Al-Auza'i

Al-Auza'i

al-Auzāʿī, ʿAbd ar-Rahmān ibn ʿAmr b. Yuhmid al-Auzāʿī, arabischعبد الرحمان بن عمرو بن يحمد الأوزاعي ‎, DMG ʿAbd ar-Raḥmān b. ʿAmr b. Yuḥmid al-Auzāʿī (* um 707 in al-Auzāʿ - benannt nach einem dort angesiedelten jemenitischen Stamm[1] - bei Damaskus; † 774 in Beirut), war ein bedeutender Rechtsgelehrter, dessen Rechtsschule noch vor der Konsolidierung der vier orthodoxen juristischen Richtungen des Islam, der Hanafiten, Malikiten, Schafiiten und Hanbaliten entstanden ist und bis nach al-Andalus Verbreitung gefunden hat.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Er wirkte zunächst in al-Yamāma, in der Nähe von Riyadh. Den größten Teil seines Lebens verbrachte er aber in Damaskus und in den islamischen Garnisonenstädten (arabisch: thughūr; ʿawāṣim); Muhammad ibn Saʿd führt ihn in seinem „Klassenbuch“ unter denjenigen Gelehrten an, die in diesen Festungen gelebt und unterrichtet haben.[2] Er soll seine Lehren nach Kapiteln der Jurisprudenz geordnet (tasnīf) zusammengestellt haben.[3] Bis zu seinem Tode wirkte er als Mufti in Damaskus und Beirut.[4] Seinen Lebensabend verbrachte er in Beirut; sein Grab in Hantus bei Beirut ist bis heute ein beliebter Wallfahrtsort.[5]

Werke

Seine Bücher nennt Ibn an-Nadim Kitāb as-Sunan fil-fiqh / ‏كتاب السنن في الفقه‎ / Kitāb as-sunan fī ʾl-fiqh /„Die Sunna in der Jurisprudenz“ und Kitāb al-Masā'il fil-fiqh / ‏كتاب المسائل في الفقه ‎ / Kitāb al-masāʾil fī ʾl-fiqh /„Die Rechtsfragen in der Jurisprudenz“. Sie sind in Auszügen nur in der Bearbeitung der Folgegenerationen erhalten: im Kitab al-Umm von asch-Schāfiʿī, wo die Thesen von al-Auzāʿī durch seinen Zeitgenossen, dem Hanafiten Abū Yūsuf, widerlegt werden.[6]

Das Original seines Kitāb as-Siyar in der Überlieferung seiner Schüler soll bis ins 17. Jahrhundert bekannt gewesen sein.[7]

Eine weitere Quelle, die die Rekonstruktion seiner heute nicht mehr vorliegenden Werke ermöglicht, ist das Kitab as-Siyar seines Schülers Abū Ishāq al-Fazārī († gegen 804), der al-Auzāʿī in seinem Buch über völkerrechtliche Fragen (siyar)[8] durchgehend zitiert. Er wirkte in Mopsuestia (arabisch: al-Maṣṣīṣa) an den Grenzmarken zum byzantinischen Reich, wo die Beschäftigung mit juristischen Fragen über Dschihad tagespolitische Aktualität hatte.[9] Im edierten Teil dieses Werkes referiert der Verfasser rund 80 Rechtsfragen, die sein Lehrer zur genannten Thematik beantwortet hatte. Das Werk fand bei asch-Schafii so große Anerkennung, dass er eine juristische Abhandlung mit ähnlicher Thematik diktierte, die dessen Anordnung entsprach.[10]

Weitere Passagen nach al-Auzāʿī über Fragen des Dschihad und der Dschizya zitiert at-Tabarī durch die Vermittlung von Abū Ishāq al-Fazārī in seinem Werk über Die kontroversen (Lehrmeinungen) der Rechtsgelehrten. Der malikitische Gelehrte von Kairouan Sahnūn ibn Saʿīd (†854) greift in seiner Mudawwana auf die Lehrmeinungen von al-Auzāʿī in den Kapiteln über Dschihad zurück.[11]

