Dissoziale Persönlichkeitsstörung

Dissoziale Persönlichkeitsstörung
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Vergleichende Klassifikation nach
ICD-10   DSM-IV
F60.2 Dissoziale Persönlichkeitsstörung 301.7 Antisoziale Persönlichkeitsstörung
ICD-10 online DSM IV online

Die antisoziale oder auch dissoziale Persönlichkeitsstörung (APS) ist gekennzeichnet durch eine Missachtung sozialer Verpflichtungen und herzloses Unbeteiligtsein an Gefühlen anderer. Zwischen dem Verhalten und den herrschenden sozialen Normen besteht eine erhebliche Diskrepanz. Das Verhalten erscheint durch nachteilige Erlebnisse, einschließlich Bestrafung, nicht änderungsfähig. Es besteht eine geringe Frustrationstoleranz und eine niedrige Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten; weiterhin eine Neigung, andere zu beschuldigen, oder vordergründige Rationalisierungen für das Verhalten anzubieten, durch das die betreffende Person in einen Konflikt mit der Gesellschaft geraten ist. Laut DSM-IV sind 3% der Männer und 1% der Frauen betroffen.[1] APS ersetzt die veralteten Bezeichnungen Psychopathie und Soziopathie.

Inhaltsverzeichnis

Beschreibung

Die antisoziale Persönlichkeit macht sich schon im Kindes- und Jugendalter durch Missachtung von Regeln und Normen (z. B. Schuleschwänzen, Vandalismus, Fortlaufen von zuhause, Stehlen, häufiges Lügen) und der Unfähigkeit aus Erfahrung zu lernen, bemerkbar. Für letzteres ist es wichtig zu wissen, dass APS nicht oder kaum durch körperliche Schmerzen oder Bestrafungen konditionierbar sind. Im Erwachsenalter führen Betroffene ihr Verhalten fort durch nur zeitweiliges Arbeiten, Gesetzesübertretungen, Gereiztheit und körperlich aggressives Verhalten, Nichtbezahlen von Schulden, Rücksichtslosigkeit und Drogenkonsum. Nicht selten landen sie dabei im Gefängnis. Kriminalität ist allerdings nicht notwendig für die Diagnose von APS, denn es gibt auch viele angepasste APs, die beruflich erfolgreich sind. In der Business-Welt kann die APS zum beruflichen Vorteil werden: Laut einer Studie sind Geschäftsführer von großen Unternehmen häufig von der Störung betroffen.[2] Auch darf man nicht den Fehler begehen, bei jedem delinquenten Menschen von einer APS auszugehen. Es gibt viele Gründe für Delinquenz und die APS ist nur einer davon.

Personen mit einer APS sind impulsiv, leicht reizbar und planen nicht voraus. Darüber hinaus zeigen sie keine Reue für Missetaten.

Ihre gefühlsmäßigen Beziehungen zu Personen sind so schwach, dass sie sich nicht in Personen hineinversetzen können und keine Schuldgefühle oder Verantwortungsbewusstsein kennen. Dadurch fällt es ihnen schwer, Personen abzugrenzen und auf sie Rücksicht zu nehmen. Dass sie auffällig werden und eine hohe Risikobereitschaft haben, könnte ein Versuch sein, ihre innere Leere auszufüllen. Ihr eigenes Gefühlsrepertoire (besonders das für negative Gefühle) kann beschränkt sein, weswegen sie Gesten von anderen Personen imitieren. Gefühle anderer hingegen nehmen sie gut wahr und können sie manipulierend ausnutzen, während sie selber außergewöhnlich charmant sind. Sie können aber auch eine spielerische Leichtigkeit ausstrahlen, und bei guter intellektueller Begabung unter Umständen recht geistreich, witzig und unterhaltsam sein.

Dissoziale Störungen lassen sich weiter in drei Subtypen einteilen, über die allerdings wissenschaftliche Kontroversen geführt werden.

