Agricola und Germania

Agricola und Germania

Die Germania ist eine kurze ethnographische Schrift des römischen Schriftstellers und Politikers Tacitus.

Inhaltsverzeichnis

Datierung

Die Germania wird in aller Regel in das Jahr 98 n. Chr. datiert, auf der Grundlage der Formulierung:

sescentesimum et quadragesimum annum urbs nostra agebat [...] ex quo ad alterum imperatoris Traiani consulatum computemus

„unsere Stadt stand im sechshundertvierzigsten Jahr [...] von da ab rechne man bis zum zweiten Konsulat Kaiser Trajans“

Tacitus: Germania (37, 2)

Das zweite Konsulat Trajans fiel in das Jahr 98 n. Chr. Jedoch handelt es sich bei dieser Zeitangabe lediglich um einen terminus post quem, an dem das Werk frühestens verfasst worden sein kann; ein absolutes Datum liegt somit nicht vor.[1]

Ein neuerer Vorschlag von Roland Schuhmann,[2] der von der Forschung noch nicht diskutiert worden ist, nimmt an, dass die Abfassung der Germania nach 103–106 n. Chr. anzusetzen ist, weil der Name Pannoniis im ersten Satz des Textes die Existenz zweier pannonischer Provinzen (Pannonia superior und inferior, entstanden durch Teilung der Provinz Pannonia) voraussetzt, wenn er als Ländername verstanden wird; die traditionelle Auffassung sieht ihn als Völkernamen.

Titel

Die Schrift Germania ist ohne einen einheitlichen Titel überliefert. Die erste Erwähnung der Schrift findet sich in einem Brief von dem Humanisten Antonio Beccadelli an Guarino da Verona von April 1426: Compertus est Cor. Tacitus de origine et situ Germanorum ,Cornelius Tacitus de origine et situ Germanorum ist in Erfahrung gebracht’. In einem Inventar von Niccolo Niccoli aus dem Jahre 1431 steht: Cornelii taciti de origine & situ germanorum liber incipit sic ,de origine et situ Germanorum liber des Cornelius Tacitus fängt so an’. Pier Candido Decembrio, der den Codex Hersfeldensis (s. u.) in Rom eingesehen hatte, gibt den Titel als: Cornelii taciti liber … de Origine et situ Germaniae 'von Cornelius Tacitus liber … de Origine et situ Germaniae’. Problematisch hieran ist, dass letzteren beiden Titelangaben, die beide auf den Codex Hersfeldensis zurückgehen, im Wortlaut also nicht übereinstimmen.

Auch in den überlieferten Handschriften findet sich kein einheitlicher Titel. Es gibt nur zwei Titel, die Anspruch auf Echtheit erheben können. Erstens: De origine et situ Germanorum ‚Über Ursprung und geographische Lage der Germanen‘, zweitens: De origine et moribus Germanorum ‚Über Ursprung und Gebräuche der Germanen‘. Die beiden möglichen Titel finden dabei Stützen: De origine et situ Germanorum wird durch zwei Titel von Seneca gestützt: De situ Indiae ‚Die geographische Lage Indiens‘ und De situ et sacris Aegyptiorum ‚Über die geographische Lage und die Heiligtümer der Ägypter‘. Beide Titel sind jedoch keine genaue Entsprechungen. India ist ein Ländername gegenüber dem Völkernamen Germani und dort, wo der Völkername steht, befindet er sich nicht direkt hinter situ, sondern hinter sacris. Der Titel De origine et situ Germanorum sieht also wie eine Kontamination aus den beiden Titeln Senecas aus. De origine et moribus Germanorum wird gestützt durch den Text in c. 27,2: Haec in commune de omnium Germanorum origine ac moribus accepimus ‚Dies haben wir im allgemeinen über Ursprung und Sitten aller Germanen vernommen‘. Der Titel erweckt allerdings den Eindruck, dass er aus diesem Kapitel übernommen ist.

Da keiner der beiden Titel über jeden Zweifel erhaben ist, hat man der Schrift den Arbeitstitel Germania gegeben. Mit dieser Bezeichnung wird der gesamte Inhalt des Werkes abgedeckt.

Inhalt

In der Germania, die sich in einen allgemeinen und einen besonderen Teil gliedert, beschreibt Tacitus Germanien und benennt verschiedene germanische Stämme vom Rhein bis zur Weichsel und darüber hinaus. Er beschreibt Sitten und Gebräuche der Germanen und hebt ihre sittliche Lebensweise gegenüber der Verkommenheit der Römer hervor, wie ihr sittenstrenges Familienleben, ihr treuer und aufrichtiger Charakter, ihre Tapferkeit im Krieg und ihr Freiheitswille. Er weist aber auch auf die Schwächen hin, wie ihre Trägheit im Frieden, ihren Hang zu Würfelspiel und übermäßigem Bierkonsum.