Seine Sendschreiben mit juristischen Direktiven an Kalifen und an ihre Gouverneure sind in den Schriften von Ibn Abī Hātim (†938)[12] überliefert.[13]

Die in den späteren Rechtswerken erhaltenen Materialien von al-Auzāʿī lassen darauf schließen, dass er in der Tradition, in der Sunna des Propheten Mohammed und seiner Nachfolger bis zum Umayyaden-Kalifen Umar Ibn Abd al-Aziz († 720) wurzelt. Die Prophetenpraxis hat in seiner Lehre absolute Priorität, die er mit einem Koranvers begründet[14]:

„Im Gesandten Gottes habt ihr doch ein schönes Beispiel...“

– Sure 33, Vers 21

Die Anwendung der Prophetensunna erfolgt allerdings nicht durch den Hadith mit der Angabe des Isnads, sondern sie wird als bekannte Praxis und „living tradition“ unter den Muslimen bis in seine Zeit hinein verstanden.[15] Einer seiner Nachfolger charakterisierte ihn daher als Kenner des Gesetzes, aber nicht als „Autorität für die überlieferten Aussprüche des Propheten“ Mohammed.[16] Somit kann die Lehre von al-Auzāʿī als die Darstellung der unter den späten Umayyaden anerkannten Rechtspraxis aus dem frühen 8. Jahrhundert verstanden werden.[17]

Wirkung

Die juristischen Lehrmeinungen von al-Auzāʿī haben durch die Vermittlung seiner Schüler bereits im ausgehenden 8. Jahrhundert al-Andalus erreicht, wo sie dann durch die Malikiten allmählich verdrängt worden sind.[18] Seine Lehren über Fragen des Völker- und Fremdenrechts sind durch syrisch-andalusische Vermittlung allerdings bis in das 12. Jahrhundert in andalusischen Gelehrtenkreisen unterrichtet worden. Im Muwattaʾ-Kommentar des malikitischen Gelehrten Ibn ʿAbd al-Barr (†1070) aus Córdoba sind über fünfhundert Hinweise auf die Lehre von al-Auzāʿī erhalten. Das Weiterleben seiner Rechtsbücher mit dieser Thematik ist in andalusischen Gelehrtenkreisen kein literarhistorischer Zufall gewesen. Drei juristische Schriften mit der dschihad- und siyar-Thematik aus dem islamischen Osten waren in den arabischen Grenzmarken auf der Iberischen Halbinsel fast zur gleichen Zeit bekannt. Sie sind - soweit datierbar - zwischen den Jahren 833 und 990 in Córdoba, Guadalajara (arabisch:Wādī al-Ḥiǧāra) und Toledo in neuen Abschriften verbreitet worden.[19] Denn die islamrechtliche Festlegung des Status der nicht-muslimischen Bevölkerung und die Konfrontation mit den christlichen Nachbarn - der späteren Reconquista - außerhalb des Dar al-Islam gehörte genauso zum Alltag wie an den Grenzmarken zum byzantinischen Reich.[20]

Ibn ʿAsākir liefert in seiner Stadtgeschichte und Gelehrtenbiographie von Damaskus nicht nur eine rund 80 Seiten umfassende Biographie von al-Auzāʿī,[21] sondern erwähnt bei der Darstellung der Kadi-Ämter von Damaskus die Repräsentanz syrischer Gelehrter, die unter dem Einfluss der Rechtsschule von al-Auzāʿī standen.[22]

