Gebrochene Grotesk

Gebrochene Grotesk

Gebrochene Grotesk, auch Fraktur-Grotesk oder Schlichte Gotisch, polemisch auch Schaftstiefelgrotesk, bezeichnet eine groteske Form gebrochener Schriften aus den 1930er Jahren.

Inhaltsverzeichnis

Elementare Typografie

Von oben: Tannenberg (fett) (1935) mit Antiqua-S, Zentenar-Fraktur (1939), konstruierte Futura (1927)

Ab 1933 kam eine Gruppe grotesker Schriften auf den Markt, die auf gotischen Buchstabenformen basiert. Sie vereinen die kantige und überwiegend senkrechte Strichführung der gotischen Textur mit den konstanten Strichbreiten der Grotesk. Im Gegensatz zu anderen gebrochenen Schriften sind die Großbuchstaben im Verhältnis zu den Kleinbuchstaben nicht oder nur minimal verziert:

  • Tannenberg (1933–1935) von Erich Meyer
  • National (1934) von Walter Höhnisch
  • Element (1934) von Max Bittrof
  • Potsdam (1934) von Robert Golpon
  • Gotenburg (1935) von Friedrich Heinrichsen
  • Kurmark (1934), Hausschnitt Norddeutsche Schriftgießerei, Berlin
  • Kursachsen Auszeichnung (1937) von Peterpaul Weiß
  • Großdeutsch (1935) von Herbert Thannhaeuser
  • Deutschmeister (1934) von Berthold Wolpe
  • Sachsenwald-Gotisch (1934) von Berthold Wolpe
  • Marienburg, Genzsch & Heyse; identisch mit Deutschland, Berthold
  • Armin-Gotisch (1933) von Fritz Müller
  • Staufia (1935), C. E. Weber

Da alle diese Schriften in Deutschland kurz nach der Machtergreifung entworfen wurden, sind sie für viele Betrachter inhaltlich eng mit dem Nationalsozialismus verknüpft. Die Formgestaltung lässt sich aber auch als Ausdruck der Neuen Sachlichkeit verstehen und als Versuch, Gestaltungsprinzipien der Elementaren Typographie auf gebrochene Schriften anzuwenden.

Die meisten zeitgenössischen und nachfolgenden Betrachter sind sich einig, dass diese Schriften dem damaligen Zeitgeist entsprechen. Ein Werbetext von 1934 lobt etwa die Vorzüge der neuen Schrift Element:

„Element – Die klare deutsche Schrift der neuen Typographie. Die deutsche Schrift lebt fort als der sichtbare Ausdruck deutschen Wesens. Sie gehört nicht der Vergangenheit an. Und deshalb haben wir die Verpflichtung, mehr zu tun, als Formen der Vergangenheit abzuwandeln und zu wiederholen.“

Graphische Nachrichten, 1934[1]

In Schaftstiefeln marschierende SA, 1935

Dagegen vergleicht Jan Tschichold die Schriften 1960 mit den bei den Nazis so beliebten Marschstiefeln als „in Schaftstiefeln marschierende Kochschrift“.[2] Das Bild hat sich durchgesetzt, sodass die Bezeichnung Schaftstiefelgrotesk heute in vielen typographischen Texten anzutreffen ist.

Während der Zeit des Nationalsozialismus fanden diese Schriften bei verschiedenen Projekten Verwendung. Der drei Meter hohe und 15 Meter lange Schriftzug „Hindenburg“ auf dem Luftschiff LZ 129 wurde 1936 von Georg Wagner entworfen. Zur gleichen Zeit wurden auch die Mützenbänder der Matrosen und die Namensaufschriften der Schiffe der Kriegsmarine in diesen Schriften gestaltet. Die Schriften fanden sich auch bei anderen Uniformen und auf öffentlichen Schriftschildern, wie in den Bahnhöfen des anlässlich der Olympischen Sommerspiele 1936 eröffneten Nord-Süd-Tunnels der Berliner S-Bahn.

Auch nach Ende der NS-Diktatur haben sich diese Schriften im deutschen Alltag gehalten. Das rote Logo der deutschen Apotheken entspricht weitestgehend dem Originalentwurf von 1936. Aber auch Biermarken und Zeitungsköpfe verwenden diese Schriften noch heute. Eine gewisse Beliebtheit hatten sie auch bis in die 1960er Jahren bei der Evangelischen Kirche.

