Sehnsucht

Sehnsucht
Sehnsucht hinter Mauern

Sehnsucht (mhd. „sensuht“, als „krankheit des schmerzlichen verlangens“[1]) ist ein inniges Verlangen nach einer Person oder Sache, die man liebt oder begehrt. Sie ist mit dem schmerzhaften Gefühl verbunden, den Gegenstand der Sehnsucht nicht erreichen zu können.

Bei Menschen, die sich vor Sehnsucht „verzehren“, kann diese in bestimmten Fällen krankhafte, psychopathologische Züge annehmen, so etwa bei verschiedenen Formen der Todessehnsucht, die bis zum Suizidwunsch reichen kann.

Inhaltsverzeichnis

Etymologie und Sprachwandel

Der Leidensbezug des Wortes Sehnsucht im mittelhochdeutschen Gebrauch wird in einem weiteren Beleg des Deutschen Wörterbuchs verdeutlicht, in welchem das Siechtum des Sehnsüchtigen erwähnt wird. Unter Abschwächung des Krankheitsbezuges bezeichnete das Wort später den hohen „grad eines heftigen und oft schmerzlichen verlangens nach etwas, besonders wenn man keine hoffnung hat das verlangte zu erlangen, oder wenn die erlangung ungewisz, noch entfernt ist“.[2]

Das Wort Sehnsucht wird als Germanismus in einigen anderen Sprachen verwendet. Wegen seiner Unbestimmtheit lassen sich analoge Begriffe nicht leicht anführen.[3]

Sehnsucht in der Mythologie

In der griechischen Mythologie ist Himeros der Gott der liebenden Sehnsucht, der mit Eros in Begleitung von Aphrodite zu finden ist. Die Personifikation menschlicher Gefühle, die nach psychologischer Erklärung in den Mythen zum Ausdruck kommt, wird auch bei den Androgynen deutlich, Mischwesen mit männlichen und weiblichen Zügen, aus denen die Menschen hervorgegangen sind. Die als mutig beschriebenen Androgynen hatten es gewagt, den Olymp zu stürmen, und konnten Zeus einige Zeit in Bedrängnis bringen. Nachdem er sie zurückgeschlagen hatte, wollte er sie nicht wie die Giganten vernichten, sondern teilte sie in zwei Hälften, eine männliche und eine weibliche. Er gab Apollon den Auftrag, die so Getrennten zu heilen. Mit der Teilung verloren die so entstandenen Menschen ihre Kraft und sind seither durch die Liebe (Eros) und die mildere Form der Sehnsucht (Himeros) verbunden.

Philosophie

Bei aller Schwierigkeit, analoge Begriffe in anderen Sprachen zu ermitteln, gibt es bei Platon eine Ähnlichkeit mit dem griechischen πόθος, dessen Volksetymologie im Dialog Kratylos erläutert wird. Diese „Sehnsucht“ bezieht sich auf etwas „anderswo Seiendes und Abwesendes“. Im Symposion erscheint πόθος als Sohn des Eros, der als Prinzip des strebenden Begehrens betrachtet wird und sich auf das richtet, was man nicht besitzt.[3]

Im Dialog Phaidros ist die πόθος eine Bedingung der Erkenntnis. Gegenstände werden aus der πόθος nach den ewigen Urbildern erkannt, welche die Seelen einstmals geschaut haben.

Allerdings führte erst die jüdisch-christliche Vorstellung von der Conditio humana in ihrer Unvollkommenheit, welcher der Wunsch nach Überwindung und Perfektion innewohnt, die Sehnsucht in den Bereich philosophischer Fragestellungen.[3]

Böhme und Kant

Bei Jacob Böhme gewinnt die Sehnsucht eine neue Bedeutung, da für ihn das „Sehnen" die Wirkungskraft (der Natur) „materialisch" also zur Materie mache. Die ganze Natur beruhe auf dem Prinzip des „Sehnens", ein ebenso dynamischer wie schöpferischer Mechanismus. Das Sehnen des Menschen nach Gott sei eine Erinnerung an seine Ursprünge. Böhme spricht vom „Sehnen der Finsternis nach dem Licht und der Kraft Gottes", durch das die Welt aus der Dunkelheit geschaffen sei.

Während für Immanuel Kant in seiner Anthropologie die Sehnsucht nur der „leere Wunsch" sei, „die Zeit zwischen dem Begehren und Erwerben des Begehrten vernichten zu können" [4], wird der Begriff im Deutschen Idealismus aufgewertet.

