Gesta Romanorum

Gesta Romanorum
Lateinischer Druck der Gesta Romanorum: Inkunabel, gedruckt in Straßburg von Martin Schott, ca. 1486 (GW 10894);[1]Incipit

Die Gesta Romanorum (deutsch: Die Taten der Römer) sind eine spätmittelalterliche Exempelsammlung, die seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts bis in den Barock in wechselnder Gestalt weite Verbreitung fand.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Der Umfang der Gesta Romanorum variiert in den Handschriften und umfasst bis zu 240 moralisierte Exempel, d.h. beispielhafte Erzählungen mit einer angefügten moralisierenden Ausdeutung. Der Sammlungstitel, Taten der Römer, weist auf das Interesse hin, die Geschichten mit einem Bezug zur römischen Geschichte zu versehen, auch wenn die Erzählstoffe häufig erfunden sind oder aus griechischer, biblischer oder orientalischer Tradition stammen. Die der eigentlichen Erzählung regelmäßig angefügte "moralizatio" gibt der erzählten Handlung eine allegorische Deutung, indem sie im Rahmen der christlichen Tugend- und Sündenlehre darlegt, wie der Leser/Hörer die Nutzanwendung auf sein eigenes Handeln zu vollziehen hat. Die Gesta Romanorum stehen damit in der allgemeinen Tradition mittelalterlicher Exempelsammlungen, wie sie zum Beispiel durch Petrus Alfonsi oder Die sieben weisen Meister vertreten wurde, und deren primäre Aufgabe es war, für die Predigt geeignete Stoffe zur Verfügung zu stellen.

Die Gesta Romanorum bieten eine große Vielfalt an Themen und Geschichten, die offenbar weitläufig eingesammelt worden sind: „Neben antiken Stoffen (Medusa, Perseus, Pyramus und Thisbe, Odysseus und die Sirenen, Alexander der Große, Apollonius von Tyrus) stehen eine Paraphrase des alttestamentlichen Buches Esther, die Geschichte vom Aussatz heilenden Propheten Elischa, die Geschichte vom Mord an Siseras durch Jaël, die christlichen Legenden von Alexius, Julianus Hospitator, Gregorius und Eustachius, Fabeln (Androklus und der Löwe), die Geschichte von der Schlange am Busen ihres Retters, schwankhafte Geschichten wie z. B. vom eingebildeten Kranken, Beschreibungen von ritterlichen Turnieren und vieles mehr.“[2]

Entstehung und Rezeption

Die Sammlung wurde wahrscheinlich Anfang des 14. Jahrhunderts in England oder in Deutschland in lateinischer Sprache verfasst. Ein großer Teil der äußerst zahlreichen lateinischen Handschriften wurde im Süden des deutschen Sprachraums geschrieben. Seit dem Ende des 14. Jahrhunderts finden sich Übersetzungen ins Deutsche, Niederländische, Englische, Französische, Tschechische, Polnische, Russische und Ungarische, wobei im Spätmittelalter die deutschen Bearbeitungen die umfänglichste Gruppe bilden.

Bis weit ins 16. Jahrhundert waren sie in fast alle europäischen Sprachen übersetzt und sehr populär. Giovanni Boccaccio und William Shakespeare zum Beispiel wie auch Hans Sachs nutzten die Gesta Romanorum als Stoffsammlung und ergiebige Quelle für ihr literarisches Schaffen.

Beispieltext

Gesta Romanorum, Martin Schott, Straßburg 1486; Fol. II r

Umschrift

Siehe Abbildung 2

Justum iudicium Capitulum III

Quidam imperator regnavit qui statuit pro lege quod si mulier sub viro adulterata esset sine misericordia de alto monte precipitaretur. Accidit casus quod quedam mulier sub viro suo erat adulterata. Statim secundum legem de alto monte erat precipitata. Sed de monte tam suaviter descendit quod in nullo lesa erat. Ducta est ad iudicium. Iudex videns quod mortua non esset sententiam dedit (eam) iterum precipitari et mori. Ait mulier: Domine si sic feceritis contra legem agitis. Lex vult quod nullus debet bis puniri pro uno delicto. Ego eram precipitata quia semel adulterata et deus me miraculose salvavit: Ergo iterato non debeo precipitari. Ait iudex: Satis prudenter respondisti vade in pace. Sic salvata est mulier.

