Gedankenpolizei

Gedankenpolizei

Ein Gedankenverbrechen (jap. 思想犯, shisōhan, engl. Crimethink oder thoughtcrime) war beispielsweise in Japan eine Straftat, die nicht unbedingt im herkömmlichen Sinne begangen werden muss. Es zählt, je nach Interpretation, schon entweder die Wahrscheinlichkeit oder der Wunsch eine Straftat in der Zukunft zu begehen. 1936 wurde in Japan ein „Gesetz zum Schutz und zur Überwachung von Gedankenverbrechern“ (思想犯保護観察法, Shisōhan Hogo Kansatsuhō) verabschiedet. „Gedankenverbrechen“ war hier der japanische Ausdruck für ein „Verbrechen gegen den Staat“. Weltweite Bekanntheit erlangte der Begriff durch den Roman 1984 von George Orwell, der von 1941 bis 1943 bei der BBC als Redakteur zum Zweck angestellt war, antijapanische Propaganda zu betreiben. In dem Roman werden kritische Gedanken, die die Doktrin des fiktiven Staates Ozeanien in Frage stellen, als schwerwiegendes Verbrechen gegen den Staat behandelt. Auch das in Erwägung ziehen von anderen Gedanken als der offiziellen Doktrin wurden im Roman als Gedankenverbrechen angesehen. Die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung wird zum Beispiel in Neusprech als „Gedankenverbrechen“ übersetzt.

Winston Smith, die Hauptfigur, beschrieb Gedankenverbrechen in seinem Tagebuch folgendermaßen: „Gedankenverbrechen zieht nicht den Tod nach sich, Gedankenverbrechen ist der Tod.“ … „Er hatte – auch wenn er nie die Feder angesetzt hätte – das Kapitalverbrechen begangen, das alle anderen in sich einschloss. Gedankenverbrechen nannten sie es.“ – 1984

Der weltweit beachtete Roman führte nach seinem Erscheinen zu teilweise sehr kontroversen Debatten über den Begriff des Gedankenverbrechens, zum Beispiel:

  • ob bereits der Gedanke ein Verbrechen sein kann,
  • oder ob erst die Umsetzung der Gedanken eine Straftat ist,
  • ab wann der Gedanke über ein Verbrechen beginnt, zum Plan und damit zum Willen zu werden und
  • ab wann die Strafbarkeit für ein noch nicht ausgeführtes Verbrechen beginnt.

Diese Diskussionen gibt es bis in die Gegenwart hinein. Sie leben durch aktuelle Ereignisse immer wieder auf, beispielsweise der Inhaftierung des Menschenrechtlers Akin Birdal am 3. Juni 1997 in der Türkei mit dem Vorwurf des Gedankenverbrechens oder wie die Vereinigten Staaten mit mutmaßlichen Terroristen umgehen (siehe Krieg gegen den Terrorismus und Guantánamo Bay).

Inhaltsverzeichnis

Gedankenpolizei

→ Hauptartikel: Tokubetsu Kōtō Keisatsu

Nach der Meiji-Restauration von 1868 wurde Japan nicht nur von einer Flut moderner Technik überschüttet, sondern kam auch mit der ganzen Bandbreite westlichen politischen Denkens in Berührung. Besonders der Marxismus wurde als Gefahr für die japanische Monarchie angesehen. 1910 gab es in Japan im Zuge der Hochverratsaffäre eine Welle von Verhaftungen von Anarchisten und Sozialisten, nachdem die Polizei bei einem Arbeiter Sprengstoff gefunden hatte mit dem der Kaiser getötet werden sollte. Daraufhin wurde 1911 die „Spezielle Höhere Polizei“ (特別高等警察, Tokubetsu kōtō keisatsu, auch kurz 特高, Tokkō genannt) gegründet, die wegen ihrer Aufgabe, „gefährliche Gedanken“ wie den Marxismus zu bekämpfen, allgemein „Gedankenpolizei“ genannt wurde. Seit 1941 hatte die Gedankenpolizei die Möglichkeit, „Gedankenverbrecher“ allein aufgrund einer regimefeindlichen Einstellung präventiv in Haft zu nehmen, auch wenn keine politisch motivierte Straftat begangen wurde (vergleiche das Gesetz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit).

