- Dolores Jay
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Xenoglossie (aus griechisch: ξένος (fremd) und glossa γλωσσα (Zunge, Sprache)) ist die Fähigkeit, eine fremde Sprache zu sprechen, ohne sie gelernt zu haben. Das Auftreten dieses Phänomens wird im religiösen und esoterischen Kontext behauptet. Manchmal wird auch behauptet, dass Xenoglossie unter Hypnose auftritt. Geprägt wurde dieser Begriff Anfang des 20. Jahrhundert von Charles Richet („Thirty Years of Psychical Research“, 1923).
Inhaltsverzeichnis
Erklärungen
Die einfachste Erklärung ist eine unbewusste Erinnerung (Kryptomnesie) der jeweiligen Person an fremdsprachige Idiome, die diese irgendwann einmal gehört hat. Eine andere, in der Parapsychologie untersuchte Hypothese, ist die Reinkarnation, bei der die xenoglosse Sprache auf Erinnerungs-Reste an eine in einem früheren Leben erlernte Sprache darstellt. Hauptvertreter dieser Forschungen ist der Professor für Psychiatrie Ian Stevenson. Insbesondere die „reaktive“ (responsive) Xenoglossie, bei der auf beliebige Fragen in der fremden Sprache spontan sinnvolle Antworten (mit zusätzlichem Vokabular) gegeben werden, dient zur Untermauerung dieser Möglichkeit. Erste linguistische Analysen melden aber Kritik an. Allerdings hat die wissenschaftliche Untersuchung der Xenoglossie noch kaum begonnen.
Fall „Gretchen“
Der Fall Dolores Jay (auch Fall Gretchen genannt) ist ein ungeklärter hypnotischer Fall vom Reinkarnationstyp mit deutscher Xenoglossie.
1970 hypnotisierte der amerikanische Methodisten-Pfarrer Caroll Jay in Mount Orab (Ohio) seine Frau Dolores (*1922) zur Behandlung ihrer Rückenschmerzen. Dabei sprach sie xenoglosses Deutsch. Bei einer ausführlichen Sitzung drei Tage später trat erstmals Gretchen Gottlieb auf, die in 19 aufgezeichneten hypnotischen Regressionen von ihrem Leben als Tochter des Bürgermeisters von Eberswalde, Hermann Gottlieb, berichtete und die auf nicht ganz eindeutige Weise im Alter von 16 Jahren starb.
Im September 1971 nahm Ian Stevenson, der selbst Deutsch sprach, erstmals an einer Sitzung teil. Er untersuchte das Phänomen bis 1974 und brachte den Fall an die Öffentlichkeit. Stevenson war auch anwesend, als Dolores Jays am 5. Februar 1974 durch Richard Archer in New York mit einem Lügendetektor befragt wurde. Nach 1974 konnten (u. a. wegen der Kritik seitens der christlichen Gemeinde) keine Regressionen mehr stattfinden.
Stevenson erforschte später auch Dolores Kindheit in Clarksburg (West Virginia). Eine deutsche Abstammung wurde nur in sehr geringem Ausmaß gefunden (Ur-Urgroßeltern von Dolores Jay wanderten vor 1847 aus Deutschland nach Amerika ein). Indirekte Hinweise deuten auf das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts als die Zeit, in der die Gretchen-Inkarnation, sollte sie real sein, stattgefunden haben müsste.[1]
Kritik
Paul Edwards von der „New School of Social Research“ ist einer der Hauptkritiker von Stevenson. Sein Urteil: „Stevensons Hauptproblem ist, dass er die (angeblichen) Fälle von Wiedergeburt nicht erforschen, sondern beweisen will“.[2]
Auch die Linguistikprofessorin Sarah G. Thomason übt Kritik an den von Ian Stevenson erzielten Ergebnissen und deren Interpretation, insbesondere im Fall „Gretchen“.[3] Thomason betont ausdrücklich, dass Stevenson bei seinen Untersuchungen sorgfältig und vorsichtig war und damit jeder Täuschungsvorwurf entfällt. Aber sie hält seine Vorgehensweise methodisch und linguistisch für falsch und daher fehlerhaft. Unter anderem wird bemängelt:
- Die Experimente wurden von Menschen durchgeführt, die selber an Reinkarnation glaubten und die Antworten waren frei als richtig/falsch deutbar (Versuchsleiter-Effekt).
- Die Fragen wurden auf Englisch wiederholt, wenn Gretchen nicht sofort auf die deutsche Frage antwortete.
- Die größte Fragengruppe bestand aus schlichten ja/nein-Fragen, das lässt 50% richtige Antworten bei Erraten der Antwort erwarten.
