Verzögerungsrüge

Verzögerungsrüge
Basisdaten
Titel: Gesetz über den Rechts­schutz bei über­langen Gerichts­verfahren und straf­recht­lichen Ermitt­lungs­verfahren


Art: Bundesgesetz (Deutschland)
Geltungsbereich: Bundesrepublik Deutschland
Rechtsmaterie: Prozessrecht_(Deutschland)
Datum des Gesetzes:
Inkrafttreten am:
GESTA: C052
Bitte den Hinweis zur geltenden Gesetzesfassung beachten.

Die Verzögerungsrüge ist ein Rechtsbehelf, der Rechtsschutzlücken in Fällen überlanger Verfahrensdauer schließen soll. Die Einlegung der Verzögerungsrüge ist Voraussetzung dafür, im Falle überlanger Gerichtsverfahren oder strafrechtlicher Ermittlungsverfahren einen angemessenen Ausgleich geltend machen zu können. Mit dem Rechtsbehelf sollen unter anderem Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Bezug auf die Gewährleistung von Rechtsschutz „in angemessener Zeit[1] (Art. 6 Abs. 1 EMRK – Gewährleistung eines fairen Verfahrens; Art. 13 EMRK – Recht auf eine wirksame Beschwerde) umgesetzt werden.

Die zur Einführung der Verzögerungsrüge erforderlichen Gesetzesänderungen sind im Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zusammengefasst. Das Gesetzgebungsverfahren ist derzeit (Anfang Oktober 2011) noch nicht abgeschlossen. Der dargestellte Rechtsstand bezieht sich auf einen Gesetzesentwurf, der im weiteren Verfahren noch geändert werden kann. Vorschriften, die vom Gesetzentwurf geändert oder neu eingefügt werden, werden mit dem Zusatz „-E“ (also z. B. „§ 198 GVG-E“ für § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes in der Fassung des Gesetzentwurfs) gekennzeichnet.

Inhaltsverzeichnis

Gesetzgebungsverfahren

Im Frühjahr 2010 stellte Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger einen Gesetzentwurf[2] vor, der den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren verbessern sollte[3]. Die Bundesregierung leitete am 3. September 2010 den Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gemäß Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG dem Bundesrat zu.[4] Rechtsausschuss, Finanzausschuss und Ausschuss für Innere Angelegenheiten begrüßten den Gesetzentwurf in Stellungnahmen grundsätzlich und schlugen zudem verschiedene Änderungen des Entwurfes vor.[5] Der Bundesrat nahm in seiner Sitzung am 15. Oktober 2010 gemäß Art. 76 Abs. 2 S. 2 GG zum Entwurf Stellung.

Anschließend brachte die Bundesregierung den Gesetzesentwurf in den Bundestag ein[6], der ihn am 20. Januar 2011 an den Rechts- und den Innenausschuss überwies[7]. Der Rechtsausschuss führte am 23. März 2011 eine öffentliche Anhörung durch[8]. Beide Ausschüsse behandelten den Gesetzentwurf am 25. Mai 2011 sowie am 28. September 2011; im Rechtsausschuss lagen zudem mehrere Änderungsanträge (17(6)80, 17(6)100) vor. Der Rechtsausschuss empfahl mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, den Gesetzesentwurf mit Änderungen anzunehmen [9][10]. Der Bundestag hat den Gesetzentwurf am 29. September 2011 in zweiter und dritter Lesung abschließend behandelt und sowohl den Gesetzentwurf mit den vom Rechtsausschuss empfohlenen Änderungen[11] als auch die vom Rechtsausschuss empfohlene Entschließung[12] angenommen.

Der Bundesrat stimmte in seiner 888. Sitzung am 14. Oktober 2011 dem (zustimmungsbedürftigen) Gesetz zu.[13] Einer Empfehlung des Rechtsausschusses[14], den Vermittlungsausschuss anzurufen, ist der Bundesrat somit nicht gefolgt. Der Rechtsausschuss hatte bemängelt, dass der Gesetzentwurf wesentliche Forderungen des Bundesrates nicht berücksichtigt habe. So sei die Beweislastumkehr des § 198 Abs. 2 S. 1 GVG-E zu streichen. Eine Entschädigungsklage solle zudem erst nach Abschluss des laufenden Verfahrens (und nicht bereits sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge) erhoben werden können, um weitere Verzögerungen des laufenden Verfahrens zu vermeiden.[15] Nach der Zustimmung des Bundesrates kann das Gesetz nunmehr ausgefertigt werden.

Inhalt des „Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren“

Einführung von Verzögerungsrüge und Ausgleichsanspruch

Verzögerungsrüge und Entschädigung sollen zentral im Gerichtsverfassungsgesetz geregelt werden (§§ 198 ff. GVG-E). Soweit das Gerichtsverfassungsgesetz nicht bereits unmittelbar Anwendung findet, sollen die Verweisungen der jeweiligen Fachprozessordnungen auf das GVG entsprechend erweitert werden (z.B. § 173 VwGO-E, § 9 ArbGG-E).

