Eurolinguistik

Eurolinguistik

Die Eurolinguistik ist ein verhältnismäßig junger Zweig der Sprachwissenschaft. Der Begriff wurde das erste Mal 1991 von Norbert Reiter gebraucht. Die Eurolinguistik befasst sich mit den Sprachen Europas in allen Bereichen der Linguistik wie Sprachgeschichte, Sprachsoziologie, Sprachpolitik, Sprachsystemik, interkulturelle Kommunikation. Dabei wird Europa allerdings nicht einheitlich aufgefasst. Die drei üblichen Definitionen sind folgender Natur:

  • politisch (Sprachen der EU – diese Definition wird gern bei sprachpolitischen Arbeiten zu Grunde gelegt, z. B. Ahrens 2003, Kraus 2004)
  • geographisch (vom Atlantik zum Ural, z. B. Brendler/Brendler 2007)
  • kulturanthropologisch (Sprachen des Kulturkreises, der im Wesentlichen auf dem römisch-griechischen und dem christlichen Erbe beruht; dabei wird vor allem an den Gebrauch des lateinischen Alphabets, die weströmische Variante des Christentums samt seiner Entwicklung in der Reformation und Gegenreformation, die Trennung von Staat und Kirche, das Rechtswesen, die gemeinsame Geschichte der Künste und des Bildungswesens, z. B. der Universität – diese Definition wird etwa von Samuel Huntington (1996: 45ff.) und Helmut Schmidt (2000: 207ff.) zu Grunde gelegt)

Forschungsstand

Der Begriff Eurolinguistik wurde zwar erst 1991 geprägt, jedoch gab es bereits vorher Studien über europäische Sprachen (z. B. Lewy 1964, Décsy 1973). Neben einer Reihe von Arbeiten, die einen Teil der europäischen Sprachen berücksichtigen, haben die sprachgeschichtlichen und sprachsoziologischen Werke Harald Haarmanns eine gesamteuropäische Perspektive im Auge. Dieses Ziel verfolgte wohl auch Mario Wandruszka, er berücksichtigte aber fast ausschließlich, wie viele andere (z. B. auch die Beiträge zur europäischen Sprachgeschichte in dem Sammelband Sprachgeschichte der Reihe Handbücher zur Sprach- und Kommunikationsforschung) die Sprachen Deutsch, Englisch, Italienisch, Spanisch, Französisch; die Beiträge Wandruszkas und anderer sind außerdem deutlich aus deutschem Blickwinkel geschrieben. Zusätzlich wird unter Deutsch, Englisch, Französisch usw. meist Deutsch in Deutschland, Englisch in Großbritannien, Französisch in Frankreich usw. verstanden; für andere Nationalvarietäten dieser Sprachen ist in eurolinguistischen Arbeiten erst seit kurzem ein Bewusstsein gezeigt worden. Sprachtypologische Fragen sind in den letzten Jahren hauptsächlich vom Eurolinguistischen Arbeitskreis Mannheim (ELAMA, unter der Leitung von Per Sture Ureland) und von den EUROTYP-Projekten beantwortet worden. Mit dem ELAMA verbunden ist das EuroLSJ-Projekt von Erhard Steller, das durch eurolinguistische Untersuchungen erhobene Gemeinsamkeiten der Sprachen Europas für das alltägliche Leben nutzbar zu machen versucht, indem es mittels einer repräsentativen Standardsprache (LSJ Europäisch / Europé LSJ) das größtmögliche, in Form einer Sprache transportierbare Konzentrat an "memory helpers" bzw. "acquisition helpers" (Giuseppe G. Castorina) in Bezug auf alle Sprachen des geografischen Europas anbietet. Eine wichtige Quelle für weitere Studien im sprachtypologischen Bereich ist der World Atlas of Language Structures von Haspelmath et al. (2005). Aus dem Bereich Wortschatz ist das Sprachatlas-Projekt Atlas Linguarum Europae zu nennen. Die von Joachim Grzega ins Leben gerufene Internet-Plattform EuroLinguistiX (ELiX) bietet eine Bibliographie eurolinguistischer Veröffentlichungen; ferner will sie mit einem Wiki, einem Diskussionsforum und einer Internet-Zeitschrift auch die Erforschung der Aspekte “Sprach- und Kulturgeschichte”, “Soziologie der Sprachen”, “Sprachpolitik”, “Interkulturelle Kommunikation” ermöglichen. Im Jahr 2006 veröffentlichte Grzega ein Grundlagenwerk zu den Merkmalen der Sprachen Europas. 2010 ist das erste größere Handbuch der Eurolinguistik von Uwe Hinrichs herausgegeben worden.

Literatur

  • Rüdiger Ahrens (ed.): Europäische Sprachenpolitik / European Language Policy, Heidelberg: Winter 2003.
  • Andrea Brendler / Silvio Brendler: Europäische Personennamensysteme. Ein Handbuch von Abasisch bis Zentralladinisch, Hamburg: Baar 2007, ISBN 978-3-935536-65-3
  • Gyula Décsy: Die linguistische Struktur Europas: Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft, Wiesbaden: Harrassowitz 1973.
  • Joachim Grzega: EuroLinguistischer Parcours: Kernwissen zur europäischen Sprachkultur, Frankfurt: IKO 2006, ISBN 3-88939-796-4 (rezensiert von Norbert Reiter hier und von Uwe Hinrichs hier)
  • Harald Haarmann: Soziologie und Politik der Sprachen Europas, München: dtv 1975.
  • Harald Haarmann: Die Sprachenwelt Europas: Geschichte und Zukunft der Sprachnationen zwischen Atlantik und Ural, Frankfurt (Main): Campus 1993.
  • Martin Haspelmath et al. (eds.): The World Atlas of Language Structures, Oxford: Oxford University Press 2005.
  • Bernd Heine / Tania Kuteva: The Changing Languages of Europe, New York/Oxford: Oxford University Press 2006. (rezensiert von Uwe Hinrichs hier)
  • Uwe Hinrichs (ed.): Handbuch der Eurolinguistik. Wiesbaden: Harrassowitz 2010.
  • Samuel Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York: Simon & Schuster 1996.
  • Peter A. Kraus: Europäische Öffentlichkeit und Sprachpolitik: Integration durch Anerkennung, Frankfurt (Main)/New York: Campus.
  • Helmut Schmidt: Die Selbstbehauptung Europas: Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Stuttgart/München: Deutsche Verlags-Anstalt 2000.
  • Ernst Lewy: Der Bau der europäischen Sprachen, Tübingen: Niemeyer 1964.
  • P. Sture Ureland (ed.): Convergence and Divergence of European Languages, Studies in Eurolinguistics 1, Berlin: Logos 2003.
  • P. Sture Ureland (ed.): Integration of European Language Research - Eurolinguistics North and Eurolinguistics South, Studies in Eurolinguistics 2, Berlin: Logos 2005.
  • Jeroen Van Pottelberge: Sprachbünde: Beschreiben sie Sprachen oder Linguisten?, Linguistik online 8, 1/01

Wissenschaftliche Buchreihen

  • Eurolinguistische Arbeiten, Wiesbaden: Harrassowitz
  • Studies in Eurolinguistics, Berlin: Logos

Weblinks


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