Ob Tacitus selbst in Germanien gewesen ist, ist ungeklärt. Eventuell bezog er sein Wissen ausschließlich aus literarischen Quellen, wie aus Gaius Iulius Caesars Werk über den Gallischen Krieg und dem darin enthaltenen Germanenexkurs. Was seine Intention mit dieser Schrift war, ist umstritten. Vielleicht wollte er der Dekadenz der römischen Sitten ein positives Gegenbeispiel entgegenhalten; dafür spricht, dass er die Germanen an einigen Stellen stark idealisierte. Andere Forscher halten das Werk nicht für einen Sittenspiegel zur Aufrichtung der römischen Moral, sondern für eine objektive Ethnographie.

Rezeption

Die Schrift hat, zusammen mit den anderen „Kleinen Schriften“ des Tacitus, nur in einem einzigen Exemplar die Zeit des Humanismus erreicht. Es wurde von einem Agenten Poggio Bracciolinis in der Abtei Hersfeld aufgefunden und ca. 1455 nach Italien gebracht. Als erster hat sich Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II., mit der Schrift befasst und dadurch die deutschen Humanisten aufmerksam gemacht (Conrad Celtis, Aventinus, vor allem Ulrich von Hutten). Von da an ist das Interesse der Deutschen an dem, was sie als „ihre Urgeschichte“ betrachteten, nicht mehr erloschen.

Die Behandlung durch Eduard Norden, die das Werk in das Umfeld der antiken Ethnographie gestellt hat, auch und gerade im Vergleich zu der weithin herrschenden Germanenideologie, ist auch nach mehr als 80 Jahren noch grundlegend.

Ausgabe und Übersetzung

  • Alf Önnerfors (Hrsg.): De origine et situ Germanorum liber. Teubner, Stuttgart 1983, ISBN 3-519-01838-1 (P. Cornelii Taciti libri qui supersunt, T. 2,2)
  • Manfred Fuhrmann (Übers.): Tacitus. Germania. Reclam, Stuttgart 1971 und öfter, ISBN 3-15-000726-7.
  • Joachim Herrmann (Hrsg.): Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas bis zur Mitte des 1. Jahrtausends u. Z., II. Teil, Tacitus Germania, lateinisch und deutsch von Gerhard Perl, Schriften und Quellen der Alten Welt, Bd. 37,2, Berlin 1990. ISBN 3-05-000349-9

Literatur

  • Christopher B. Krebs: Negotiatio Germaniae. Tacitus’ Germania und Enea Silvio Piccolomini, Giannantonio Campano, Conrad Celtis und Heinrich Bebel. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen: 2005 (Hypomnemata 158). ISBN 3-525-25257-9.
  • Eduard Norden: Die germanische Urgeschichte in Tacitus Germania. - 6. Aufl., unveränd. Abdr. d. 1. Aufl. 1920. Teubner, Stuttgart 1974. ISBN 3-519-07224-6
  • Dieter Timpe : Romano-Germanica: gesammelte Studien zur Germania des Tacitus. Teubner, Stuttgart und Leipzig 1995. ISBN 3-519-07428-1
  • Herbert Jankuhn / Dieter Timpe (Hrsg.): Beiträge zum Verständnis der Germania des Tacitus, Teil 1, Bericht über die Kolloquien der Kommission für die Altertumskunde Nord- und Mitteleuropas im Jahr 1986, AbhGöttingen 175, Göttingen 1989. ISBN 3-525-82459-9
  • Günter Neumann / Henning Seemann (Hrsg.): Beiträge zum Verständnis der Germania des Tacitus, Teil 2, Bericht über die Kolloquien der Kommission für die Altertumskunde Nord- und Mitteleuropas im Jahr 1986 und 1987, AbhGöttingen 195, Göttingen 1992. ISBN 3-525-82482-3
  • Jan-Wilhelm Beck: 'Germania' - 'Agricola': Zwei Kapitel zu Tacitus' zwei kleinen Schriften. Untersuchungen zu ihrer Intention und Datierung sowie zur Entwicklung ihres Verfassers, Spudasmata 68, Hildesheim 1998. ISBN 3-12-645000-8
  • Much, Rudolf: Die Germania des Tacitus. Dritte, beträchtlich erweiterte Auflage, unter Mitarbeit von Herbert Jankuhn, herausgegeben von Wolfgang Lange, Heidelberg 1967.

Weblinks

Anmerkungen

  1. So richtig Much 1967: 420.
  2. Roland Schuhmann: Eine textkritische Anmerkung zu Tacitus, Germania c. 1,1 und ihre Bedeutung für die Datierung der Schrift, in: Glotta 80 (2004), S. 251-261.

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