Zum Spracherwerb allgemein stellt Thomason fest: „Man kann sich in einer Sprache nicht unterhalten, wenn man sie nicht kennt und sie nicht auch über einen ziemlich langen Zeitraum hinweg regelmäßig gesprochen hat.“[4] In seiner Muttersprache verfügt ein Mensch über einen Wortschatz von bis zu 10.000 Worten und beherrscht die grundlegenden grammatikalischen Regeln. Grob verständigen kann man sich mit 400-800 Worten. Gretchen dagegen benutzte in den Gesprächen nur wenig mehr als 120 deutsche Wörter – und dazu zählen Worte, die im Englischen und Deutschen akustisch ähnlich sind („brown“). Grammatikalische Kenntnisse sind bei ihr fast nie erkennbar, da sie in der Regel nur mit ein bis zwei Worten antwortet. Vieles in Gretchens Deutsch wird so gesprochen, wie ein englischer Muttersprachler Deutsch lesen würde. Auch findet man bei ihr nicht das bekannte Muster, dass man eine (vergessene) Sprache besser versteht als man sie spricht (passiver und aktiver Wortschatz).
Stevenson räumt ein, dass die „Gespräche“ mit seinen Probanden mit einer „normalen“ Unterhaltung recht wenig zu tun hatten. Ein Beispiel:
- Frage: „Was gibt es nach dem Schlafen?“
- Antwort: „ Schlafen ... Bettzimmer.“[5]
Stevenson wertet diese Antwort als „richtig“, da sie in einem wie auch immer gearteten Zusammenhang zur Frage steht. Thomason dagegen hält diese Frage für nicht richtig beantwortet. Im übrigen weist das Wort „Bettzimmer“ auf eine wörtliche Übersetzung aus dem Englischen hin („bedroom“). Auch die Frage, ob für Gretchens Kenntnisse eine paranormale Erklärung notwendig ist, wird verneint: „Sie spricht die Sprache allenfalls so gut wie jemand, der vor zwanzig Jahren einmal ein Jahr lang Deutschunterricht hatte.“[6]
Es gibt auch noch andere Punkte, die nachdenklich stimmen: Die Angaben Gretchens über die Stadt Eberswalde konnten nicht verifiziert werden (es gab dort z. B. keinen Bürgermeister mit dem Namen Hermann Gottlieb). Was sie über Martin Luther und über religiöse Verfolgung sagt, hält selbst Stevenson für unrealistisch. Und auch die Namenswahl ist auffällig: Während „Gretchen“ (gesprochen /Gri:tschn/) in den USA ein beliebter Vorname ist, ist er in Deutschland tatsächlich nur die Rufform von „Margarethe“[7]. Bei einem Mädchen von angeblich 16 Jahren kann die Kenntnis des eigenen Namens sicher vorausgesetzt werden, war bei Stevensons Gretchen aber nicht vorhanden.
Xenoglossie in der Religion
Aus der Bibel ist ebenfalls die Beschreibung eines Xenoglossie-Ereignisses zu entnehmen. Es handelt sich um die Beschreibung von Pfingsten in der Apostelgeschichte.
Anmerkungen
- ↑ ohne Quellenangabe. Die Schilderung des Falls folgt aber Stevenson 1984 (oder einer ihn referierenden Darstellung)
- ↑ Dimension PSI, MDR 15.12.2003: Hintergrundtext (www.mdr.de)
- ↑ Thomason 1993, Thomason 2004
- ↑ Thomason 1993, S. 67
- ↑ zit. in Thomason 1993, S. 70
- ↑ Thomason 1993, S. 71
- ↑ Zur Verwendung „Margarethe“/“Gretchen“ vgl. Goethes „Faust“
Literatur
- Ian Stevenson: Xenoglossy: A Review and Report of a Case. In: Proceedings of the American Society for Psychical Research 31, February 1974, und: University Press of Virginia, Charlottesville 1974
- Carroll E. Jay: Gretchen, I am. Wyden, New York 1977
- Ian Stevenson: Unlearned Languages: New Studies in Xenoglossy. University Press of Virginia, Charlottesville 1984 ISBN 0-8139-0994-5
- Sarah G. Thomason: Do You Remember Your Previous Life’s Language in Your Present Incarnation? In: American Speech 59, 1984, S. 340-350
- Paul Edwards: The Case Against Reincarnation. In: Free Inquiry 6 (4) – 7 (3) 1986-1987 (4 Teile)
- Sarah G. Thomason: Past Tongues Remembered. In: Skeptical Inquirer 11 (4) 1987, S. 367-375, dt.: Mit fremden Zungen. In: Gero von Randow (Hrsg.): Mein paranormales Fahrrad. Rowohlt, Reinbek 1993, S. 65-75
- Leonard Angel: Empirical evidence for reincarnation? Examining Stevenson's 'most impressive' case. In: Skeptical Inquirer 18 (5) 1994, S. 481-487
- Ian Stevenson: Empirical evidence for reincarnation? A response to Leonard Angel. In: Skeptical Inquirer 19 (3) 1995, S. 50f.
- Edwards, Paul: Reincarnation: A Critical Examination. Prometheus, Amherst (NY) 1996 ISBN 1-573-92005-3
- Sarah G. Thomason: Xenoglossy. In: Gordon Stein (Hg.): The encyclopedia of the paranormal. Amherst NY: Prometheus Books 1996, S. 835-844 1996. ISBN 1-573-92021-5 (PDF)
Siehe auch
Weblinks
- Sarah G. Thomason: Stupid Dead People Communication Tricks, Language Log v. 1. Febr. 2004
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