Moralisatio Carissimi. Imperator iste est deus noster qui facit istam legem quod si quis in anima pollutus fuit sub Christo qui est sponsus anime per peccatum mortale debet precipitari de alto monte id est de regno celesti. Sicut erat primus pater Adam. Sed deus per filii sui passionem salvavit. Homo cum peccat deus non statim propter infinitam suam misericordiam eum damnat sed per gratiam suam salvat ut non precipitaretur in infernum.

Übersetzung

Ein gerechtes Urteil Kapitel 3

Es herrschte ein Kaiser, der ein Gesetz erließ, dass eine ehebrüchige Frau ohne Mitleid von einem hohen Berg hinabgestürzt werden solle. Es begab sich der Fall, dass eine gewisse Frau ihrem Mann die Treue brach. Sofort wurde sie gemäß dem Gesetz von einem hohen Berg hinabgestürzt. Aber sie glitt so sanft vom Berg herab, dass sie sich nirgends verletzte. Sie wurde vor Gericht gebracht. Als der Richter sah, dass sie nicht tot war, fällte er das Urteil, sie solle erneut hinabgestürzt werden und sterben. Da sagte die Frau: Herr, wenn Ihr das tätet, handelt Ihr gegen das Gesetz. Das Gesetz will, dass niemand zweimal für ein Delikt bestraft wird. Ich wurde hinabgestürzt, weil ich einmal die Ehe gebrochen habe, und Gott hat mich wunderbar gerettet. Also darf ich nicht erneut hinabgestürzt werden. Der Richter erwiderte: Du hast ziemlich klug geantwortet. Gehe hin in Frieden. So wurde die Frau gerettet.

Moral: Ihr Lieben! Jener Kaiser ist unser Gott, der durch Gesetz bestimmt, dass jemand, der vor Jesus, dem Angetrauten der Seele, diese besudelt, wegen der Todsünde von einem hohen Berg, d.h. aus dem himmlischen Reich hinabgestürzt werden soll. So geschah es mit dem ersten Vater, mit Adam. Aber Gott rettete ihn durch das Leiden seines Sohns. Wenn ein Mensch sündigt, verdammt ihn Gott in seiner unermesslichen Güte nicht sofort, sondern rettet ihn durch seine Gnade, damit er nicht in die Hölle gestürzt wird.

Fundstellen berühmter Stoffe

(Kapitelangaben und Überschriften nach Gesta Romanorum. Die Taten der Römer. Ein Geschichtenbuch des Mittelalters. Hrsgg. von H. E. Rübesamen nach der Übersetzung von J. T. G. Grässe, München (Goldmann), o. J. Auf Grund der vielen unterschiedlichen Ausgaben der Gesta Romanorum stimmen diese Kapitelangaben nicht exakt mit denen anderer Ausgaben überein. Dasselbe gilt für die Titel, manchmal auch für die Namen der Kaiser, auf die sich das jeweilige Kapitel bezieht.)

Literatur

  • Udo Gerdes: Gesta Romanorum. In: Verfasserlexikon, Bd. 3, 1981, Sp. 25–34.
  • Udo Wawrzyniak: Gesta Romanorum. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. 11 Bände. Berlin und New York 1977–2003, Bd. 5, Sp. 1201–1212.

Weblinks

Anmerkungen

  1. Der hier verlinkte Druck von 1488 (siehe "Weblinks") ist laut Gesamtkatalog der Wiegendrucke (GW), Bd. IX, ein Nachdruck des hier abgebildeten Drucks von Schott, den Johann Grüninger, ebenfalls in Straßburg, im selben Typensatz herstellte, den er wahrscheinlich von Schott übernommen hatte.
  2. F. Wagner, Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, 1408

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