Quellennachweise

  1. Yāqūt: Ferdinand Wüstenfeld (Hrsg.): K.Muʿǧam al-buldān. (Geographisches Wörterbuch). Leipzig 1866-1870; Bd. 1. (al-Auzāʿ). Bd. 1, S. 280 (Beirut 1955); The Encyclopaedia of Islam. New Edition. Brill. Leiden. Bd. 1, S. 772
  2. Ibn Saad: Biographien... Bd. VII/2. (Hrsg. Eduard Sachau). Brill, Leiden 1918. S. 185. S. XLIX: Zusammenfassung auf Deutsch)
  3. Ibn ʿAsākir: Taʾrīch Madīnat Dimaschq, Bd. 35, S. 161; über taṣnīf siehe: Fuat Sezgin (1967), S. 57-58
  4. Ibn ʿAsākir, a.a.O.
  5. The Encyclopaedia of Islam. New Edition. Brill. Leiden. Bd. 1, S. 772
  6. Fuat Sezgin (1967), S. 517; Otto Spies und Erwin Pritsch: Klassisches Islamisches Recht. In: Bertold Spuler (Hrsg.): Handbuch der Orientalistik. Erste Abt. Der Nahe und der Mittlere Osten. Ergänzungsband III. Orientalisches Recht. Brill, Leiden 1964. S. 268
  7. W. Heffening (1925), S. 149-150
  8. Fuat Sezgin (1967), S. 292 ist zu korrigieren; das dort genannte „K. as-Siyar fī ʾl-aḫbār“ ist keine Prophetenbiographie, sondern ein Rechtswerk
  9. Miklos Muranyi: Das Kitāb al-Siyar von Abū Isḥāq al-Fazārī. Das Manuskript der Qarawiyyīn-Bibliothek zu Fās. In: Jerusalem Studies in Arabic and Islam (JSAI). Bd. 6 (1986), S. 63ff; hier: S. 70-71. Eine Teiledition des Werkes liegt seit 1987 (Beirut) vor. M Khadduri: The Islamic Law of Nations - Shaybānī's Siyar. Baltimore 1966. S. 26, Anm. 56
  10. M. Muranyi: Fiqh. In: Helmut Gätje (Hrsg.): Grundriß der Arabischen Philologie. Bd. II: Literaturwissenschaft. Dr. Ludwig Reichelt Verlag, Wiesbaden 1987. S. 308 und Anm. 30
  11. Miklos Muranyi: Die Rechtsbücher des Qairawāners Saḥnūn b. Saʿīd. Entstehungsgeschichte und Werküberlieferung. Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes. Bd. LII,3. Stuttgart 1999. S. 33-35
  12. Fuat Sezgin (1967), S. 178-179
  13. Fuat Sezgin (1967), S. 517, Nr. 1-9
  14. Siehe Joseph Schacht (1967), S. 34
  15. Siehe Joseph Schacht (1967), S. 70; 288-289
  16. Ignaz Goldziher: Muhammedanische Studien. Halle a.S. 1890. Bd. 2, S. 12
  17. Siehe Joseph Schacht (1967), S. 72
  18. The Encyclopaedia of Islam. New Edition. Brill. Leiden. Bd. 1, S. 772
  19. Miklos Muranyi (1985), S. 92-93 (Überlieferungstabelle)
  20. Miklos Muranyi (1985), S. 90-91
  21. Bd. 35, S. 146-229 (Beirut 1996)
  22. Dazu ausführlich: Gerhard Conrad: Die Quḍāt Dimašq und der Maḏhab al-Auzāʿī. Materialien zur syrischen Rechtsgeschichte. Beiruter Texte und Studien. Bd. 46. Beirut 1994

Literatur

  • Wilhelm Heffening: Das islamische Fremdenrecht bis zu den islamisch-fränkischen Staatsverträgen. Eine rechtshistorische Studie zur Fiqh. Neudruck der Ausgabe Hannover 1925. 1975, ISBN 3-7648-0375-4
  • Joseph Schacht: The Origins of Muhammadan Jurisprudence. Oxford 1967. S.70-73; S. 288-289
  • Fuat Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums. Brill, Leiden 1967. Bd. 1, S. 516-517
  • Otto Spies und Erwin Pritsch: Klassisches Islamisches Recht. In: Bertold Spuler (Hrsg.): Handbuch der Orientalistik. Erste Abt. Der Nahe und der Mittlere Osten. Ergänzungsband III. Orientalisches Recht. Brill, Leiden 1964. S. 267-268
  • The Encyclopaedia of Islam. New Edition. Brill. Leiden. Bd. 1, S. 772

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