Instrumentell-dissoziales Verhalten

Dieser Subtyp ist vor allem auf Geld, materielle Werte sowie Macht ausgerichtet. Die Personen haben keinen Leidensdruck, sondern ein übersteigertes Selbstvertrauen und Machtgefühl, und daher keine Veränderungsbereitschaft. Diese Wesensart hat Ähnlichkeit mit dem, was früher als Psychopathie bezeichnet wurde: Fehlen von Einfühlungsvermögen, Schuldgefühl oder Angst, oberflächlicher Charme und Gefühlsregungen, und instabile, wechselnde Beziehungen. Allerdings kann dies manchmal der gesellschaftlichen Norm entsprechen.

Impulsiv-feindseliges Verhalten

Charakteristisch ist eine geringe Handlungskontrolle, die kaum bewusst, sondern fast nur durch Impulsivität beeinflusst wird. Dabei steht materieller Gewinn im Hintergrund. Die gemütsmäßige Beteiligung ist hier hoch; u.a. ist Wut und Ärger fast immer zu finden. Handlungen von anderen werden viel zu häufig negativ, z.B. als Bedrohung oder Provokation gedeutet, und es wird, kombiniert mit geringer Frustrationstoleranz, dementsprechend reagiert. Die Handlungen sind dabei ungeplant.

Ängstlich-aggressives Verhalten

Die dritte Gruppe ist vor allem im forensischen Bereich auffällig. Hier findet man oft deprimierte, schüchterne und ängstliche Personen, die in Extremsituationen Gewaltausbrüche produzieren, die die anderen beiden Subtypen übertreffen können. Außerhalb ihrer Ausbrüche sind die meisten beherrschte und sonst weniger auffallende Menschen. Posttraumatische Erlebnisse finden sich hier am häufigsten.

Des weiteren können hier auch Mischtypen auftreten.

Klassifikation nach ICD und DSM

In der ICD-10 wird die Bezeichnung „dissoziale Persönlichkeitsstörung“ verwendet, das DSM-IV verwendet die Formulierung „antisoziale Persönlichkeitsstörung“

ICD-10

Während das DSM-IV die Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung ausdrücklich erst ab dem 18. Lebensjahr gestattet, gibt die ICD-10 keine entsprechend enge Grenze vor. Die ICD-10-Kriterien beschreiben neben sozialer Abweichung charakterologische Besonderheiten, insbesondere Egozentrik, mangelndes Einfühlungsvermögen und defizitäre Gewissensbildung. Kriminelle Handlungen sind also nicht zwingend erforderlich. Mindestens 3 der in der ICD-10 genannten Merkmale müssen erfüllt sein. Hierzu gehören:

  1. Mangelnde Empathie und Gefühlskälte gegenüber anderen
  2. Missachtung sozialer Normen
  3. Beziehungsschwäche und Bindungsstörung
  4. Geringe Frustrationstoleranz und impulsiv-aggressives Verhalten
  5. Mangelndes Schulderleben und Unfähigkeit zu sozialem Lernen
  6. Vordergründige Erklärung für das eigene Verhalten und unberechtigte Beschuldigung anderer
  7. Anhaltende Reizbarkeit

DSM-IV

a) Es besteht ein tiefgreifendes Muster von Missachtung und Verletzung der Rechte anderer, das seit dem 15. Lebensjahr auftritt. Mindestens drei der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:

  1. Versagen, sich in Bezug auf gesetzmäßiges Verhalten gesellschaftlichen Normen anzupassen, was sich in wiederholtem Begehen von Handlungen äußert, die einen Grund für eine Festnahme darstellen
  2. Falschheit, die sich in wiederholtem Lügen, dem Gebrauch von Decknamen oder dem Betrügen anderer zum persönlichen Vorteil oder Vergnügen äußert
  3. Impulsivität oder Versagen, vorausschauend zu planen
  4. Reizbarkeit und Aggressivität, die sich in wiederholten Schlägereien oder Überfällen äußert
  5. Rücksichtslose Missachtung der eigenen Sicherheit bzw. der Sicherheit anderer
  6. Durchgängige Verantwortungslosigkeit, die sich im wiederholten Versagen zeigt, eine dauerhafte Tätigkeit auszuüben oder finanziellen Verpflichtungen nachzukommen
  7. Fehlende Reue, die sich in Gleichgültigkeit oder Rationalisierungen äußert, wenn die Person andere Menschen gekränkt, misshandelt oder bestohlen hat.