Deutscher Idealismus

Der Deutsche Idealismus betrachtet die Sehnsucht in der Regel im religionsphilosophischen Zusammenhang. So ist sie für Friedrich Schleiermacher der Ursprung aller Religion, da sie die Frage nach dem „Sinn für die Welt" aufwerfe. Dem Menschen mit seiner religiösen Anlage eigne die Sehnsucht „nach dem Wunderbaren und Übernatürlichen".[5]

Fichte und Schelling fassen die Sehnsucht als eine schöpferische Kraft auf. So bezeichnet Fichte sie an einer Stelle als einen „Trieb, mit dem Unvergänglichen vereinigt zu werden und zu verschmelzen"; sie sei der Grund des Daseins, das erst durch sie zum wahrhaftigen Leben komme.[6]

Hegel spricht im vierten Kapitel seiner Phänomenologie des Geistes von einem unglücklichen Bewusstsein: „Dieses unglückliche, in sich entzweite Bewußtsein muß also, weil dieser Widerspruch seines Wesens sich ein Bewußtsein ist, in dem einen Bewußtsein immer auch das andere haben, und so aus jedem unmittelbar, indem es zum Siege und zur Ruhe der Einheit gekommen zu sein meint, wieder daraus ausgetrieben werden.“ (Reclam Universal-Bibliothek Nr.8460, 1987; S.157). Er meint damit das ewige Streben nach dem „unwandelbarem Wesen“ (S.158), dem letztlich Wahren und Gewissen. In der vom christlichen Glauben beeinflussten Kultur liegt dieses in der Sehnsucht nach dem Paradies. Diese Erkenntnis, deren Symbol die Kreuzigung Christi ist, macht dieses Bewusstsein unglücklich.

Romantik

Sehnsucht als die Projektion von Idealbildern. Das jeweils Fremde wird in der Traumwelt zur Heimat. Verkaufsstand mit Postern auf einer Straße in der syrischen Hauptstadt Damaskus

Die Sehnsucht - etwa im Motiv der Unendlichkeit - spielt in der Epoche der Romantik eine große Rolle. Neben Literatur und Philosophie gilt dies auch für die Musik. So ist das Werk Richard Wagners ohne die unendliche Melodie und das Sehnsuchtsmotiv (in Tristan und Isolde) kaum denkbar. Neben anderen Emotionen kann Sehnsucht in der Musik als ein Grundgefühl des Ausdrucks verstanden werden.

Die Romantiker erblickten in der Unbestimmtheit der Sehnsucht eine metaphysische Entsprechung der eigenen poetischen Arbeit, die eher Suche als Finden, Streben als Erfüllung war.[7]

Einige Schriftsteller und Philosophen beziehen sich in ihrem Werk auf das metaphysische Konzept Jakob Böhmes und deuten es platonisch weiter. So sucht Friedrich Schlegel das endliche Bewusstsein aus dem Unendlichen abzuleiten und betrachtet dieses in seiner höchsten Form als „reines Streben“, das auch Erinnerung einschließe. Durch Sehnsucht und Erinnerung hebe die Seele sich zum „Göttlichen empor". Alles geistig Schöne und Große gehe aus Sehnsucht hervor, selbst die Philosophie könne als Lehre oder Wissenschaft der Sehnsucht aufgefasst werden.

Sein Bruder, August Wilhelm Schlegel, arbeitete in den Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, die als zentrales Werk der Romantik gelten [8], den Unterschied zwischen dem „Klassischen" und „Romantischen" antithetisch heraus: „die Poesie der Alten war die des Besitzes, die unsrige ist die der Sehnsucht; jene steht fest auf dem Boden der Gegenwart, diese wiegt sich zwischen Erinnerung und Ahndung" [9]

Auch im Werk Novalis’ dreht sich vieles um dieses romantische Element. Die berühmte blaue Blume Heinrich von Ofterdingens kann als das Symbol der Romantik betrachtet werden, ein unerreichbares Ziel des schwärmerischen Suchens, das im Hier und Jetzt unbefriedigt ist, sich nach dem Anderen sehnt, das es doch nicht kennt und dessen Gefahren es nicht abschätzen kann.

In einem Aufsatz über Beethovens Instrumentalmusik bezeichnet E.T.A. Hoffmann die unendliche Sehnsucht als das Wesen der Romantik und beschreibt Beethoven als „rein romantischen" Komponisten, da seine Musik - im Gegensatz etwa zu der Mozarts - die Hebel der Furcht, des Schauers und des Entsetzens bewege.

