Wilhelm Dreier

Wilhelm Dreier

Wilhelm Dreier (* 17. Februar 1928 in Wattenscheid/Westfalen; † 27. Februar 1993 in Würzburg) war ein katholischer Wirtschaftswissenschaftler und Sozialethiker.

Nach dem Studium der Philosophie, Katholischen Theologie, Volkswirtschaftslehre und Soziologie in Paderborn und Münster wurde Dreier in Münster 1958 in Volkswirtschaftslehre und 1964 in Katholischer Theologe promoviert. Von 1954 bis 1962 war er dort wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. Assistent des späteren Kölner Kardinals Joseph Höffner und nach dessen Ernennung zum Bischof von Münster 1962 bis 1968 geschäftsführender Assistent des Münsteraner Instituts für Christliche Sozialwissenschaften. 1967 wurde er nach Überwindung einiger rechtlicher Probleme als erster katholischer Laie für das Fach Christliche Sozialwissenschaften von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz habilitiert und erhielt 1968 als erster Laie einen Ruf auf einen Lehrstuhl einer Katholisch-Theologischen Fakultät, nämlich den Lehrstuhl für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Würzburg, wo er bis zu seinem frühen Tod 1993 Christliche Sozialwissenschaft und mehrere Jahre lang auch Soziologie lehrte. Von 1971 bis 1972 war er Dekan, danach bis 1976 Prodekan der Fakultät. Nebenamtlich leitete er bis 1988 die Akademie für Jugendfragen.

Auch wenn in den ersten Veröffentlichungen Dreiers die naturrechtlichen Argumentationsmuster seines Lehrers Höffner noch deutlich spürbar sind, so war er doch der Erste, der die damals dominante „Einheitslinie“ der christlichen Gesellschaftsethik durchbrach. Er öffnete sich ohne Vorbehalte dem Neuansatz des Zweiten Vatikanischen Konzils, denn er fühlte sich in seinen grundlegenden Intuitionen, zu denen die Forderungen nach Interdisziplinarität und nach Ergänzung der Soziallehre durch Sozialtheologie gehörten, durch die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes bestätigt. Er gelangt so zu einem Konzept einer wissenschaftlichen Sozialethik, die durch die christlich-eschatologische Hoffnungsbotschaft und Umkehrforderung motiviert wird, sich aber grundsätzlich und gleichzeitig im interdisziplinären Gespräch vollzieht und auf gesellschaftsverändernde Praxis ausgerichtet ist.

In diesem Geist baute er zusammen mit seinem naturwissenschaftlichen Kollegen Reiner Kümmel (Physik) ab 1976 einen interdisziplinären Forschungsschwerpunkt der Universität zum Thema „Die Zukunft der Menschheit“ auf, in dessen Rahmen er die neuen, durch die Berichte an den Club of Rome angezeigten Problemlagen der „Grenzen des Wachstums“ als erster katholischer Sozialethiker in Deutschland bearbeitete. Auch in den Folgejahren wurden an seinem Institut immer wieder aktuelle Themen aufgegriffen - häufig in enger Kooperation mit Gruppen aus der Umwelt-, Frauen-, Eine-Welt- und Friedensbewegung sowie Institutionen der Erwachsenenbildung und katholischen Verbänden. Seine besonderen Anliegen waren neben der ökologischen Problematik eine wirklich „soziale“ Ausgestaltung der Sozialen Marktwirtschaft und eine Neuorientierung von Bildungsprozessen und des Bildungssystems im Sinne „praxisverändernder Bildung“ mit dem Ziel, die Menschen zur Bewältigung der enormen Herausforderungen der weltweiten Ungerechtigkeiten und der drohenden Umweltzerstörung zu befähigen. 1992 engagierte er sich in den kontroversen Debatten um das 500-Jahr-Gedenken der Entdeckung/Eroberung Amerikas (1492-1992) und schrieb sein letztes Buch mit dem programmatischen Titel „Umkehr zur Zukunft – Sozialethische Wegzeichen in ein postkoloniales Zeitalter“.