b) Die Person ist mindestens 18 Jahre alt
c) Eine Störung des Sozialverhaltens war bereits vor Vollendung des 15. Lebensjahres erkennbar
d) Das antisoziale Verhalten tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer Schizophrenie oder einer manischen Episode auf

Mögliche Ursachen

Bei der Entwicklung der Störungen spielen sowohl die Gene als auch die Umwelt eine Rolle.[3]

Bowlby konnte einen Zusammenhang zwischen APS und fehlender mütterlicher Zuwendung feststellen. Glueck und Glueck stellen bei den Müttern der Personen mit APS einen Mangel an Zuwendung und eine Neigung zur Impulsivität fest. Außerdem neigten sie zum Alkoholismus.[4] Antisoziale Persönlichkeiten kommen häufig aus zerrütteten Elternhäusern, in denen entweder Gewalt ein zentrales Erziehungsmittel war oder in denen sie vernachlässigt wurden. Dazu kommt ein Mangel an Liebe und Fürsorge, der zu fehlender Orientierung seitens des Kindes führt. In vielen Fällen gab es familiäre Konflikte. Viele antisoziale Persönlichkeiten sind in einer Großfamilie auf engem Raum aufgewachsen, erfuhren uneindeutige Erziehungsstile der Eltern, die prosoziales Verhalten nicht oder selten beachtet haben, oder hatten delinquente Geschwister. Ein sicherer Vorbote für das im Erwachsenenalter feststellbare antisoziale Verhalten ist das Vorhandensein dissozialer Verhaltensauffälligkeiten im Kindesalter.

Neuere Forschungen erhärten die Hypothese, dass diese Störung durch ein Zusammenspiel biologischer und sozialer Faktoren hervorgerufen wird. Avshalom Caspi und seine Mitarbeiter (2002) untersuchten 442 männliche, erwachsene Neuseeländer, von denen 154 in ihrer Kindheit sexuell missbraucht und/oder körperlich misshandelt wurden. Sie analysierten den Einfluss eines bestimmten Gens, das die Hirnchemie beeinflusst. Dieses Gen kommt in einer stark und einer schwach aktiven Variante vor. Es bestimmt das Niveau der Monoaminooxidase-A (MAO-A). Dies ist ein Enzym, das die Neurotransmitter Serotonin, Dopamin und Norepinephrin verstoffwechselt. 85 % der Versuchspersonen, die traumatisiert worden waren und die zudem die schwach aktive Variante des Gens hatten, entwickelten Formen des antisozialen Verhaltens. Die Untersuchungsteilnehmer mit der hoch aktiven Variante dieses Gens aber wurden nur äußerst selten durch antisoziales Verhalten auffällig - unabhängig davon, ob sie als Kind misshandelt und missbraucht worden waren oder nicht. [5]

Adoptionsstudien zeigen, dass Gene und Umwelt eine Rolle spielen:

Ein Forschungsteam erhob eine Stichprobe von 95 Männer und 102 Frauen, die wenige Tage vor ihrer Geburt zur Adoption freigegeben worden waren. Institutionelle Daten lieferten ausreichend Informationen über die biologischen Eltern, um beurteilen zu können, ob diese an einer antisozialen Persönlichkeitsstörung litten. Diese Daten erlaubten eine Erfassung des Beitrags genetischer Faktoren zu der Störung. Die Forscher erhoben zudem Daten über die Lebensumstände in den Adoptivfamilien: Mit Hilfe von Interviews bestimmten sie, ob die Teilnehmer unter widrigen Umweltbedingungen aufwuchsen, also beispielsweise Adoptiveltern hatten, die Eheprobleme, Drogen- oder Alkoholprobleme hatten. Diese Daten erlaubten eine Erfassung des Beitrages umweltbedingter Faktoren zu der antisozialen Persönlichkeitsstörung. Die Ergebnisse zeigten, dass beide Einflussgrößen von Bedeutung sind: Bei Personen, deren biologische Eltern die Störung aufwiesen, oder die unter widrigen Umweltbedingungen aufwuchsen, wurde im Durchschnitt mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine antisoziale Persönlichkeitsstörung diagnostiziert.[6]

Kontroverse

Die Perspektive, die in der Definition (etwa nach ICD) deutlich wird, ist umstritten, da es sich hier letztlich um die natürliche Reaktion auf bestimmte Erfahrungen, aber nicht um eine Störung handeln könnte, und da mit einiger Vorbereitung jedermann derartige Symptome zeigt.

