- Incipit
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Das lateinische Wort incipit bedeutet „es beginnt“ (3. Person Singular des Verbs incipere „anfangen, beginnen“). Als Incipit bezeichnet man die ersten Worte eines literarischen oder fachwissenschaftlichen Textes, manchmal auch den Anfang eines Notentextes. Das Incipit dient statt eines Titels zur Identifizierung von antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texten, die ohne Titel oder mit verschiedenen, oft nicht authentischen Titeln überliefert sind. Während im englischen Sprachraum nur die Bezeichnung Incipit gebräuchlich ist, wird in deutschsprachiger wissenschaftlicher Literatur meist die ebenfalls lateinische Bezeichnung Initium („Anfang“) verwendet. Ein Nachschlagewerk, in dem Incipits (Initien) in alphabetischer Reihenfolge zusammengestellt sind, heißt Incipitarium oder Initienverzeichnis.
Inhaltsverzeichnis
Herkunft des Begriffs
Als formelhafte Wendung steht Incipit oft am Anfang von Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Bedeutung ist „Hier beginnt ...“; es folgt eine meist knappe, mitunter ausführliche Bezeichnung des Inhalts, die etwa die Funktion eines Werktitels hat, doch ohne die für Titel im heutigen Sinne typische exakte, verbindliche Fixierung des Wortlauts. Oft ist dabei der Verfassername angegeben, manchmal sind weitere Informationen zum Werk angefügt. Ein Beispiel ist: Incipit liber scintillarum, id est diversarum sententiarum, distinctus per LXXXI capitula, „Hier beginnt das Buch der „Funken“ (Geistesblitze), das heißt verschiedener Sentenzen, eingeteilt in 81 Kapitel“. In mittelalterlichen Handschriften ist der Anfangsbuchstabe „I“ von „Incipit“ manchmal als prächtige und fantasievoll verzierte Initiale ausgeführt. Häufig ist auch der ganze mit Incipit beginnende Satz durch eine andere Schriftart oder Farbe hervorgehoben.
Der Urheber des mit Incipit eingeleiteten Satzes war oft nicht der Autor des Werks, sondern der Besitzer einer bestimmten Abschrift oder ein Bibliothekar. In diesen Fällen ist der Incipit-Satz kein echter Bestandteil des Textes, sondern spielt die Rolle einer willkürlich gewählten, nicht authentischen Überschrift.
Ab dem Spätmittelalter nahm die Anzahl der Werke stark zu, die in Volkssprachen (gesprochenen Sprachen im Gegensatz zum Latein als Gelehrtensprache) verfasst waren. In volkssprachlichen Werken kommen Einleitungsfloskeln vor, die dem lateinischen „Incipit ...“ entsprechen, etwa „Hie hebt sich an ...“ oder „Heere bigynneth ...“ usw.
Diese Textanfänge hatten Funktionen, die im modernen Buchdruck in erster Linie vom Titelblatt, zum Teil auch vom Inhaltsverzeichnis und den Kapitel-Überschriften wahrgenommen werden. Auch einzelne Kapitel oder Bücher innerhalb eines Werks wurden so eingeleitet, z. B. Incipit septimus liber compendii philosophiae „Hier beginnt das siebte Buch des Handbuchs der Philosophie“. Die einleitenden Angaben sollten das Werk identifizieren und dienten einer ersten Orientierung des Lesers über den Inhalt. Hilfreich waren solche Angaben insbesondere zur Orientierung in Sammelhandschriften, wo Werke verschiedener Autoren in einem einzigen Kodex zusammengebunden waren.
In der Frühen Neuzeit wurden derartige stereotype Textanfänge zunehmend ungebräuchlich. Unter literarischem Gesichtspunkt begann man in der Renaissance auf eine ansprechende, originelle Gestaltung der Anfangsworte eines Werks Wert zu legen. Da Werke nun gewöhnlich eindeutig fixierte Titel hatten, büßte das Incipit seine Rolle als Identifizierungshilfe ein.
Das Incipit als Ordnungs- und Identifizierungsprinzip
Für die Bezeichnung von anonym überlieferten Werken oder solchen mit unsicherer Verfasserschaft, die keinen eindeutig fixierten, authentischen Titel haben oder für die verschiedene Titel gebräuchlich sind, bieten sich die Anfangsworte des Textes als bequemes, relativ sicheres und eindeutiges Mittel der Identifizierung und Katalogisierung an. Insbesondere gilt dies für unzählige oft kurze Gedichte. In diesem Sinne wird heute der Begriff Incipit verwendet. Er bezeichnet nicht einen mit dem Wort „Incipit“ beginnenden Anfangssatz eines Werks bzw. eine Überschrift, sondern die ca. zwei bis zwölf ersten Worte eines Textes, die dessen schnelle Identifizierung mit Hilfe von Incipit-Verzeichnissen ermöglichen. Die Incipit-Angabe wird in moderner Fachliteratur gewöhnlich mit der Abkürzung inc. eingeleitet.