Wichtig sind auch seine vielfältigen außeruniversitären Beratungstätigkeiten: Von 1969 bis 1984 war er Mitglied des Deutschen Jugendinstituts in München, 1970-1975 wirkte er als Mitglied der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland entscheidend am Beschluss der Synode zur Jugendarbeit und an einem Text zum Thema „Zum Dienst der Kirche in der Leistungsgesellschaft“ mit, der jedoch nicht mehr von der Synode beschlossen wurde. 1976–1986 war er Mitglied der Wissenschaftlichen Kommission des Katholischen Arbeitskreises für Entwicklung und Frieden und 1981 Mitbegründer der interdisziplinären Studiengruppe Entwicklungsprobleme der Industriegesellschaft (STEIG e.V.). Von 1968 bis 1989 war er zudem wissenschaftlicher Leiter der Akademie für Jugendfragen, einer bundeszentralen Fortbildungseinrichtung für Fachkräfte in der Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit, in der insbesondere in den Bereichen Gruppendynamik und Supervision Pionierarbeit geleistet worden war. Die dort gemachten Erfahrungen inspirierten auch seine Arbeit an der Universität: Jahrelang praktizierten Mitarbeiter/innen an seinem Lehrstuhl innovative hochschuldidaktische Methoden „teilnehmerorientierten“ bzw. „selbstgesteuerten Lernens“. Seine Schüler/innen, unter ihnen Hermann Steinkamp, Wolfgang Weigand, Carl Josef Leffers, Volker Waiz und Gerhard Kruip sind heute in den verschiedensten Bereichen der Wissenschaft, der allgemeinen Erwachsenbildung, der Fort- und Weiterbildung, der pastoralen Arbeit und des politischen Engagements tätig.

Bibliografie (Auswahl)

  • Das Familienprinzip. Ein Strukturelement der modernen Wirtschaftsgesellschaft. Münster 1960 (Wirtschaftswissenschaftliche Dissertation).
  • Funktion und Ethos der Konsumwerbung. Münster 1965 (Theologische Dissertation).

Wirtschaftliche und soziale Sicherung von Ehe und Familie. Münster 1965.

  • Raumordnung als Bodeneigentums- und Bodennutzungsreform. Köln 1968 (Habilitationsschrift).
  • (zus. m. Kümmel, Reiner ) Zukunft durch kontrolliertes Wachstum. Naturwissenschaftliche Fakten - sozialwissenschaftliche Probleme - theologische Perspektiven; ein interdisziplinärer Dialog. Münster 1977.
  • Gesellschaftliche Reformen über praxisverändernde Bildung. Eine Problemskizze. Münster 1977.
  • Sozialethik. Düsseldorf 1983.
  • Umkehr zur Zukunft. Sozialethische Wegzeichen in ein postkolonialistisches Zeitalter. Saarbrücken, Fort Lauderdale 1992.

(als Mitherausgeber) Entdeckung, Eroberung, Befreiung. 500 Jahre Gewalt und Evangelium in Amerika. Würzburg 1993.

Quellen

  • Rochus Allert u.a.: Die Zeichen der Zeit erkennen. Lernorte einer nachkonziliaren Sozialethik. Wilhelm Dreier zum 60. Geburtstag. Mit einem Grußwort von Joseph Kardinal Höffner. Münster 1988.
  • Gerhard Kruip: Gesellschaftsethik im interdisziplinären Dialog : Wilhelm Dreiers Beitrag zur Erneuerung der Gesellschaftsethik nach dem Konzil. In: Friedhelm Hengsbach, Bernhard Emunds; Matthias Möhring-Hesse (Hrsg.): Jenseits Katholischer Soziallehre. Neue Entwürfe christlicher Gesellschaftsethik. Düsseldorf 1993, S. 91 105 (Anm.: S. 305 306).
  • Gerhard KruipWilhelm Dreier. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 30, Nordhausen 2009, ISBN 978-3-88309-478-6, Sp. 275–279.

