- Edler Wilder
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Der Edle Wilde ist ein Idealbild des von der Zivilisation unverdorbenen Naturmenschen. Das Konzept drückt die Vorstellung aus, dass der Mensch ohne Bande der Zivilisation von Natur aus gut sei. Er ist bis heute ein beliebter Topos kulturkritischer Autoren. In der modernen Ethnologie gilt der Begriff der Edlen Wilden als längst überholte These.
Nach der europäischen Entdeckung und Eroberung Amerikas hatte dieser Gedanke einigen Zulauf, den besonders Alonso de Ercilla y Zúñiga in seinem Epos „La Araucana“ (um 1570) ausdrückte. Hundert Jahre später griff John Dryden diese Idee wieder auf, und insbesondere in der Romantik fand diese Vorstellung erneut Anklang. Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau ist einer ihrer prominenten Vertreter.
Bezüge finden sich im Unschuldszustand im biblischen Garten Eden vor dem Sündenfall, im griechischen Mythos des goldenen Zeitalters sowie der Insel der Seligen der griechischen Mythologie. Anders als die Vorstellung vom "edlen Wilden" verorten diese mythologischen Überlieferungen das prä-zivilisatorische "goldene Zeitalter" jedoch in einem vergangenen Weltzeitalter und nicht bei heute existierenden Naturvölkern. Während in traditionellen mythologischen Weltbildern die Abfolge der Weltzeitalter gewöhnlich als Abstieg und eine Verschlechterung gesehen wird, verwarfen die Entwickler des modernen aufklärerisch-evolutionistischen Weltbilds diese traditionelle Sicht der Dinge und kehrten sie um, indem sie Geschichte als permanente Höherentwicklung aus einem keineswegs paradiesischen, sondern "rohen" Urzustand beschrieben.
Inhaltsverzeichnis
Entwicklung
Die Vorstellung vom „Edlen Wilden“ setzt das Aufeinandertreffen einer „Kultur-“ mit einer „Naturgesellschaft“ voraus. Eine solche Situation bestand während der Expansionszeit europäischer Mächte (Spanien, Portugal, Frankreich, England, Niederlande) seit Ende des 15. Jahrhunderts. Die entstehende Kolonialisierung in Afrika, Asien, Amerika und im Pazifik führte zur Vereinnahmung der dortigen Kulturen in den Machtbereich der Eroberer.
Trotz Anerkennung der kolonialisierten Völker als Menschen gab es keinerlei Bestreben, ihnen gleiche politische oder wirtschaftliche Rechte zu gewähren. Es entstand eine Klassifizierung dieser Menschen als „primitiv“ oder „wild“, die indirekt eine Ungleichbehandlung (Zwei-Klassen-Gesellschaft), Unterdrückung (Sklaverei) oder kulturelle oder physische Ausrottung rechtfertigte.
Die Idee des „Edlen Wilden“ mag einerseits einen Versuch zur Aufhebung der Ungleichbehandlung darstellen. Der wirtschaftlichen und politischen Unterlegenheit wurde eine moralische Überlegenheit gegenübergestellt. Andererseits mag der „Edle Wilde“ als Gegenentwurf zur eigenen korrupten Gesellschaft gedient haben (vgl. Tacitus Germania). Auch blieb er trotz Allem ein „Wilder“, der in seiner ihm zugeschriebenen „Ursprünglichkeit“ als auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe als der europäische „Kulturmensch“ stehend betrachtet wurde.
Auch heute beeinflusst die Vorstellung vom „Edlen Wilden“ die politische Auseinandersetzung, wie etwa beim Umgang der Industriegesellschaft mit dem Lebensraum indigener Völker (Tropischer Regenwald, Aborigines in Australien). Steven Pinker kritisierte die Vorstellung in „Das Unbeschriebene Blatt“ (2002).
In der Literatur
Der von Jean-Jacques Rousseau in seinem Werk Discours sur l'inégalité postulierte Naturzustand des Menschen wird im Allgemeinen als Ursprung dieses idealisierten Menschenbildes gewertet. In Mary Shelleys Frankenstein verkörpert das Monster das Idealbild. Der Wilde Westen Karl Mays sieht die Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse vielfach als die Auseinandersetzung des edlen Wilden mit dem von der Zivilisation korrumpierten Wilden. Schöne neue Welt (1932) von Aldous Huxley ist eine modernere Bearbeitung des Themas.
Assoziierte Eigenschaften
Die Vorstellung des „Edlen Wilden“ ist idealisiert und nicht durch gesellschaftswissenschaftliche Studien bestätigt. Gleichwohl werden Naturmenschen und -völkern aus einer exotistischen Haltung heraus oft folgende Eigenschaften zugeschrieben:
- Ein Leben im Einklang mit der Natur;
- Eine Gesellschaft ohne Verbrechen;
- Vollständige Autonomie;
- Unschuld und Idylle;
- Abwesenheit des Lügens;
- Gesundheit;
- Ethische Integrität;
- Sexuelle Freizügigkeit.
Siehe auch
Literatur
- Edgerton, Robert: Trügerische Paradiese. Der Mythos von den glücklichen Naturvölkern. Kabel, Hamburg 1994, ISBN 3-8225-0287-1
- Ellingson, Ter: The Myth of the Noble Savage. Berkeley/Los Angeles, 2001.
- Fabian, Johannes: Time and the Other: how anthropology makes its object. New York, 1983.
- Fanon, Franz: Die Verdammten dieser Erde. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2001 (Erstauflage 1961). ISBN 3-518-37168-1
- Kohl, Karl-Heinz: Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986 (Erstauflage 1981). ISBN 3-518-37772-8
- Martin, Peter: Schwarze Teufel, edle Mohren. Hamburger Edition, Hamburg 2001. ISBN 3-930908-64-6
- Pakditawan, Sirinya: Die stereotypisierende Indianerdarstellung und deren Modifizierung im Werk James Fenimore Coopers. Hamburg 2007
- Stein, Gerd (Hg.): Die edlen Wilden. Die Verklärung von Indianern, Negern und Südseeinsulanern auf dem Hintergrund der kolonialen Greuel. Fischer, Frankfurt/M. 1984. ISBN 3-596-23071-3
- Torgovnick, Marianna: Gone Primitive: Savage Intellects, Modern Lives. Chicago [u.a.], 1990.
- Wolf, Eric R.: Europe and the People without History. Berkeley [u.a.], 1982.
Weblinks
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Wikisource: Der Wilde – Quellen und Volltexte
- Rassistische Vorurteile Werner Bergmann
- Exotismus, Naturschwärmerei und die Ideologie von der fremden Frau Farideh Akashe-Böhme
- Indianer und Naturschutz Das Märchen vom edlen Wilden Sebastian Herrmann, Süddeutsche Zeitung 20. April 2011
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