Kulturelle Rezeption

Das Phänomen der antisozialen Persönlichkeit hat auch Eingang in die Literatur gefunden. Siri Hustvedt, eine amerikanische Schriftstellerin, beschreibt in ihrem Buch "Was ich liebte" (Originaltitel "What I loved – A Novel", 2003) mindestens zwei Charaktere mit Symptomen der antisozialen Persönlichkeitsstörung. Gegen Ende ihres Buches erwähnt sie die Hinwendung einer anderen Romanfigur zu diesem Phänomen mit folgenden Worten: Violets "Forschungen haben sie vom 18. Jahrhundert in die Gegenwart geführt, von dem französischen Irrenarzt Pinel zu einem lebenden Psychiater namens Kernberg. Terminologie und Ätiologie der Krankheit, die sie untersucht, mögen sich mit der Zeit verändert haben, aber Violet hat sie in allen Formen aufgespürt: folie lucide, Geisteskrankheit, Schwachsinn, Soziopathie, Psychopathie und antisoziale Persönlichkeit, kurz APS. Heutzutage gehen die Psychiater bei der Diagnose der Störung nach Checklisten vor, die sie in Ausschüssen überprüfen und auf den neuesten Stand bringen, doch die am häufigsten vorkommenden Charakterzüge sind: Wandlungsfähigkeit und Charme, pathologisches Lügen, fehlende Einfühlung und Reue, dafür Impulsivität, Gerissenheit und Neigung zur Manipulation, frühe Verhaltensstörungen und die Unfähigkeit, aus Fehlern zu lernen oder auf Strafen zu reagieren." In ihrer Danksagung zitiert sie diverse Quellen an Sekundärliteratur, so den erwähnten Otto F. Kernberg und Donald W. Winnicott.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. American Psychiatric Association (1994). Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. Washington, DC: American Psychiatric Association, 645-650. ISBN 0-89042-061-0.
  2. Korten, David (2001), "When Corporations Rule the World" (Berret-Kohler Publications)
  3. Philip Zimbardo (2004): Psychologie - 16., aktualisierte Ausgabe. München: Pearson Studium; S. 685
  4. Anne-Marin B. Cooper: Antisocial Personality Disorder (APD) abgerufen am 29.04.2008
  5. Caspi, A. u. a.: Role of genotype in the cycle of violence in maltreated children. Science, Vol. 297, No. 5582, August 2002, 851-854
  6. Philip Zimbardo (2004): Psychologie - 16., aktualisierte Ausgabe. München: Pearson Studium; S. 685

Literatur

  • Cecilia A. Essau, Judith Conradt: Aggression bei Kindern und Jugendlichen. Utb, November 2004, ISBN 3-8252-2602-6
  • Dikman, Z. V., & Allen, J. J. B. (2000). Error monitoring during reward and avoidance learning in high- and low-socialized individuals. Psychophysiology, 37, 43-54.
  • Davidson, R.J., Putnam, K.M., Larson, C.L. (2000). Dysfunction in the Neural Circuitry of Emotion Regulation – A Possible Prelude to Violence. Science, Vol. 289, S. 591-594.
  • Davison, G.C., Neale, J.M. (1998). Klinische Psychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. ISBN 3-621-27413-8
  • Hutchings & Mednick, 1974 (zitiert nach Davison, G.C., Neale, J.M. (1998). Klinische Psychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union.)
  • Kopyciok, P. (2005). Effects of Socialization on the ERN. Diplomarbeit. Unveröffentlicht
  • Lykken, 1957 (zitiert nach Davison, G.C., Neale, J.M. (1998). Klinische Psychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union.)
  • Mednick et al., 1984 (zitiert nach Davison, G.C., Neale, J.M. (1998). Klinische Psychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union.)
  • Rosenzweig, M.R., Leiman, A.L., Breedlove, S.M. (1999). Biological Psychology. An Introduction to Behavioral, Cognitive and Clinical Neuroscience. Sunderland: Sinauer Associates, Inc.
  • Schulsinger, 1972 (zitiert nach Davison, G.C., Neale, J.M. (1998). Klinische Psychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union.)

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