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем решить контрольную работу

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Dreier — Mit dem Begriff Dreier wird bezeichnet: umgangssprachlich in der deutschen Sprache: die Schulnote Drei eine alte Münze mit dem Wert 3 Pfennig, siehe Dreipfenniggröschlein eine sexuelle Spielart, der so genannte „flotte Dreier“ die Dreier… …   Deutsch Wikipedia

  • Wilhelm Herter von Hertneck — Wilhelm Herter in der Schlacht bei Murten, aus dem Zürcher Schilling Wilhelm Herter von Hertneck (* 1424 in Tübingen; † 2. März 1477 in Basel) war ein deutscher Feldhauptmann und Staatsmann in Diensten Württembergs, der österreichischen Vorlande …   Deutsch Wikipedia

  • Wilhelm Nauhaus — (* 23. September 1899 in Erfurt; † 31. Juli 1979 in Halle/Saale) war ein deutscher Buchbinder, Künstler, Archivar und Publizist. Leben Wilhelm Nauhaus hatte zunächst vor, Maler zu werden, und begann seine Ausbildung 1917 bei Walther Klemm an der… …   Deutsch Wikipedia

  • Wilhelm Friedrich August von Leyßer — (1771 1842) Wilhelm Friedrich August von Leyßer (* 17. Juli 1771 in Holzminden[1]; † 21. Dezember 1842 in Dresden) war ein …   Deutsch Wikipedia

  • Wilhelm J. Brinkmann — (* 20. Dezember 1947 in Recklinghausen) ist Professor für Allgemeine Pädagogik an der Christian Albrechts Universität zu Kiel. Inhaltsverzeichnis 1 Werdegang und Leben 2 Forschung und Lehre 3 Zitate …   Deutsch Wikipedia

  • Wilhelm Wehren — (* 14. August 1914 auf Voeskenshof; † 18. Februar 1999 ebenda) war ein deutscher Politiker (CDU). Wehren, von Beruf Landwirt, war Amtsbürgermeister des Amtes Kervenheim mit Sitz in Winnekendonk, das im Zuge der kommunalen Neugliederung 1969 in… …   Deutsch Wikipedia

  • Wilhelm Baum — (* 1948 in Düsseldorf) ist ein österreichischer Historiker und Verleger. Baum wurde 1971 in Innsbruck zum Dr. phil. und 1999 in Graz zum Dr. theol. promoviert. 1995 wurde er Dozent für Geschichte des Mittelalters an der Universität Klagenfurt,… …   Deutsch Wikipedia

  • Wilhelm Grün — (* 26. Februar 1959 in Gangelt) ist ein Brigadegeneral des Heeres der Bundeswehr und seit September 2010 Branchhead Joint Plans im Joint Force Command Lisbon in Lissabon. Inhaltsverzeichnis 1 Militärische Laufbahn 1.1 Ausbildung und erste… …   Deutsch Wikipedia

  • Wilhelm Welter (SS-Mitglied) — Wilhelm Welter (* 24. Januar 1913 ; †  29. Mai 1946 im Landsberg am Lech) war SS Hauptscharführer und als Arbeitsdienstführer im KZ Dachau eingesetzt. Inhaltsverzeichnis 1 Biografie 2 Literatur 3 We …   Deutsch Wikipedia

  • Wilhelm Neumann (Schriftsteller) — Friedrich Wilhelm Neumann, (* 8. Januar 1781 in Berlin; † 9. Oktober 1834 in Brandenburg), war ein deutscher Lyriker, Erzähler, Kritiker, Herausgeber und Übersetzer sowie im Hauptberuf Beamter (Intendanturrat) im preußischen Kriegsministerium.… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”