Nach dem „Gesetz über die Nationale Sicherheit“ (국가보안법) Südkoreas können ebenfalls Gedankenverbrechen (§7) sowie das Unterlassen von Denunziation (§10) geahndet werden. Die Strafen können bei Reue oder denunzieren von anderen reduziert bzw. erlassen werden. [1]

Im Roman 1984 hat die Gedankenpolizei, eine verdeckt arbeitende Polizei, die Aufgabe mögliche Gedankenverbrechen zu entdecken und zu bestrafen. Dabei setzt sie Psychologie bei Befragungen und allgegenwärtige Überwachung ein, um die Mitglieder der Gesellschaft zu finden, die dazu fähig sind, Kritik an der offiziellen Doktrin zu üben.

Religiöse Gedankenverbrechen

In der Dogmatik der römisch-katholischen Kirche (und keineswegs im Christentum, d. h. der biblischen Lehre) gibt es das Prinzip der Inneren Sünde (z. B. die „innere Neigung zur Sünde“, welche angeblich aus Römer 6,14 EU abgeleitet werden soll – tatsächlich ist Römer 6:14 dazu völlig ungeeignet). Gemäß der katholischen Dogmatik gehörten zur Inneren Sünde

  • delectatio morosa, Lust an einem sündigen Gedanken oder einer Vorstellung, auch wenn unbeabsichtigt
  • gaudium, in Erinnerung an bereits begangene Sünden schwelgen
  • desiderium, Sehnsucht nach etwas Sündigem

In den Medien

Weiterhin beschäftigen sich die Kurzgeschichte und der Film Minority Report von Philip K. Dick mit dem Problem der Verfolgung von möglichen Straftaten, die erst in der Zukunft, festgestellt durch Präkognition, begangen werden könnten (Pre-Crime) und zeigen dabei auftretende ethische und philosophische Probleme.

Mangelnde Objektivität

Gesetze, die Gedankenverbrechen verurteilen, leiden unter der mangelnden Nachprüfbarkeit und damit an fehlender Objektivität. Es ist bisher weder rechtlich noch wissenschaftlich nachweisbar, ob jemand an etwas gedacht hat oder nicht.

Die in manchen Staaten eingesetzten Lügendetektoren können lediglich den aktuellen Stress messen, der durch bewusste Falschaussagen während eines Verhörs entsteht.

Da sich die Hirnforschung und damit auch die Möglichkeiten des Messens und Auswertens von Gehirnströmen entwickelt, mahnen bereits erste Forscher vor den damit verbundenen Möglichkeiten, Menschen anhand der Auswertung der Hirnscans in bestimmte Kategorien einzuordnen. So fragt etwa die Neurologin Judy Illes von der Stanford University: „Wie werden wir mit Informationen umgehen, die eine Neigung zu Soziopathie, Suizid oder Aggression vorhersagen?“.

Literatur

  • Richard Mitchell: Thought Control in Prewar Japan. London, 1976.
  • Michael Rademacher: George Orwell, Japan und die BBC. Die Rolle des totalitären Japan bei der Entstehung von Nineteen Eighty-Four. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 149. Jahrgang 1 (1997), S. 33-54.
  • Elise K. Tipton: The Japanese Police State. The Tokko in Interwar Japan. London, 1991.

Einzelnachweise

  1. 국가보안법; Suh Sung: Unbroken Spirits. Nineteen Years in South Korea's Gulag. Rowman & Littlefield, Lanham 2001, ISBN 0-7425-0122-1, S. 98f., 103.

Siehe auch

Weblinks


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