Die Sehnsucht ist ein zentrales Motiv im Schaffen des spätromantischen Dichters Joseph von Eichendorff. In vielen seiner Gedichte und Prosawerke wird die Sehnsucht beschworen. Für Eichendorff ist der Mensch ein Homo viator, ein Reisender unterwegs durch die Welt zum ewigen Zuhause.[10]

Selbst Goethe, welcher der Romantik kritisch gegenüberstand, erwähnt die Sehnsucht immer wieder. Sie dürfe, etwa als poetischer Grund des Mignon-Liedes („Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn...“) oder des Gedichts Selige Sehnsucht aus dem West-Östlichen Divan [11]nur auf ein „Unerreichbares gerichtet sein“ [12].

Erklärungsansatz nach Freud

Im vierten Kapitel seiner Abhandlung „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) beschreibt Sigmund Freud in der Triebtheorie, dass die Triebe eher konservativer Natur sind. Das bedeutet, dass sie den bestehenden Zustand nicht nur erhalten wollen, sondern auch tendenziell zur Rückkehr in einen früheren Zustand führen: „Ein Trieb wäre also ein dem belebten Organischen innewohnender Drang zu Wiederherstellung eines früheren Zustandes...“ (Fischer Taschenbuch 6394, S.146) Im dritten Kapitel seines Aufsatzes „Das Unbewußte“ (1915) erklärt Freud den Zusammenhang zwischen Trieb und Affekten, wie Gefühle und Empfindungen. Die Triebe sind, seiner Meinung nach, nie „Objekte des Bewußtseins“ (S.82), sondern sie können nur in der Vorstellung bestehen. Sie treten aber durch Affekte zum Vorschein.

Wenn man sich die Relation zwischen Trieben und Gefühlen vor Augen führt, ergibt sich der Gedanke, dass nicht nur die Triebe als konservativ gelten, sondern auch die aus ihnen resultierenden Gefühle einen eher erhaltenden Charakter haben. Deutlich wird dieses bei dem Gefühl der Sehnsucht, die häufig auf Erlebtes, Vergangenes zielt. Die Betroffenen empfinden den Zustand, in dem sie sich jetzt befinden, als schwieriger als den, nach dem sie sich sehnen.

Todessehnsucht

Eine Form der Todessehnsucht, die im Suizid mündet, wird in Werthers Leiden und in anderen Werken geschildert.

Dieses Gefühl hat unterschiedliche Ursachen, wie Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation oder den Wunsch, einem geliebten Menschen nachzufolgen. Auf einer tieferen Ebene kann die Todessehnsucht auch auf den paradiesischen Zustand, den die Zeit im Mutterleib darstellte, wo Einssein und Geborgenheit herrschte, zurückgeführt werden. Aus christlicher Sicht ist es eher die Sehnsucht nach Gott und dem Himmel, der die Todessehnsucht mancher Menschen bestimmt. Menschen, die keinen Sinn mehr in ihrem irdischen Dasein sehen, sehnen sich nach dem Tod, den sie als Erlösung betrachten.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. So belegt im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm
  2. a.a.O.Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm
  3. a b c Historisches Wörterbuch der Philosophie, Sehnsucht Bd 9. S. 165
  4. Immanuel Kant: Anthropologie, Anthropologische Didaktik, Vom Begehrungsvermögen, Drittes Buch
  5. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd 9. S. 166
  6. a.a.O. zit nach Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd 9. S. 166
  7. a.a.O. Historisches Wörterbuch der Philosophie S. 167
  8. Kindlers Neues Literatur-Lexikon, Bd. 14, August Wilhelm von Schlegel, Über dramatische Kunst und Literatur, S. 964, München 1991
  9. August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über die dramatische Kunst und Literatur zit nach Historisches Wörterbuch der Philosophie: Romantik, das Romantische Bd. 8, S. 1086
  10. Walther Killy Literaturlexikon, Joseph von Eichendorf, Bd. 3. S 200
  11. H. Schmitz, Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichem Zusammenhang (1959), 254–264 zit. nach Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd 9. S. 167
  12. Johann Wolfgang v. Goethe, Dichtung und Wahrheit, zweiter Teil, neuntes Buch

Literatur

Weblinks

 Wikiquote: Sehnsucht – Zitate
Wiktionary Wiktionary: Sehnsucht – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
 Wikisource: Sehnsucht – Quellen und Volltexte

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