Typographische Klassifizierung

Manuskript in textualis prescissa, 14. Jahrhundert

Die genaue typographische Einordnung der Tannenberg-artigen Schriften ist umstritten. Die damalige Suche nach einer zeitgemäßen Form für gebrochene Schriften fasste der Schriftgießer Friedrich Genzsch 1928 in den Worten zusammen:

„Es wäre […] ein ebenso falsches wie vergebliches Bemühen, wenn wir für unsere Gegenwart und Zukunft irgendeinen der historischen Stile festhalten oder neu beleben wollten. Folgerichtig drängt die Entwicklung unserer Maschinentechnik nach einfachsten Gestaltungen und klarsten Ausdrucksformen.“

Friedrich Genzsch: Zeitgemäße Schriftgestaltung.[3]

Koch-Schriften

Jan Tschichold bezieht sich in seiner Schaftstiefel-Polemik auf „Koch-Schriften“. Gemeint sind die Entwürfe Rudolf Kochs aus den 1920er Jahren für die Schriftgießerei Gebr. Klingspor in Offenbach am Main:

  • Wallau (1924–1935)
  • Offenbach (1928–1931)
  • Jessen (1925)

Diese halbgotischen Schriften kombinieren Elemente der Fraktur mit unzialen oder Antiqua-Formen für die Großbuchstaben. Sie wurden anfangs ignoriert oder abgelehnt. Der Bund für Deutsche Schrift verunglimpfte die Vermischung einer „deutschen Schrift“ als „Rassenschande“. Ironischerweise kamen diese Schriften ausgerechnet mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus in Mode.

Die Koch-Schriften unterscheiden sich von den Tannenberg-ähnlichen Schriften durch variierende Strichstärken, stärkere Anlehnung an unziale und Antiqua-Formen. Es ist umstritten, inwiefern sie als Wegbereiter für gebrochenen Grotesken anzusehen sind.

Schlichte Gotisch

Der Typograph Hans Peter Willberg sieht die Koch-Schriften und die Tannenberg-artigen als Beispiele einer schlichten Gotisch in einer langen Tradition vereinfachter, schmuckloser gebrochener Schriften. Er verweist insbesondere auf die handgeschriebene textualis prescissa aus dem 15. Jahrhundert und auf die neu-gotischen Schriften der Wende zum 20. Jahrhundert. Weitere Beispiele sind etwa:

  • Hamburger Druckschrift (1904) von Friedrich Bauer
  • Liebingschrift (1912) von Kurt Liebing; 1934 als Nürnberg wiederveröffentlicht
  • Wieynck-Werk (1930) von Heinrich Wieynck

Auszeichnungsschriften

Eher in der Tradition grober, fetter gebrochener Schriften als Auszeichnungsschrift, insbesondere für die Werbung, stehen etwa folgende Schriften:

Musikszene

In den 1970er Jahren entwickelten mehrere Rockbands Logos mit einer reduzierten gebrochenen Ästhetik, zum Beispiel AC/DC und Kiss. Im Thrash Metal-Bereich sind Bandlogos üblicherweise aus gebrochenen, an Groteske angelehnten Buchstaben erstellt. Oft sind diese sehr schlicht gehalten, wie zum Beispiel bei Overkill und Kreator, aber auch verspielte Ausgestaltungen, etwa mit Zacken, wie bei Exodus, sind oft anzutreffen.

Schriftbeispiele

Siehe auch

Literatur

  • Michael Gugel: Fokus Fraktur. veraltet verspottet – vergessen? Ein Portrait. gugelgrafik-Verlag, 2006. (pdf)
  • Peter Rück: Die Sprache der Schrift. Zur Geschichte des Frakturverbots von 1941. zuerst in: homo scribens, Tübingen 1993, S. 231–272 (pdf)
  • Wilhelm H. Lange: Von der Schwabacher Judenletter und einer kleinen Widerstands-Bewegung… in: Festschrift Karl Klingspor zum achtzigsten Geburtstag am 25. Juni 1948, S. 39–51

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Reproduziert im Typoforum 8. Juni 2007 Bild, (abgerufen 7. April 2008)
  2. Jan Tschichold: Zur Typographie der Gegenwart. 1960; zit. in: Peter Rück: Sprache der Schrift
  3. In: Die zeitgemäße Schrift, Oktober 1928, S. 16–18. Kommentierter Nachdruck: Die deutsche Schrift 3/2004 (pdf)

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