andere mich sieht.

Tiefenpsychologie

Sigmund Freud scheint dem Phänomen der Scham nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet zu haben; sie gilt ihm im Wesentlichen neben dem Ekel als Reaktionsbildung gegen die anarchische Äußerung infantiler Sexualität, speziell exhibitionistischer bzw. voyeuristischer Triebimpulse.[10]

Der Freud-Schüler Erik H. Erikson situiert in seinem Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung Scham und Zweifel als Effekte einer misslingenden Lernerfahrung „Autonomie“ des zwei- bis dreijährigen Kindes in der „analen Phase“ (Stufe II seines Modells).[11] Scham tritt hier in Gegensatz zum Stolz über gemeisterte Entwicklungsschritte. Erikson deutet Scham als sekundär gegen das Ich gerichteten Zorn: „Der Schamerfüllte möchte […] die Welt zwingen, ihn nicht anzusehen […]. Er würde am liebsten die Augen aller anderen zerstören. Statt dessen muss er seine eigene Unsichtbarkeit wünschen.“[12]

Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich die Psychoanalyse verstärkt dem Thema zugewandt, um nicht zuletzt die Bedeutsamkeit von Schamkonflikten und traumatischen Schamerfahrungen für schwerste Pathologien (Dissoziale Persönlichkeit, Sucht, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Schizophrenie) nachzuweisen. Wegweisend sind hier insbesondere die Arbeiten von Léon Wurmser.[13] Die Psychologie der Scham wurde vom Sozialwissenschaftler Stephan Marks auf den Nationalsozialismus angewandt.[14] (siehe auch Scham-_und_Schuldkultur).

Religion

Für Abrahamitische Religionen (Judentum, Christentum, Islam) ist die Scham ein Ergebnis des Sündenfalls. Im Bewusstsein, gegen göttliche Weisung verstoßen zu haben, empfanden Adam und Eva ihr Nacktsein plötzlich als unangemessen:

Da gingen beiden die Augen auf und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz. (Gen 3,7 EU)“

Kunst

Lucretia, den Dolch in der Rechten,
Kupferstich von Marcantonio Raimondi, ~1511

Das Schamgefühl wird in Literatur und Bildender Kunst vielfach behandelt.

Klassisches und häufig aufgenommenes Motiv vor allem der Malerei ist der Selbstmord aus Scham der Lucretia.

Bekannt dürfte das Beispiel des Kunstmärchens Des Kaisers neue Kleider aus dem 19. Jh. sein: Hans Christian Andersen erzählt darin von der Macht der Scham im Verbund mit der Eitelkeit.

Schamkonflikte sind auch ein regelmäßiges Motiv etwa des Erzählwerks Arthur Schnitzlers; in Leutnant Gustl oder Fräulein Else wird ein Scham- bzw. Ehrkonflikt der Hauptperson in inneren Monologen ausgestaltet.

Siehe auch

Literatur

  • Ruth Benedict: Chrysantheme und Schwert. Formen der japanischen Kultur, Suhrkamp, Frankfurt am Main, ISBN 978-3-518-12014-9
  • Eva-Maria Engelen: Eine kurze Geschichte von "Zorn" und "Scham", in: Archiv für Begriffsgeschichte 50 (2008).
  • Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus: Drei Aufsätze, Frankfurt am Main 2008 (Neuauflage)
  • Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 9. Aufl., Frankfurt am Main 2000
  • Friedrich Kirchner: „Scham“, in: Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe. 5. Auflage. Dürr, Leipzig 1907
  • Rolf Kühn u. a. (Hgg.): Scham – ein menschliches Gefühl. Kulturelle, psychologische und philosophische Perspektiven. Westdeutscher Verlag, Opladen 1997
  • Michael Lewis: Scham. Annäherung an ein Tabu; aus d. Amerikanischen v. R. Höner. Knaur, München 1995
  • Stephan Marks: Scham, die tabuisierte Emotion, Patmos Verlag, 2007
  • Jeffrie G. Murphy: Art. Shame, in: Encyclopedia of Philosophy, Bd. 9, 4-5.
  • Sighard Neckel: Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit, Frankfurt am Main/New York 1991
  • Guido Rappe: Die Scham im Kulturvergleich. Antike Konzepte des moralischen Schamgefühls in Griechenland und China, Bochum/Freiburg i.Br. 2009, ISBN 978-3-89733-201-0
  • Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1993
  • Max Scheler: Über Scham und Schamgefühl (1913). In: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 10, Francke, Bern 1957, S. 67-154
  • Friedrich Schleiermacher: Versuch über die Schamhaftigkeit in: Schleiermachers vertraute Briefe über die Lucinde, Hamburg 1835, S. 46-68
  • Ariane Schorn: Scham und Öffentlichkeit. Genese und Dynamik von Scham- und Identitätskonflikten in der Kulturarbeit. Roderer, Regensburg 1996, ISBN 3-89073-951-2
  • Léon Wurmser: Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Springer, Berlin/Heidelberg/New York 1993
  • Caroline Bohn: Die soziale Dimension der Einsamkeit. Unter besonderer Berücksichtigung der Scham. Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2008, ISBN 978-3-8300-3475-9.
  • Wolfgang Hantel-Quitmann: Schamlos! Was wir verlieren, wenn alles erlaubt ist. Herder-Verlag, D-79104 Freiburg 12009, ISBN 978-3-451-30262-6; fernladbare Buchbesprechung mit dem Autor unter dem Datum vom 14. März 2010

Weblinks

 Commons: Schamgefühl – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary Wiktionary: Scham – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Fremdschämen kann wehtun n-tv.de vom 14. April 2011
  2. Your Flaws Are My Pain: Linking Empathy To Vicarious Embarrassment
  3. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache, 24. Auflage 2002
  4. Drosdowski, Günther: Etymologie; Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache; Die Geschichte der deutschen Wörter und der Fremdwörter von ihrem Ursprung bis zur Gegenwart. Dudenverlag, Band 7, Mannheim, 2. Auflage 1997, S. 621.
  5. Vgl. Bettina Clausen / Lars Clausen, Zu allem fähig, Frankfurt am Main, Bd. I, S. 85–109.
  6. Zuletzt: Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., 17. Auflage, Frankfurt am Main 1992.
  7. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, 5 Bde., 1988-2002
  8. Sighard Neckel: Achtungsverlust und Scham In: Sighard Neckel Die Macht der Unterscheidung, Essays zur Kultursoziologie der modernen Gesellschaft, Campus, Frankfurt am Main 2000
  9. Friedrich Schleiermacher: Versuch über die Schamhaftigkeit in: Schleiermachers vertraute Briefe über die Lucinde, Hamburg 1835, S. 46-68
  10. Vgl. S. Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie Frankfurt am Main 1989, S. 53. Zum Thema „Scham“ in der Psychoanalyse vgl. D. Strassberg: Scham als Problem der psychoanalytischen Theorie und Praxis[1]
  11. vgl. Erik H. Erikson, Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit, in: Ders., Identität und Lebenszyklus, Ffm. 2008
  12. Erik H. Erikson: Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart 1999, S. 243 ff.
  13. Léon Wurmser: Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Springer. Berlin/Heidelberg/New York 1993.
  14. Stephan Marks: Warum folgten sie Hitler? Die Psychologie des Nationalsozialismus. Patmos, Düsseldorf 2007; ders: Scham – die tabuisierte Emotion. Patmos, Düsseldorf 2007.

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