Der Gesetzentwurf führt für überlange Gerichtsverfahren einen Entschädigungsanspruch ein, der materielle sowie immaterielle Nachteile umfasst (§ 198 Abs. 1 GVG-E). Der Ersatz entgangenen Gewinns im Rahmen des Ausgleichsanspruchs soll ausgeschlossen sein[16]. Eine Entschädigung immaterieller Nachteile setzt gemäß § 198 Abs. 2 S 2 GVG-E jedoch voraus, dass eine „Wiedergutmachung auf andere Weise“ im Sinne von § 198 Abs. 4 GVG-E nicht ausreichend ist[17]. Ob das Verfahren unangemessen lang angedauert hat, ist jeweils im Einzelfall zu bestimmen. Der Anspruch setzt voraus, dass der Betroffene vor dem mit der (Haupt-)Sache befassten Gericht die Verfahrensdauer gerügt hat (Verzögerungsrüge – § 198 Abs. 2 GVG-E). Die Verzögerungsrüge kann ggf. wiederholt werden, frühestens jedoch erst nach einer Frist von sechs Monaten.

Eine Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer kann frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge eingeklagt werden (§ 198 Abs. 5 GVG-E) und richtet sich gegen den Träger des Hauptsachegerichts, also entweder das jeweilige Bundesland oder den Bund. Für die Entschädigungsklage ist das Oberlandesgericht ausschließlich zuständig, in dessen Gerichtsbezirk die jeweilige Landesregierung ihren Sitz hat; richtet sich die Klage gegen den Bund, ist der Bundesgerichtshof zuständig (§ 201 GVG-E).

Sonderregelung für Strafverfahren

Für Strafverfahren bestanden bereits bisher differenzierte Möglichkeiten, eine rechtsstaatswidrige überlange Dauer sowohl des Ermittlungs- als auch des Hauptverfahrens auszugleichen. Ein solcher Ausgleich kann etwa durch Berücksichtigung der Verzögerung im Rahmen der Strafzumessung oder sogar durch Einstellung des Verfahrens erfolgen. Die derartige Berücksichtigung einer überlangen Verfahrensdauer soll als „ausreichende Wiedergutmachung auf andere Weise“ im Sinne des § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG-E (§ 199 Abs. 3 GVG-E) gelten.

Sonderregelung für Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht

Art. 2 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren enthält mehrere Änderungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes. Für Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht soll mit der Verzögerungsbeschwerde (§§ 97a ff. BVerfGG-E) eine neue Verfahrensart eingeführt werden. Über Entschädigung und Wiedergutmachung wegen unangemessen langer Verfahrensdauer wird auf Grund dieser Verzögerungsbeschwerde entschieden (§ 97b Abs. 1 S.  1 BVerfGG-E). Die Erhebung eine Verzögerungsbeschwerde setzt ebenfalls eine Verzögerungsrüge voraus (§ 97b Abs. 1 S. 2 BVerfGG-E). Zur Entscheidung über die Verzögerungsbeschwerde ist eine mit zwei Verfassungsrichtern besetzte Beschwerdekammer zuständig (§ 97c Abs. 1 BVerfGG-E).

Literatur

Weblinks

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Vgl. insbesondere das „Piloturteil“ der Fünften Sektion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 6. Juli 2010 in der Rechtssache R. gegen Deutschland – 46344/06 – (nichtamtliche deutsche Übersetzung), (englische Fassung), sowie die zugehörige Pressemitteilung des Kanzlers vom 2. September 2010, Erstes Piloturteil in einem Verfahren gegen Deutschland: die überlange Verfahrensdauer vor deutschen Gerichten stellt ein strukturelles Problem dar (abgerufen am 6. Oktober 2011).
  2. Referentenentwurf „Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (PDF-Datei; 369 kB).
  3. Mehr Rechtsschutz bei überlangen Prozessen (Pressemitteilung des Bundesministeriums für Justiz vom 8. April 2010).
  4. BR-Drucksache 540/10.
  5. BR-Drucksache 540/1/10 vom 5. Oktober 2010.
  6. BT-Drucksache 17/3802 vom 17. November 2010.
  7. BT-Plenarprotokoll 17/84 vom 20. Januar 2011, 9494 C.
  8. Materialien und Stellungnahmen zur öffentlichen Anhörung vom 23. März 2011.
  9. Bundestags-Drucksache 17/7217 vom 28. September 2011.
  10. vgl. auch Pressemitteilung der Fraktion CDU/CSU vom 28. September 2011, Wir schaffen Rechtsschutz gegen überlange Verfahrensdauern bei Gerichten, abgerufen am 28. September 2011.
  11. Bundestags-Drucksache 17/7217 vom 28. September 2011, Beschlussempfehlung Nr. 1.
  12. Bundestags-Drucksache 17/7217 vom 28. September 2011, Beschlussempfehlung Nr. 2, die unter anderem vorsieht, die Anwendung des Gesetzes zwei Jahre nach seinem Inkrafttreten zu evaluieren.
  13. Bundesrats-Drucksache 587/11 (Beschluss) [PDF] vom 14. Oktober 2011, abgerufen am selben Tag.
  14. Empfehlungen der Ausschüsse zu Punkt 8 der 888. Sitzung des Bundesrates am 14. Oktober 2011 (BR-Drucks 587/1/11).
  15. Vgl. auch die Vorschau des Bundesrates vom 11. Oktober 2011 auf seine 888. Sitzung, abgerufen am 12. Oktober 2011.
  16. Vgl. BT-Drucks. 17/7217, S 1 f.
  17. Zu diesem Punkt lag ein Änderungsantrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen (Ausschuss-Drucks. 17[6]80) vor, auf den Dr. Ulf Kämpfer in seiner Stellungnahme (PDF, 744 kb) hinweist. Vgl. dazu auch die Pressemitteilung der Fraktion der Grünen vom 23. März 2011. Der – abgelehnte – Änderungsantrag ist in der Bundestags-Drucksache 17/7217 im Wortlaut wiedergegeben (S. 34-36).
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