Für das Textende wird der entsprechende Begriff Explicit („Es endet ...“) verwendet. Im Mittelalter wurden am Ende eines Textes oft ebenfalls die Angaben zum Inhalt und Verfasser gemacht, die am Textanfang üblich waren.
Die Praxis, einen Text nach den ihn eröffnenden Worten zu betiteln, war bereits im Altertum verbreitet. Sumerische Keilschrifttafeln des 3. Jahrtausends v. Chr. wurden von den damaligen Archivaren anhand dieser Methode katalogisiert. Gelehrte der Alexandrinischen Schule verwendeten Incipits. Der römische Dichter Ovid nahm auf das Lehrgedicht des Lukrez Bezug, indem er nicht den Titel De rerum natura, sondern nur das Incipit Aeneadum genetrix angab, das er somit als seinen Lesern bekannt voraussetzte.[1] Der Philosoph Porphyrios bezeichnete die Schriften seines Lehrers Plotin mit ihren damals gängigen Titeln und bemerkte dazu: Übrigens will ich auch den Buchanfang hersetzen, damit jede gemeinte Schrift nach dem Anfang eindeutig kenntlich ist.[2] Der Kirchenvater Augustinus gab in seinen Retractationes die Incipits seiner eigenen Werke an, um die Identifizierung zu erleichtern. Im Mittelalter wurden berühmte antike Dichtungen manchmal nicht mit ihren Titeln, sondern mit ihren unter Gebildeten allgemein bekannten Incipits bezeichnet.
Im Hebräischen heißen die Bücher des Tanach (im christlichen Sprachgebrauch: des Alten Testaments) häufig nach ihrem Incipit; so heißt das 1. Buch Mose Bereschit, also „Im Anfang“. Erst mit der griechischen Übersetzung Septuaginta kam der inhaltsbezogene Titel Genesis auf.
Die Paraschot, also die Wochenabschnitte der Toralesung am Sabbat, heißen ausnahmslos nach den ersten Worten des jeweiligen Abschnitts (Bereschit, Noach, Lech Lecha usw.). An diese Praxis knüpft das christliche Kirchenjahr an: hier tragen die Sonntage in vielen Fällen Namen, die auf die ersten Worte der zu lesenden Bibelstelle oder des zur Liturgie gehörenden Introitus zurückgehen (beispielsweise Laetare, Quasimodogeniti, Misericordias Domini).
Konzilsdokumente und Päpstliche Enzykliken werden ebenfalls bis heute nach ihren meist programmatisch gewählten Anfangsworten zitiert, etwa Gaudium et Spes oder Lumen Gentium.
Bei Gedichten ist es vereinzelt noch heute auch außerhalb wissenschaftlicher Kreise üblich, sie nicht mit ihrem Titel, sondern nach ihren Anfangsworten zu zitieren. In manchen Fällen ist das Incipit bekannter als der eigentliche Titel. So wird Friedrich Schillers Ode „An die Freude“ (1785) gewöhnlich stärker mit ihren einleitenden Worten „Freude, schöner Götterfunken“ assoziiert als mit ihrem Titel. In Inhaltsverzeichnissen von Gedichtbänden und Liedersammlungen werden daher die Gedichte nicht nur nach Titeln, sondern auch nach Incipits geordnet verzeichnet. In Werken moderner Forschungsliteratur ist oft unter den Registern auch ein Incipit-Register zu finden. Einige Kompositionen Mozarts sind im eigenhändigen Verzeichnis seiner Werke unter ihrem Incipit verzeichnet.
In der Literaturwissenschaft dienen Incipitarien (Initienverzeichnisse) der raschen und eindeutigen Identifizierung von antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Werken nach dem Incipit. Die Werke sind dort alphabetisch nach ihren Incipits geordnet und mit einer fortlaufenden Zählung versehen; sie können daher nach ihrer Nummer im Verzeichnis zitiert werden. Ein Beispiel ist Hans Walther: Initia carminum ac versuum medii aevi posterioris Latinorum. Alphabetisches Verzeichnis der Versanfänge mittellateinischer Dichtungen, Göttingen 1959. Mittelalterliche lateinische Gedichte aus dem von Walther berücksichtigten Zeitraum werden nach ihrer Walther-Nummer zitiert. In Katalogen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Handschriften, wo viele anonyme Werke angeführt sind, spielen die Initienregister eine zentrale Rolle beim Auffinden einzelner Texte.
Eine moderne Variante der Verzeichnung von Texten nach ihren Incipits besteht darin, dass viele Textverarbeitungsprogramme ein vom Benutzer nicht ausdrücklich anders benanntes Dokument mit den ersten Worten des Textes als Dateibezeichnung speichern.
Siehe auch
Literatur
- Wolfgang Milde: Incipit und Initia. In: Lexikon des gesamten Buchwesens. 2. Auflage, Hiersemann, Stuttgart 1991, ISBN 3-7772-8527-7, S. 576 und 610f.
- Richard Sharpe: Titulus. Identifying Medieval Latin Texts. An Evidence-Based Approach. Brepols, Turnhout 2003, ISBN 2-503-51258-5, S. 45–59
Anmerkungen
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